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Zweites Kapitel

»Um mit dem Anfang anzufangen«, sagte Oswald nach einer Pause, in welcher er seine Erinnerung zusammenzurufen schien, »so bin ich in Berlin geboren. Mein Vater war ein Sprachlehrer, meine Mutter eines Handwerkers Tochter. Sie sehen also, daß ich auf das Prädikat hochgeboren jedenfalls keinen Anspruch machen kann und daß mein Haß gegen den Adel der ganz natürliche, gesunde Haß des Plebejers gegen die Aristokratie, des Parias gegen die Brahminenkaste ist.

Weshalb mein Vater kurze Zeit nach meiner Geburt – ich war und blieb das einzige Kind meiner Eltern – aus Berlin nach dem kleinen pommerschen Hafenort übersiedelte, habe ich nie erfahren können; wie ich denn überhaupt von der Geschichte meiner Eltern, von allem, was da vor meiner Geburt geschehen ist, möglichst wenig erkundet habe. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt Verwandte väterlicher oder mütterlicher Seite besitze. Sollte es der Fall sein, so sind sie mir jedenfalls gänzlich unbekannt.

Auch meiner Mutter erinnere ich mich nicht deutlicher, als wie man sich an Wesen erinnert, die einem im Traume erschienen sind. Noch jetzt träume ich manchmal von einer jungen schönen Frau mit großen, blauen, süßen Augen. Sie spricht in sanften Tönen Worte, die ich nie verstehe, die mir aber wie Musik des Himmels vorkommen und mich jedesmal selbst im Schlaf zu Tränen rühren. Ich weiß, daß dieses liebliche Traumbild, dies stets ganz unverändert erscheint, meine Mutter ist. Sie starb, als ich das vierte Jahr noch nicht zurückgelegt hatte.

Wenn es einem Manne je gelingen könnte, bei einem der Mutter beraubten Kinde der Mutter Stelle zu ersetzen, so hätte mein Vater die Aufgabe gelöst. Er hat mich, als ich ein kleines Kind war, in den Schlaf gesungen und gesprochen; er hat, wenn ich krank war, an meinem Bettchen Tag und Nacht gewacht; er hat mit mir in der Bodenluke gesessen und aus einer kleinen Tonpfeife abwechselnd mit mir bunte Seifenblasen in die Luft hinausgesandt; er hat mir das A-B-C gelehrt und wie man aus Baumrinde Schiffe macht; er hat mir die ersten lateinischen Vokabeln beigebracht, so gut wie Schwimmen und Schlittschuhlaufen; er hat mir die ersten Lektionen im Griechischen und zugleich im Pistolenschießen und Fechten gegeben. Ich habe, bis ich zur Universität ging, keinen anderen Freund gehabt als ihn.

Es war ein unergründlich wunderlicher Mann, schon in seiner äußern Erscheinung. Denken Sie sich eine fast zwerghafte, aber sehr wohlproportionierte, außerordentlich gewandte und bewegliche, Sommer und Winter, früh und spät mit einem schwarzen abgeschabten Frack, schwarzen Kniebeinkleidern, schwarzen Strümpfen und Schnallenschuhen bekleidete Gestalt, die, es mochte die Sonne scheinen oder regnen, stets mit dem Hut in der Hand über die Straßen ging. Denken Sie sich auf dieser kleinen Gestalt einen, vielleicht im Verhältnis etwas zu großen Kopf, mit einer festen, an den Schläfen kahlen Stirn, unter der ein Paar stechende Augen hervorblitzten, und mit einem Gesicht, das, scharf und fein und streng, das Lachen entweder nie gekannt hatte oder es seit vielen, vielen Jahren verlernt zu haben schien – so haben Sie das Bild meines Vaters, des alten Kandidaten, wie ihn in der Stadt jedermann und selbst die Gassenjungen nannten, mit denen ich, wenn sie sich über seine Erscheinung lustig zu machen wagten, manchen blutigen Strauß ehrlich ausgefochten habe.

