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Neuntes Kapitel

Zu derselben Zeit, als Oswald mit Berger von dem Gipfel der Gockeleia die Sonne in dem grünen Wäldermeer der Berge versinken sah, war in dem Kurhause ein Gast abgestiegen, dessen Ankunft in dem Hotel eine gewisse freudige Bewegung hervorrief. Es war eine junge, schöne, in einen dunkeln eleganten Anzug gekleidete Dame in Begleitung eines nicht minder schönen, aber blaß und kränklich aussehenden Knaben von zwölf Jahren, und eines alten Mannes, der sich durch einen eisgrauen Schnurrbart und eine martialische Haltung auszeichnete und halb der Freund, halb der Diener der Dame zu sein schien. Die Dame war im Sommer desselben Jahres – damals ohne den Knaben – mehrere Wochen lang in Fichtenau gewesen, um ihren Gemahl, der sich seit sieben Jahren in Doktor Birkenhains Heilanstalt befand, dem Tode entgegensiechen und endlich sterben zu sehen, und ihr trauriges Schicksal nicht minder als ihre Unendliche Güte und Milde gegen jedermann, besonders gegen Kranke und Arme, hatten ihr die Liebe und Verehrung der Einwohner des Städtchens in so hohem Grade erworben, daß man noch jetzt in mehr als einer Familie das Andenken der »guten Frau« dankbar segnete.

Aber auch dieses Mal schien keine freudige Veranlassung die Dame nach Fichtenau geführt zu haben, denn sie war kaum von dem Wirt selbst unter vielen Bücklingen und Komplimenten in den Salon der Belétage geführt worden und hatte sich dort in den zwei links daran stoßenden Zimmern – das Zimmer rechts konnte der gnädigen Frau leider nicht sofort eingeräumt werden, da es noch von einem Reisenden bewohnt sei, der aber jedenfalls nur bis morgen bleibe – mit Hilfe des alten Dieners einquartiert und den Knaben, der von der Reise sehr angegriffen war, zu Bett gebracht, als sie sich hinsetzte und einige Zeilen an Doktor Birkenhain schrieb, mit denen sich der alte Diener in Begleitung des Hausknechts sogleich auf den Weg nach der Heilanstalt machte.

Nach einer Stunde war Doktor Birkenhain, den alten Diener neben sich, in seinem Einspänner vor dem Kurhause vorgefahren, war zu der Dame in den Salon gegangen und hatte eine lange Unterredung mit ihr gehabt, die wohl nicht sehr erfreulichen Inhalts gewesen sein konnte, denn Jean, der Zimmerkellner, hatte, als er den Tee in den Salon brachte, gesehen, daß die gnädige Frau geweint und sich bei seinem Eintritt die Augen getrocknet hatte.

Doktor Birkenhain war nach dieser Unterredung noch einmal an das Bett des schlafenden Knaben getreten, hatte ihm die Hand auf das Herz gelegt, sich dann über ihn gebeugt, und, das Ohr auf die entblößte Brust drückend, längere Zeit gehorcht, dann hatte er sich wieder aufgerichtet, den Schläfer sorgsam zugedeckt, ihm das volle lockige Haar aus der bleichen feinen Stirn gestrichen und sich mit einem Lächeln auf den Lippen, das die strengen ernsten Züge des Mannes eigentümlich verklärte, zu der Dame gewandt, die, das Licht in der Hand, mit dem gespannten Ausdrucke schmerzlicher Ungewißheit in dem lieben schönen Gesicht dagestanden hatte und den Arzt jetzt ängstlich fragend ansah.

»Beruhigen Sie sich, gnädige Frau!« sagte er, »ich kann mich allerdings noch nicht mit Gewißheit aussprechen, aber was ich bis jetzt beobachtet habe, flößt mir die beste Hoffnung ein, daß es mit unserem kleinen Patienten nicht so schlecht steht, als meine Grünwalder Herren Kollegen angenommen haben.«

Ein Freudenstrahl erhellte das Gesicht der Dame, ihre großen dunklen Augen füllten sich mit Tränen.

Doktor Birkenhain nahm ihr das Licht aus der Hand und geleitete sie in den Salon zurück.