Übrigens paßte, außer etwa dem Beiwort alt, jener Spitzname gar nicht auf meinen Vater. Er hat sich, soviel ich weiß, in seinem Leben um kein Amt, weder geistliches noch weltliches, beworben; und er wäre auch, trotz seiner eminenten Gelehrsamkeit, zu keinem tauglich gewesen, denn er hätte sich bei seiner wunderlichen Gemütsart und seinen Sonderlingslaunen in keines zu fügen verstanden.

Welche bitteren Erfahrungen, welch trauriges Geschick meinen Vater zu dem wunderlichen Heiligen, der er war, gemacht hatten – ich habe in späteren Jahren oft und vergebens darüber gerätselt. Es war ein menschenscheuer Hypochonder, der, soweit es ihm möglich war, jede Berührung mit der Gesellschaft aufs sorgfältigste mied, und der infolgedessen auch von jedermann aufs sorgfältigste gemieden wurde. Die auf Bildung und Religiosität Anspruch machten, erklärten ihn für einen Zyniker, weil er sich von allen gesellschaftlichen Formen emanzipiert hatte, und für einen Atheisten, weil er sich niemals in einer Kirche sehen ließ; der Pöbel bekreuzigte sich vor ihm, wie vor einem, der offenbar mit dem Gottseibeiuns in näherem Verhältnis stand, als einem ehrlichen Christenmenschen lieb ist. Hätte er zweihundert Jahre früher gelebt, würde man ihn ohne Zweifel als Hexenmeister und Zauberer verbrannt haben.

Allerdings muß ich gestehen, daß der gebildete und ungebildete Pöbel nicht so ganz unrecht hatte, wenn er meinem Vater Ideen und Ansichten zutraute, die in das Hirn eines gewöhnlichen Menschen nicht passen. Er hatte die unsäglichste Verachtung vor allem Autoritätsglauben, da er sich dadurch in der Freiheit seines Denkens beeinträchtigt sah, und einen glühenden Haß gegen alle weltliche Tyrannei, weil sie die Freiheit seines Handelns aufhob. Er erklärte die Republik für die einzige Staatsform, unter der sich ein Mann, der den richtigen point d'honneur habe, glücklich fühlen könne. Jede Bevorzugung der einzelnen oder der wenigen vor den vielen sei eine Ungerechtigkeit, die nur durch die Frechheit jener und durch die lammherzige Feigheit dieser erklärlich werde. Zwischen einer Schafherde, die sich von einem stumpfsinnigen Knecht und einem bissigen Köter zur Schlachtbank treiben, und einem Volk, das sich von einer im Verhältnis unendlich geringen Anzahl Menschen gängeln und hudeln lasse – sei der Unterschied am Ende so gar groß nicht, nur daß die Menschen ihrer Schande ein hübsches Mäntelchen umhängten, wozu die Schafe allerdings nicht imstande seien.

Vor allem grimmig war der Haß, mit dem mein Vater den Adel haßte. Er verfügte über ein ganzes Lexikon von schmähenden Beiwörtern, sobald er auf diesen Stand zu sprechen kam. Nie setzte er einen Fuß in das Haus eines Adeligen, und Schüler von Adel, die sich bei ihm meldeten, wurden ohne alle Umstände zurückgewiesen. Einmal, als wir mit der Pistole nach der Scheibe schossen – eine Fertigkeit, in der er exzellierte –, sagte er mir, daß er in jüngeren Jahren gehofft habe, sich durch eine Kugel an einem Adeligen zu rächen, der ihn tödlich beleidigt hatte. Unglücklicherweise sei der Mann vor der Zeit gestorben. Das ist die einzige Andeutung, die ich je von meinem Vater über sein früheres Leben gehört.

Und in dem fast ausschließlichen Umgange mit diesem Manne hin ich aufgewachsen. Wunderlich wie er selbst, war auch das Verhältnis, das zwischen uns stattfand. Obgleich mein Vater mehr für mich tat, als sonst die Eltern zusammen für ihr Kind tun, obgleich er eigentlich nur für mich lebte und darbte – so glaube ich doch nicht, daß er mich wahrhaft liebte. Er war ein rein spiritualistischer Mensch. Entweder war sein Herz einmal in seinem Leben tödlich getroffen von einem Schlage, den es nie wieder überwand, oder er hatte auf der Retorte seines Skeptizismus alle Gefühle zu Gedanken verflüchtet. Er tat, was er tat, aus Pflicht, aus Überzeugung des Rechten; denn, wie er selbst sagte: ›Die Gerechtigkeit steht über der Liebe; sie leistet alles, was die Liebe leisten kann und doch noch ein gut Teil mehr.‹«

»Mehr und auch nicht so viel«, warf Franz ein, »was wir für geliebte Menschen aus Neigung tun, sollen wir für die andern aus Gefühl des Rechts tun, das heißt aus der Überzeugung, daß die Interessen aller Menschen solidarisch sind. Liebe und Gerechtigkeit verhalten sich wie Individuum und Gattung. Die eine darf ohne die andere nicht sein, denn wir brauchen sie beide. All die tausend kleinen Zärtlichkeiten, mit denen wir geliebte Menschen überschütten, kann die Gerechtigkeit uns nicht lehren, ebenso wie uns die individuelle Liebe überall da im Stich läßt, wo es sich um die andern, das heißt um die Genossenschaft, die Nation, die Menschheit handelt.«

»Sie mögen recht haben«, erwiderte Oswald, »und das erleichtert mir auch ein Geständnis, das ich soeben tun wollte. Ich ehrte meinen Vater hoch, aber ich liebte ihn nicht; ja, ich empfand oft – worüber ich mir freilich erst viel später klargeworden bin – eine an Abneigung grenzende Scheu und Furcht vor dem sonderbaren Mann. Ich wundere mich jetzt freilich kaum noch darüber, seitdem ich eingesehen habe, daß zwei grundverschiedene Wesen, wie meinen Vater und mich, die Natur nicht leicht schaffen kann. Wir waren uns körperlich so unähnlich, wie wir es an Gemütsart und Neigungen waren. Ich liebte schon als Knabe leidenschaftlich Glanz und Pracht und alles, was schön ist in Natur und Menschenwelt. Ich begeisterte mich für diejenigen unter meinen Schulkameraden, die sich des Jugendschmuckes blonder Locken, roter Wangen und leuchtender Augen erfreuten; ich verkehrte gern in den Häusern, wo es nach meinen damaligen Begriffen fein und vornehm herging. Ich hielt sehr viel auf meinen Anzug und hörte es gar nicht ungern, daß die Frauen mich einen hübschen Jungen nannten.

Sie können sich denken, wie wenig im Grunde ein Bursche mit dieser Neigungen und Bedürfnissen zu der Gesellschaft eines einsamen menschenscheuen Hypochonders paßte, dessen Lebensweise er natürlich halb und halb zu teilen gezwungen war. Denn obgleich mein Vater mir eine Freiheit ließ, die mit seinen sonstigen strengen Ansichten nicht recht in Einklang zu bringen war, obgleich er meinen aristokratischen Neigungen für schöne Kleider und den Komfort des Lebens in einer Weise nachgab, die mir noch bis auf diese Stunde unbegreiflich ist, so wußte ich doch, daß ich ihn durch diese meine Sympathien für eine Welt, die er verabscheute, aufs innigste kränkte, und gab mir deshalb Mühe, an dem Leben möglichst wenig Geschmack zu finden. Das gelang mir um so eher, als ich sehr bald in der Einsamkeit, zu der ich mich im Anfang nur mit Widerstreben verurteilte, eine Quelle entdeckte, durch die die ödeste Wüste in das blühendste Paradies umgeschaffen wird – ich meine die kastalische Quelle der Poesie.