»Ich komme morgen früh wieder«, sagte er, indem er Hut und Stock nahm, »lassen Sie, wenn es Sie beruhigt, den allen Baumann bei Julius wachen. Sie selbst legen sich zeitig zu Bett und nehmen eins von diesen Pulvern. Sie sind sehr angegriffen und bedürfen der Ruhe.«

»Bleiben Sie noch einen Augenblick, Doktor!« sagte die Dame. »Ich muß Sie noch etwas fragen.«

Ihre Züge verrieten eine große Erregung; ihr Busen hob und senkte sich unruhig; sie schien einen Gedanken aussprechen zu wollen, der ihr zu fürchterlich war, als daß sie ihn hätte in Worte kleiden können.

Doktor Birkenhain legte Hut und Stock wieder auf den Stuhl.

»Setzen Sie sich, gnädige Frau«, sagte er, wieder neben ihr auf dem Sofa Platz nehmend. »Ich weiß, was Sie mich fragen wollen; ich habe diese Frage schon den ganzen Abend in Ihren angstvollen Augen, auf Ihren zitternden Lippen gelesen. – Sie glauben nicht an die Herzkrankheit, welche die Grünwalder Ärzte diagnostiziert haben; wenn Sie daran glaubten, wären Sie, so hoch Sie auch von meinen geringen Erfahrungen und Kenntnissen denken mögen, doch nicht gerade zu mir gekommen. Sie glauben, daß das Übel tiefer liegt, daß es – mit einem Worte – ein erbliches Übel, der erste Keim, der Beginn einer Krankheit ist, die schon einmal für Sie so verhängnisvoll geworden. Habe ich recht?«

Die Antwort der Dame war ein Strom von Tränen, der wie eine lange zurückgehaltene Flut unwiderstehlich aus ihren Augen brach. Sie drückte schluchzend ihr Taschentuch gegen das Gesicht.

»Liebe gnädige Frau«, sagte der Arzt, die Hand der Weinenden ergreifend, »ich bitte, ich beschwöre Sie, beruhigen Sie sich. Es ist, soviel ich aus dem schriftlichen Bericht meiner Kollegen, aus Ihren eigenen Worten und aus meiner Beobachtung urteilen kann, auch nicht der mindeste Grund vorhanden, der Ihren schrecklichen Verdacht bestätigte. Der Wahnsinn ist erblich, ja; er pflanzt sich viele Generationen fort, bald hier, bald dort, oft nach langen Zwischenräumen wieder auftauchend, aber in der Familie Ihres Gemahls ist erwiesenermaßen der Fall Herrn von Berkows der erste, solange die Familie existiert, das heißt, seit Jahrhunderten. Und dieser Ausnahmefall hatte seine besonderen, sehr traurigen Ursachen, die sich nur auf das betreffende Individuum beziehen und sich in ihren Wirkungen nur an diesem Individuum äußern. Herr von Berkow war von Natur sehr gesund, ja auffallend kräftig organisiert, aber – es spricht ein Arzt zu Ihnen, gnädige Frau – er hatte diese kräftige Organisation durch ein ausschweifendes Leben zerrüttet. Was anderen in seiner Lage zur Rettung wird – die Ehe mit einem keuschen, reinen Wesen –, wurde ihm zum Verderben, denn er fühlte seine Unwürdigkeit, fühlte sie so tief, daß er an Ihrer Verzeihung, an Ihrer Liebe verzweifelte und sich widerstandslos einer finstern Melancholie überließ, in der er bald seinen Lebensmut vollends aufzehrte. – Die Sünden des Vaters werden nicht heimgesucht werden an dem Kinde. Sollte sich wirklich eine Herzkrankheit herausstellen, so ist sie jedenfalls noch sehr wenig vorgeschritten und kann, zumal bei Julius' Jugend und übriger kräftiger Konstitution erfolgreich bekämpft werden. Darum, gnädige Frau, lassen Sie Ihre Sorge fahren; vertrauen Sie mir und – vertrauen Sie Ihrem Stern, von dem doch endlich einmal die Wolken verschwinden müssen, die ihn bis jetzt verschleierten.«

»Meinem Stern?« sagte die Dame mit einem wehmütigen Lächeln. »Meinem Stern? Ach, Doktor, ich fürchte, der ist, wenn er jemals existiert hat, für immer untergegangen.«

»Das wollen wir sehen«, sagte Doktor Birkenhain, sich erhebend. »Ich glaube nun einmal an gute Sterne, und vor allem an Ihren guten Stern. Wer so schön und so lieb und so gut ist wie Sie, der darf, der soll nicht unglücklich sein. Gute Nacht«'

Doktor Birkenhain ergriff die Hand der Dame, führte sie ehrfurchtsvoll an seine Lippen und verließ das Zimmer.