Wir bewohnten ein kleines Haus, dessen hintere Mauer ein Teil der Stadtmauer war. In meinem Stübchen war das einzige niedrige Fenster durch die ellendicke Mauer durchgebrochen, so daß das Ganze einem Gefängnisse ähnlicher sah als irgend etwas anderm. Und doch, welche seligen Stunden habe ich in diesem Stübchen verlebt! Aus meinem Fenster hatte ich einen unbegrenzten Blick über Wall und Graben der Stadt weg, auf glatte, mit schönen Baumgruppen garnierte Teiche, über saftige, hier und da mit Weiden bewachsene Wiesen bis zu dem Meere, von dem ein dunkelblauer Streifen durch die grünen Bäume herüberblitzte.

Hier an diesem Fenster saß ich des Sommerabends, wenn die Sonne, wie dort, strahlend und herrlich unterging, das Herz bis zum Überfließen voll von chaotischen Gefühlen, und in dem Hirn Gedanken spinnend, so bunt und schön und ach auch so vergänglich wie Seifenblasen. Ich erinnere mich noch an ein paar Verse aus einem Gedicht, das ich als Student an einem trüben Herbstabend in Berlin machte, während ich, in dumpfes Brüten verloren, über meinen Büchern saß und der Tage dachte, die aus dem Becher der Zeit so hell und funkelnd hinabgetropft waren in das Meer der Ewigkeit:

Und wenn des Abends dann der Sonne letzte Strahlen
Mich grüßten durch mein Fensterchen hinein,
Wie konnt' ich mir so schön die Zukunft malen,
Sie mußte golden wie der Himmel sein!
Und dann ergriff mich ein unendlich Sehnen,
Ich wünschte heiß mich in die Ferne weit; –
Jetzt bin ich fern – es fließen meine Tränen –
O kämst du wieder, holde Jugendzeit!

Doch, was soll ich länger bei der Schilderung eines Verhältnisses verweilen, das mir selbst um so rätselhafter wird, je deutlicher ich es Ihnen zu schildern versuche. Wenn ich je in meinen Kinderjahren eine herzliche Zuneigung zu meinem Vater empfunden hatte, so nahm sie in demselben Maße ab, als ich älter und selbständiger wurde. All die Gefühle, all die Zärtlichkeit, die man in natürlichen Verhältnissen an Mutter und Brüder und Schwestern und Freunde ausgibt – ich mußte sie in meinem Herzen verschließen, denn ich hatte kein Vertrauen zu dem, der mir, wie die Sache nun einmal lag, jene alle hätte ersetzen müssen. Durch den beständigen Umgang mit einem so düstern, so skeptischen Geiste, nahm mein Gemüt eine Farbe an, die zu meinem sanguinischen, leidenschaftlichen Temperament sehr wenig stimmte. Ich war ein Epikureer in der Schule eines Stoikers. ein Sybarit in dem Umgange eines zynischen Philosophen. Meine üppige Phantasie träumte die herrlichsten Welten, die mein trockner Verstand mitleidslos wieder zerstörte, ich verzehrte mich in spitzfindigen Grübeleien, während mein heißes Blut mir das Herz zum Zerspringen füllte; ich saß in meiner Klause und studierte in alten staubigen Scharteken, während sich mein abenteuerlustiger Sinn nach den Wundern des Orients und nach großen Taten sehnte.

Das ging so fort, bis ich in meinem neunzehnten Jahre die Universität bezog. Von meinem Vater trennte ich mich ohne Schmerz. Wie er diese Trennung empfand – ich weiß es nicht. Er sprach zu mir beim Abschied wie ein Philosoph, der seinen Jünger entläßt, indem er mir noch einmal alle die Hauptlehren seiner herben Weltweisheit ins Gedächtnis rief; und in demselben Ton waren auch die Briefe, die er mir in regelmäßigen Zwischenräumen schrieb. Es wurden ihrer nicht viele, denn ungefähr ein halbes Jahr später erhielt ich ein Schreiben von dem Magistrat meines Heimatortes, in dem mir in kurzen, dürren Worten der Tod meines Vaters gemeldet wurde. Er hatte ein kleines Vermögen hinterlassen, das er nach und nach aus seinen Ersparnissen für mich gesammelt hatte und das bei mäßigen Ansprüchen für meine Studienzeit und vielleicht auch noch etwas länger ausreichen mochte. Ein Testament fand sich nicht, ebensowenig wie Familienpapiere, Briefe, Tagebücher oder dergleichen, woraus ich möglicherweise einige Aufklärung über die Geschichte meiner Eltern hätte gewinnen können.

So stand ich denn ganz allein da in der Welt, ein Jüngling an Jahren mit der Lebensmüdigkeit eines Greises: viel zu alt für meine Kommilitonen, die mir wie spielende Kinder erschienen, und doch auch viel zu jung und viel zu unerfahren, als daß ich den Lockungen einer genußsüchtigen Stadt hätte Widerstand leisten, als daß ich in diesem Babel, ohne mich vielfach zu verirren, hätte umherwandern können. Wie wäre das auch einem Jüngling möglich gewesen, bei dem der Strom des vollen, jugendlichen Lebens so lange künstlich zurückgestaut war! Ich wurde der Held mehr als einer Intrige, der ich mich im Grunde schämte und auch zu schämen große Ursache hatte; ich wurde von den Frauen verhätschelt und das unschuldig-schuldige Opfer herzloser Koketten. Ich machte viele Erfahrungen, ohne weise zu werden – das Schlimmste, was einem Menschen begegnen kann. Und dabei war das merkwürdige, daß ich die Genüsse, denen ich frönte, durchaus verabscheute, daß mein Herz, während ich es an unedle Weiber wegwarf, nach einer edlen Liebe verschmachtete; daß ich mich mit den ungeheuerlichsten Plänen trug, während ich meine Kräfte in lauter sinnlosen Zerstreuungen vergeudete.

Ein Freund, der damals einigen Einfluß auf mich ausübte, riß mich aus diesem Strudel, in dem ich über kurz oder lang untersinken mußte. Er riet mir, nach Grünwald zu gehen. Ich folgte seinem Rat.

Von diesem Augenblick an kennen Sie die Geschichte meines Lebens, zum wenigsten in den Umrissen. Sie wissen, daß ich in Grünwald den unglücklichen Mann kennenlernte, zu dem wir jetzt wallfahren. Sie werden sich nun auch erklären können, wie unmöglich es gerade für mich sein mußte, dem Zauber von Bergers dämonischer Persönlichkeit zu widerstehen; wie ich in seinem Umgang nur noch tiefer in die Dornen der Widersprüche geriet, an denen mein Herz verblutete.

Berger wollte, daß ich nach Grenwitz ging, in einer adeligen Familie eine Stelle zu übernehmen, für die ich, wie der Erfolg gelehrt hat, genausogut paßte wie der Habicht in den Taubenschlag. Sie sind den einzelnen Phasen meines dortigen Lebens als aufmerksamer Zuschauer mit den Augen des Philosophen und des Freundes zugleich gefolgt. Wieviel Sie davon gesehen, wieviel Sie davon begriffen, wie vieles Ihnen unklar geblieben ist – ich weiß es nicht und will es nicht wissen. Über einen Teil dieser Ereignisse mag ich nicht reden; über einen andern darf ich es nicht. Als die Katastrophe, die Sie vorausgeahnt hatten, hereinbrach und die frivole Welt, in der ich mich dort bewegte, mir über dem Kopf zusammenstürzte – da standen Sie treulich zu mir; Sie rissen mich aus diesem Wirrsal und luden sich damit eine Last auf die Schultern, über die Sie im stillen wohl schon mehr als einmal geseufzt haben werden. Aber nein! Das ist nicht möglich! Sie sind so klug, wie Sie weise, und so weise, wie Sie gut sind. Sagen Sie, Franz, welcher Odysseus hat Sie erzeugt, welche Penelope geboren, daß Sie Pallas Athene, die Göttin der Weisheit, immerdar so sichtbarlich in ihren gnädigen Schutz genommen hat?«