Sie saß, nachdem der Arzt sie verlassen, lange Zeit den Kopf auf die Hand gestützt, in tiefes Sinnen versunken.

Wie in einem Traum zogen die Bilder ihres Lebens an ihres Geistes Aug' vorüber.

Sie sah sich als rotwangiges wildes Kind in ihres Vaters Parke spielen mit einem ernsten, ungelenken Knaben, dem sie manchmal herzlich gut war und den sie ein anderes Mal nicht ausstehen konnte; der, bald stolz und herrisch, sich ihren Launen widersetzte, bald, wenn sie ihm freundlich begegnete, keine Mühe und keine Gefahr scheute, ihre kindischen Wünsche zu erfüllen. Sie sah sich einige Jahre später in der Gesellschaft desselben Knaben und einiger anderer Knaben und Mädchen in dem Saale ihres väterlichen Schlosses nach den Tönen einer Violine sehr zierliche Pas machen, zum Entzücken vieler erwachsener Männer und Frauen, welche die kleine Kokette mit Lobsprüchen und Liebkosungen überschütteten; und sie sah den Knaben, dessen Ungeschicklichkeit sie in ihrem Übermut verspottete und verhöhnte, in einer Fensternische sitzen und bitterlich weinen. Sie sah sich, wieder einige Jahre später, in dem morgenfrischen Glanze sechzehnjähriger Schönheit und von allen Seiten umworben und gefeiert und den süßen, köstlichen Trank aus dem rosenumkränzten Becher des Lebens mit durstigen Zügen ahnungslos schlürfend, von Freude zu Freude gaukelnd, wie ein leichtbeschwingter Schmetterling von Blume zu Blume, und doch in diesem seligen Genießen in der Tiefe des Herzens von einer wühlenden Unruhe erfüllt, der die goldige Gegenwart grau und farblos erschien im Vergleich mit der wunderherrlichen, farbenprangenden Zukunft, die alle Träume, alle Wünsche erfüllen würde. Sie hatte in dieser Zeit den ernsten, ungelenken Knaben aus den Augen verloren. Welch traurige Rolle hätte er auch gespielt in dieser duftenden, blühenden, nachtigallengesangerfüllten, kosenden, tändelnden Feenwelt! Aber die Zukunft war Gegenwart geworden und hatte von allem, was sie verheißen, nichts erfüllt. – Ein giftiger Tau war auf die bunten Blumen gefallen und hatte ihnen Farbe und Duft geraubt; die Nachtigallen waren verstummt, und über der frühlingprangenden Welt hing ein grauer, düsterer Schleier – ein Schleier, durch den hindurch entsetzliche Szenen vorüberhuschten – ein Vater, der vor der Tochter auf den Knien liegt und sie bei seinem grauen Haupt, das er sich zerschmettern müsse, wenn sie seinen Wünschen nicht nachkomme, beschwört, einen Mann zu heiraten, den sie nicht liebt, vor dem ein instinktives Gefühl die Reine, Unschuldige warnt – ein Gatte, der – – weg, weg ihr Bilder, ihr grausigen Bilder, bei deren Erinnerung die Unglückliche nach so vielen Jahren noch jetzt schaudernd ihr Gesicht in den Händen verbirgt! Und da tritt wieder die Gestalt des jetzt zu einem stolzen, kalten Mann gewordenen düstern, trotzigen Knaben heran, der ihr gegenüber den Stolz in Demut und die Kälte in unendliche Güte und Liebe verkehrt, der ihr ratend, tröstend, helfend zur Seite steht, der, soviel er vermag, das Leid von ihr wendet, und wo er es nicht vermag, es ihr tragen hilft, ja, alles womöglich auf seine Schulter nimmt.

Wohl kommt ihr in dieser Zeit der Gedanke, daß dieser Mann mehr wert sei als alle ihre phantastischen Träume, aber noch immer kann sie von den Idealen nicht lassen, die nun einmal ihr jugendliches Herz erfüllt haben. Sie quält den Mann, wie sie den Knaben quälte, sie schickt ihn auf Reisen, wie sie ihn früher aus dem Garten schickte, wenn er sich ihren Launen nicht sklavisch fügen wollte.

Und nun kommen die friedlichen Bilder in der grünen Öde ihres Landgutes verlebter Jahre, in denen die Gestalten eines schönen, zarten Knaben, eines gutmütigen, pedantischen Gelehrten und eines alten graubärtigen Dieners in den verschiedensten und immer ähnlichen Situationen stets wiederkehren – friedliche Bilder, über deren heiteren Farben doch ein gewisser Hauch der Wehmut, der unerfüllten Hoffnung, der unbefriedigten Sehnsucht liegt. Zwar denkt sie noch oft an den Mann, den sie in die Verbannung gesandt hat, aber nicht mehr mit dem freundlichen Herzen, das sich seiner Undankbarkeit im Grunde schämt. Es hat sich ein bitteres Etwas hineingemischt in ihre Gefühle gegen den Mann, seitdem er – es war auf einer Reise in Italien – gewagt hat, offen mit seiner Liebe hervorzutreten, sie ihn mit jener schlechten Logik, welche Verharren in einer kapriziösen Laune für Konsequenz nimmt, zurückgewiesen, und er, stolz wie er ist, sie sofort beim Worte genommen hat und seitdem in Ägypten und Nubien verschwunden ist. Sie bildet sich ein, daß sie angefangen hat, den Gespielen ihrer Jugendjahre, den treuen Freund in aller Not und Gefahr, zu hassen, und ein Psycholog hätte ihr sagen können, daß der Haß der wilde Bruder der holden Schwester Liebe und nur die Gleichgültigkeit ein undurchdringlicher Panzer für ein Frauenherz ist.

Und nun tritt in die friedliche Szenerie die Gestalt eines Mannes, dessen Schönheit ihr kunstsinniges Auge entzückt, dessen sanfte Freundlichkeit sie umspielt wie linder Frühlingshauch, dessen Melancholie in ihrem sich nach Glück sehnenden Herzen ein Echo findet – eines Mannes, der alles in allem nur eine Verkörperung ihrer Träume scheint. Und wie in einem Traume nimmt sie seine Liebe entgegen, erwidert sie mit tausendfacher Glut – sie will die Gefahr nicht sehen, sie will nicht erwachen, sie will einmal in ihrem Leben glücklich sein. Aber der Morgen steigt herauf; es ist nicht möglich, die Augen länger geschlossen zu halten und den Traum zu bannen. Der wider alles Erwarten zurückgekehrte Freund tritt warnend vor sie hin, und schon im nächsten Moment geht seine Prophezeiung in Erfüllung. Schlag auf Schlag bricht das Unglück herein, dessen Ahnung ihn aus den Ruinen von Karnak nach seiner nordischen Heimat trieb. Die Nachricht von dem bevorstehenden Tode des Mannes, dessen Namen sie führt, reißt sie aus den Armen des Geliebten; sie eilt, eine Pflicht zu erfüllen, die ihr um so heiliger ist, je wonnevoller das Glück, in dem sie sich in diesen letzten Wochen gewiegt – und sie kehrt zurück, das Herz voll freudiger Hoffnung und zugleich voll banger Ahnung, und sie hört und sieht, daß der Mann, dem sie sich mit grenzenloser Liebe hingegeben, sie verraten hat, und daß, wie zur Strafe für ihr kurzes, heimliches Glück, ihr einziges Kind, der schöne, liebenswürdige Knabe, ihr Trost, ihre Wonne, ihr Stolz, daniederliegt an einer Krankheit, in der sie den Anfang eines Leidens sieht, dessen Ausgang und fürchterliches Ende sie eben an dem Vater des Kindes erfahren hat.

Aber dieser zweite Schlag ist vielleicht für sie ein Segen. Er betäubt sie so, daß sie die Wunde, die ihrem Herzen geschlagen ist, kaum fühlt. Die Liebe des Weibes versinkt in dem Abgrund der Mutterliebe. Sie wacht an des Knaben Bette Tag und Nacht, sie hat nur Aug' und Ohr für seine Bedürfnisse, seine Wünsche; und als er sich etwas erholt, macht sie sich mit ihm auf die Reise zu dem Manne, in dessen Erfahrung sie grenzenloses Vertrauen setzt, von dessen Lippen sie die Entscheidung über Leben und Tod – nein, was schlimmer, tausendmal schlimmer ist als der Tod! – entgegennehmen will. Und er hat entschieden; er hat ihr nicht alle Hoffnung geraubt, er hat ihr Mut zugesprochen – ihr Knabe wird leben; er wird gesunden; die Sünden des Vaters sollen nicht heimgesucht werden an dem Kinde.