»Ich glaube, es ist in meinem Leben alles auf ganz gewöhnliche Weise zugegangen«, sagte Franz lachend, »und denken Sie nur ja nicht, daß ich von der Scylla nicht gefährdet und von der Charybdis nicht geschädigt worden bin! Ich habe wie Sie auf dem Punkte gestanden, an mir selbst zu verzweifeln. Was mich gerettet hat, ist eine Überzeugung, die zuerst in dämmernder Ahnung, dann immer klarer und deutlicher und zuletzt mit siegreicher Gewißheit in meiner Seele aufging, die Überzeugung nämlich, daß diese Welt ein Kosmos ist, in dem jeder von uns, er sei auch, wer er sei, mit Notwendigkeiten seine bescheidene Stelle auszufüllen hat. Dieser Gedanke hat mein Herz mit der freudigen Ruhe erfüllt, ohne die zuletzt das Leben unerträglich werden muß. Ich sagte mir: Diese Welt, von der du im Grunde so wenig weißt, ist ein so alter, solider, wohlgegründeter Bau, daß du an dem Plan nicht verzweifeln darfst, auch wenn du ihn nicht ganz begreifen solltest. Dieses Menschengeschlecht, dessen Geschichte vielleicht auf ebensoviel Millionen Jahre berechnet ist, als wir jetzt davon Jahrtausende kennen, ist ein so unergründlich wunderbares Phänomen der schaffenden Kraft, daß du in deinem Leben, und wenn es noch so lange währte, nur zu lernen und immer wieder zu lernen hast. Die Kunst, sagt Goethe, hat nie ein einzelner Mensch besessen; aber, setze ich hinzu, die Philosophie ebensowenig.

Von dieser Überzeugung ausgehend, faßte ich den Entschluß, in dem Leben Sinn und Verstand finden zu wollen, und ich kann nicht anders sagen, als daß ich meine Bemühungen von einigem Erfolg gekrönt gesehen habe. Schon auf der Schule mißtrauisch gegen die Resultate des rein spekulativen Denkens, widmete ich mich einer Wissenschaft, in der uns die psychischen Vorgänge gleichsam ad oculos demonstriert werden – der Medizin, zumal ihre praktische Ausübung noch den Vorteil hat, uns in fortwährende, intimste Berührung mit den übrigen Menschen zu bringen, von denen wir uns – sage man, was man will von der Poesie der Einsamkeit – stets nur zu unseren eigenen Nachteil entfernt halten. Wer die Solidarität aller menschlichen Interessen – das oberste Prinzip aller politischen und moralischen Weisheit – begriffen hat, weiß auch, daß seine individuelle Existenz nur ein Tropfen in dem ungeheuren Strome ist und daß diese Tropfen-Existenz weder das Recht noch die Möglichkeit der absoluten Selbständigkeit hat. Wenn die Menschen wie reife Früchte vom Baume fielen, möchte es schon eher gehen. So aber, wo wir von einer Mutter mit Schmerzen geboren werden, um jahrelang die hilflosesten aller Geschöpfe und der treuen Pflege der Eltern ganz und gar überlassen zu sein, wo wir, wenn uns das Schicksal hold ist, unter Brüdern und Schwestern aufwachsen, um alle Freuden des Lebens mit ihnen nicht nur zu teilen, sondern erst von ihnen zu erhalten; wo wir noch später jeden wahren Genuß, jedes Fest der Seele nur mit anderen genießen und feiern können – da dürfen wir uns denn auch nicht länger sträuben, zu sein, was wir wirklich sind: Menschensöhne, Kinder dieser Erde, mit dem Recht und der Pflicht, uns hier auf diesem unseren Erbe auszuleben nach allen Kräften, mit den anderen Menschensöhnen, unseren Brüdern, die mit uns gleiche Rechte und freilich auch gleiche Pflichten haben.