Und jetzt, wo ihre Seele von der entsetzlichen Last befreit ist, denkt sie zum erstenmal wieder an ihre verratene Liebe.

War dieser Verrat nicht eine Strafe für sie, daß sie zuerst nach ihrem und dann nach ihres Kindes Glück gefragt, für den Verrat, den sie an ihrem Kinde geübt? War die Liebe zu einem Manne, der ihr ganzes Herz erfüllte, nicht Verrat an ihrem Kinde?

Hier in diesem Zimmer hatte sie in den warmen Abenden des verflossenen Sommers so oft von einer Zukunft geträumt, deren Erfüllung diese Gegenwart war, in der sie der Strom des Lebens zurückgetrieben hatte, an denselben Ort, fast in dieselbe Situation. War es nicht, als wollte ihr das Schicksal Zeit geben, noch einmal zu überlegen, ehe sie handelte, ehe sie ihr Glück und das ihres Kindes in Hände legte, die viel zu schwach waren, ein solches Gut mannhaft zu verteidigen?

Hier in diesem Zimmer hatte sie der Freund vor jenen Händen gewarnt, die mit knabenhafter Kühnheit nach allem Höchsten griffen, um in kindischer Laune das Schönste und Herrlichste, als wäre es Trödelware, wieder fortzuwerfen. Hier in diesem Zimmer hatte er ihr eine Prophezeiung gemacht, die Wort für Wort schon jetzt in Erfüllung gegangen war!

Hier in diesem Zimmer hatte er die Worte zu ihr gesprochen: ›Und wenn du dann von diesem Schlage zerschmettert am Boden liegst und zu sterben wünschest und doch nicht sterben kannst, dann wirst du erkennen, welche Qualen ein Herz erduldet, wenn es seine Liebe und Treue verschmäht und verraten sieht; dann wirst du mir im Herzen das Unrecht abbitten, das du mir getan!‹

Wo war er jetzt, dieser treue, edle Mann, der – sie hatte es oft gefühlt, aber nie mehr als in diesem Augenblicke – ihrethalben seine stolze Kraft in Tatlosigkeit oder sinnlosen Abenteuern vergeudete, wie ein Baum, dem das Herz gebrochen ist, üppig in Zweige und Blätter schießt, ohne jemals Früchte zu bringen? Wieder irrte er ruhelos wie Ahasver durch die weite öde Welt. Als sollte er nie etwas sein eigen nennen, war ihm das Kind, das er geliebt, ehe er wußte, daß es sein Kind war, wie ein kurzer schöner Traum wieder verschwunden. Er hatte es ziehen lassen, weil ihm sein Gerechtigkeitsgefühl sagte, daß er kein Anrecht habe an diesem Wesen, für das er nichts getan als ihm zum Dasein verholfen. Sollte es denn wirklich sein Schicksal sein, Liebe zu säen und Gleichgültigkeit zu ernten?

Nein, nein! Nicht Gleichgültigkeit! Wenn auch nicht Liebe, wie er sie fühlte, wie er sie wollte, aber auch nicht Gleichgültigkeit! Empfand sie denn nicht herzliche Freundschaft, aufrichtige tiefe Hochachtung für ihn? Hätte sie nicht Jahre des Lebens darum geopfert, ihm sein Kind wieder zu schaffen?

Wo war er jetzt? Sie hatte sich so daran gewöhnt, ihn in allen trüben Stunden ihres Lebens an ihrer Seite zu sehen, daß sie ihn nun, wo er zum ersten Male fern blieb, schmerzlich vermißte. Und doch, welche Ansprüche hatte sie denn an eine Liebe, die sie hundertmal zurückgewiesen, die sie durch ihre Liebe für einen anderen so tief, so tief beleidigt hatte?

Die junge Frau war so in diesen Gedanken verloren, daß sie nicht hörte, wie es leise an ihre Türe pochte. Die Tür wurde geöffnet und ein altes, schnauzbärtiges Gesicht schaute herein. Hinter dem schnauzbärtigen Gesicht stand die hohe Gestalt eines Mannes.

»Gnädige Frau!« sagte der Schnauzbart, »ein guter Freund, der eben angekommen ist, wünscht womöglich noch heute abend seine Aufwartung zu machen.«

»Wer ist es?« fragte die Dame, sich erstaunt von ihrem Sitze emporhebend.

Da trat die hohe Gestalt in das Zimmer.

»Oldenburg!« rief die Dame. »Oldenburg! Sind Sie es denn wirklich?«

»Ja, Melitta!« sagte der Baron, die ausgestreckte Hand der Dame ergreifend und an seine Lippen führend. »Ich bin es wirklich.«

Der alte Diener hatte während dieser Begrüßung, sich die Hände reibend und das Paar mit einem Blick betrachtend, in dem sich Angst und Hoffnung malten, dagestanden. Als er den unverkennbaren Ausdruck freudiger Überraschung auf dem schönen Antlitz der geliebten Herrin bemerkte und die Träne, die in ihrem Auge erglänzte, als der Baron sich über ihre Hand beugte, traten ihm selbst die Tränen in die Augen. Er ging mit geräuschlosen Schritten aus dem Zimmer, schloß leise die Tür – und wer den alten Mann weiter beobachtet hätte – aber es beobachtete ihn keiner, würde gesehen haben, daß er vor der Tür die Hände faltete und mit zitternden Lippen ein heißes Gebet in den grauen Bart murmelte – ein Gebet, das Gott für diese Begegnung zwischen seiner Herrin und dem Manne, den er von allen allein ihrer würdig achtete, dankte und ihn anflehte, er möge in seiner unendlichen Gnade noch jetzt in der elften Stunde – alles, alles zum Besten wenden!

Der Baron war, nachdem der alte Baumann das Zimmer verlassen, mit langen Schritten, wie es seine Gewohnheit war, wenn er ein Gefühl, das ihn zu überwältigen drohte, niederkämpfen wollte, schweigend auf und ab gegangen. – Melitta hatte sich auf das Sofa gesetzt, da eine Erregung, die vielleicht nicht minder groß war als die Oldenburgs, ihr die Kraft zum Stehen raubte.

Nach einigen Augenblicken kam der Baron, nahm neben ihr auf dem Sofa Platz und sagte mit einer sanften Stimme, in der auch nicht die mindeste Spur der rauhen Heftigkeit seines Wesens zu entdecken war:

»Und Sie fragen mich nicht, Melitta, was mich durch Nacht und Nebel hierher in diese Berge, in dies Städtchen und in dies Zimmer geführt hat?«

»Nein!« erwiderte Melitta, ihm voll und klar in die Augen sehend, »nein! Weiß ich es doch, ohne daß ich frage.«

»Ich danke dir, Melitta!«

Weiter antwortete er nichts; aber die ganze Seele des Mannes lag in den wenigen Worten.

»Ja, und noch mehr«, fuhr Melitta fort, »ich hatte nur eben noch lebhaft an Sie gedacht, – an den treuen Freund, der mir noch stets in jedem Unglück mit Rat und Tat zur Seite stand, sooft ich auch seinen Rat verschmähte und die Opfer, die er mir brachte, mit Undank belohnte.«

»Opfer – Undank«, sagte Oldenburg, und es schwebte ein wehmütiges Lächeln auf seinen Lippen, »das sind Worte, Melitta, die ohne Bedeutung für uns – ich will sagen für mich sind; es wenigstens jetzt sind, wie ich auch früher darüber gedacht haben mag. Endlich findet sich einmal jeder in sein Schicksal, und wenn der gefangene Löwe seine Verzweiflung ausgetobt hat und seine Kraft an den Eisenstäben seines Käfigs erlahmt ist, legt er sich in die Ecke und ist für die Zukunft so fromm wie ein Lamm. Doch lassen wir das! Ich bin nicht hierher gekommen, um für mich zu plädieren und eine Sache, die durch alle Instanzen verloren ist, noch einmal hervorzusuchen; ich bin nicht meinethalben hier, sondern deinethalben. – Ich erfuhr in Grünwald, wohin mich Geschäfte riefen, daß Julius gefährlich erkrankt sei, daß du dich mit ihm nach Fichtenau auf den Weg gemacht habest. Ich fürchtete sogleich das Schlimmste und bin Tag und Nacht gereist, um dir zu helfen, wenn ich konnte. Glücklicherweise ist unsere Angst unnötig gewesen; ich habe unten Birkenhain gesprochen, der eben von dir kam. Er hat mich vollständig beruhigt und meint, daß du, sobald du dich erholt, in Gottes Namen zurückreisen kannst. Das ist alles, was ich wissen wollte, und nun, nachdem der Zweck meiner Reise erfüllt und ich noch, als eine Zugabe gütiger Götter, dich begrüßt und deine liebe Hand in der meinen gehabt habe – Gott befohlen, Melitta! Und möge uns das Unglück – denn das Glück hat mit uns nichts zu schaffen – so bald nicht wieder zusammenführen!«

Der Baron sprach diese letzten Worte mit lächelnder Miene, aber durch den Ton, in welchem er sie sprach, klang ein schmerzliches Weh – das Weh eines großmütigen, liebreichen Herzens, für das die weite, reiche Welt keine Heimat hat.

Er hatte zum Abschied Melittas Hand genommen und wollte sich erheben; aber er vermochte es nicht, denn die liebe Hand erwiderte nicht nur warm den Druck der seinen – er fühlte, er glaubte zu fühlen, daß Melitta ihn noch nicht von sich lassen wollte; daß sie es gern sähe, wenn er noch bliebe.

Es war ihm das so neu; er blickte sie verwundert fragend an, ob es denn wirklich möglich, ob denn wirklich seine Gegenwart für sie nicht peinlich sei?

»Sie dürfen noch nicht fort«, sagte Melitta mit einer gewissen Hastigkeit, während eine fliegende Röte für einen Augenblick ihre bleichen Wangen färbte, »ich kann es nicht ertragen, daß, während alle Welt meine Freundlichkeit rühmt und jeder Bettler zufrieden von mir geht, ich in Ihren Augen stets als eine Bildsäule erscheine, die niemals gibt und immer nur nimmt, ohne auch nur ein Danke zu sprechen. Sie haben mir noch kein Wort von sich selbst gesagt; kein Wort darüber, wie es Ihnen in aller dieser Zeit ergangen ist. Sie kommen hundert Meilen weit her, um sich nach meinem Julius umzusehen und wollen fort, ohne daß ich nur hätte fragen können, ob Sie von Ihrer Czika eine Kunde erhalten haben. Ist das großmütig? Ja, ist das auch nur recht von Ihnen?«

Der Baron sah Melitta, während sie dies sprach, fast erschrocken an.

»Melitta«, antwortete er mit einem Ernst, der etwas Feierliches hatte, »man darf in einem Todkranken die Sehnsucht nach dem Leben nicht entfachen. Verwöhnen Sie mich nicht aus purem Mitleid durch eine Freundlichkeit, die Ihnen nicht von Herzen kommt!«

»Nicht von Herzen?« erwiderte Melitta mit leiser Stimme, »freilich, ich habe diesen Vorwurf verdient; ich darf mich nicht beklagen.«

»Ich habe Ihnen keinen Vorwurf machen wollen, Melitta!«

»Und doch trifft er mich. Ja, Oldenburg, es muß heraus; es drückt mir sonst das Herz ab. Ich fühle mich Ihnen gegenüber tief beschämt. Die Last der Dankbarkeit, die Sie auf mich laden, drückt mich zu Boden.«

»Eine Last, Melitta? Eine Last! Ich habe Sie bei Gott durch das wenige, was ich im Leben für Sie tun konnte, nicht belästigen wollen.«

»Sie wollen mir nicht glauben! Ich kann die Worte nicht messen und wägen wie Sie! Wenn in Ihrem Herzen nichts für mich spricht, wenn Sie nicht mit dem Herzen hören wollen, dann –« Tränen erstickten ihre Stimme.

»Was ist das«, sagte Oldenburg, sich mit beiden Händen an den Kopf greifend. »Träume ich denn? Ist dies mein Kopf, dies meine Hand? Bin ich Oldenburg? Sind Sie Melitta? Sie, die Sie weinen, weil ich, Adalbert Oldenburg, Sie nicht verstehe oder nicht verstehen will?«

»Sie sollen mich verstehen«, sagte Melitta, ihre Tränen trocknend, mit einer bei ihr ganz ungewöhnlichen Heftigkeit. »Sie haben mich im Leben so oft schwach und haltlos gesehen, daß Sie mir die Kraft zu einer Entschließung gar nicht mehr zutrauen. Und doch habe ich diese Kraft; und wenn ich sie habe, verdanke ich sie Ihnen, Adalbert. Sie haben in der Krankheit meines Kindes zu mir gesprochen, und ich habe mein Herz gegen Ihre Stimme nicht verschlossen. Ich habe sie deutlich gehört in den langen bangen Stunden der Nächte, die ich an dem Lager meines Kindes wachend und weinend verbrachte. Da habe ich mein Kind mit stillen heißen Tränen um Verzeihung beten, wenn ich jemals vergessen konnte, daß ich Mutter war; da habe ich mir gelobt, daß ich es nun und nimmer wieder vergessen wollte, da habe ich –«

Sie stockte, brennende Scham übergoß ihre Wangen mit Purpurglut; aber sie raffte sich gewaltsam empor –

»Da habe ich eine Leidenschaft abgeschworen, die mich vor mir selbst, vor meinem Kinde – und Adalbert, vor Ihnen erniedrigt.«

»Halte ein, Melitta! Halte ein!« rief Oldenburg aufspringend. »Du bist außer dir! Du bist nicht allein mit dir! Du bist in der Gegenwart eines dritten, eines Mannes, der dich liebt, Melitta! Er will nicht hören, was du nur dir selbst vertrauen darfst!«

»Laß mich ausreden, Adalbert! Ich vertraue deiner Güte, wie ich deiner Kraft vertraue. Ich habe dir noch nicht alles gesagt, was ich mir zugeschworen an meines Kindes Krankenlager. Ich habe da oft an dein Kind gedacht und daß du durch ein entsetzliches Schicksal um deines Kindes Liebe betrogen bist, wie um das Herz des Weibes, das du liebst. Und da habe ich mir gelobt, daß, wenn ich dich auch nicht beglücken kann, wie du es verdienst; wenn auch zu viel, zu viel geschehen ist, was dich und mich auf immer trennt – ich doch dir dein Los will tragen helfen, soweit ich kann; ich dich wieder mit dem Leben versöhnen und selber für dich leben will, soweit ich es vermag!«

Melitta hatte sich während der letzten Worte von dem Sofa erhoben. Sie stand da mit hochgeröteten Wagen und leuchtenden Augen.

Oldenburg hatte ihr zugehört mit atemloser Spannung, in einer Erregung, die mit jedem ihrer Worte mächtiger wurde. Seine Augen blitzten, seine Brust wogte, er preßte die Hände gegen sein Herz, das ihm schier zerspringen wollte vor seliger Lust.

Als Melittas letztes Wort verklungen war, trat er auf sie zu, kniete vor ihr nieder und sagte mit einer Stimme, tief und stark wie der Klang eines ehernen Schildes:

»Und nun höre meinen Schwur, Melitta! So wahr ich dich geliebt habe, seit ich denken kann, so wahr mir in der Nacht meines Lebens nur ein Stern gestrahlt hat; so wahr ich in der Wüste des Lebens nur deshalb ziel- und zweck- und ruhelos umhergeirrt bin, weil ich verzweifelte, daß dieser Stern mir jemals freundlich leuchten könne – so wahr will ich von diesem Augenblicke an mit aller Kraft, die mir gegeben ist, nach dem Höchsten ringen; abtun alle kleinliche Schwäche und Verzagtheit, und die Zeit wieder einbringen, die ich in Tatlosigkeit vergeudet habe. Und, so wahr mein Herz jetzt von einer Seligkeit erfüllt ist, die keine Worte aussprechen können, so wahr will ich nicht ruhen und nicht rasten, bis du mich liebst, wie ich dich liebe, bis du die Meine bist – hörst du, Melitta, mein Weib!«

Er war aufgesprungen.

»Und nun, Melitta –« rief er – und seine Worte waren wie Jubelgesang, »lebe wohl! Es duldet mich nicht mehr unter diesem Dach; die ganze weite Welt ist zu eng für mich geworden. Leb wohl! Leb wohl, bis wir uns wiedersehen!«

Er schloß Melitta stürmisch in seine Arme und küßte sie auf die Stirn. Dann eilte er zum Zimmer hinaus.

Melitta war wie versteinert mitten in dem Gemache stehengeblieben. Sie hatte weder die Kraft gehabt, Oldenburg zurückzuhalten noch seine Lebewohl zu erwidern.

Sie legte die Hände gegen ihre pochenden Schläfen.

Was habe ich getan? Was habe ich gesagt? fragte sie sich. Und die Stimme in ihrem Herzen antwortete: Nichts, dessen du dich vor dir selbst, vor deinem Kinde zu schämen brauchtest. Sie eilte in das anstoßende Gemach. Sie lehnte sich über den schlafenden Knaben.

Da hörte sie das Rollen eines Wagens, der schnell von der Tür des Hotels abfuhr.

»Er ist es!« murmelte sie aufhorchend, und dann, ihr Gesicht in die Kissen drückend, weinte sie bitterlich.


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