Sehen Sie, Oswald, so wird die Welt ein Kosmos, und wir hören auf, Atome zu sein, die, wer weiß woher und wohin, ohne ein vernünftiges Gesetz in dem unendlichen Raum umherwirbeln. Der Fehler Ihres Lebens, in den Sie freilich bei einer so wunderlich verlebten Jugend fast mit Notwendigkeit fallen mußten, ist, daß Sie stets nur für sich, nie wahrhaft für die andern gelebt haben. So sind Sie in eine ganz schiefe Stellung zur Welt geraten, in der Sie der Welt und die Welt Ihnen nichts nützen konnte. Das wird jetzt anders werden. Sie haben der Freundschaft zu mir das Opfer gebracht, einen Schritt zu tun, der, ich fühle es wohl – und jetzt besser, als zuvor –, Ihrem ganzen Naturell äußerst peinlich sein mußte. Aber ich bin überzeugt, Sie werden später diesen Schritt segnen. Das Probejahr, das Sie auf dem Sundiner Gymnasium absolvieren wollen, wird auch in anderer Hinsicht für Sie ein Probejahr werden. Es wird sich zeigen, ob Sie den schwersten aller Siege, den Sieg über sich selber, über die eigene souveräne Willkür erkämpfen können. Ich wollte, Sie wären wie ich mit einem guten und klugen Mädchen verlobt, und müßten arbeiten und müßten kämpfen, wenn nicht zu eigenem Nutz und Frommen, so doch für sie, die Ihnen tausendmal teurer ist als das eigene Leben, und Sie sollten sehen, wie leicht, wie spielend leicht Ihnen dieser Kampf und dieser Sieg sein würde!«

Oswald antwortete nicht. Er fühlte sich von der Wahrheit der Worte seines Gefährten überzeugt, aber auch zugleich in einer peinlichen Weise beschämt. Denn das Antlitz der Wahrheit ist streng und flößt dem, der ihr nicht mit Hintansetzung aller individuellen Neigungen, mit ganzer Seele anhängt, ein Grauen ein.

So gingen sie schweigend nebeneinander her, bis sie den Gipfel des Berges und zugleich den Wagen erreichten, der dort oben ihrer harrte. Sie stiegen wieder ein, und bergab ging es jetzt in raschem Trabe dem Städtchen zu, das in dem Busen eines von waldumkränzten Bergen ringsum eingeschlossenen Tales, schon in duftiges Abendgrau gehüllt, zu ihren Füßen lag. Es war das Ziel ihrer heutigen Fahrt, und wenigstens für Oswald, der ganzen Reise – der Badeort Fichtenau, weit und breit berühmt durch seine reizende Lage, durch seine stärkenden Fichtennadelbäder und in neuester Zeit durch die große und trefflich geleitete Anstalt für Geisteskranke, die der intelligente und in der Psychiatrie vielerfahrene Doktor Birkenhain vor einigen Jahren dort gegründet hatte.

Es waren wunderliche Empfindungen, die Oswalds Herz erfüllten, während er, in seine Ecke gelehnt, Bäume und Felsen an sich vorbeitanzen und sich mit jedem Hufschlag der Pferde auf dem steinigen Boden dem Orte näher geführt sah, mit dem sich in den letzten Monaten seine Gedanken so viel und so peinlich beschäftigt hatten. Wie gleichgültig war der Name an sein Ohr geklungen, da er ihn zuerst in Grenwitz, als des Aufenthaltsortes von Melitta von Berkows krankem Gemahl, erwähnen hörte! Kannte er doch da Melitta noch nicht, wußte er doch noch nicht, daß er wenige Tage später in den Fesseln der Liebe dieses liebenswürdigen Weibes schmachten würde! Dann hatte er, obgleich selten und immer nur mit Widerstreben ausgesprochen, den Namen von ihren Lippen vernommen, und der Ort hatte für ihn in seiner damaligen seligen Stimmung die unheimliche Bedeutung gewonnen, die für den Besitzer eines herrlichen, prachtvollen Hauses ein dunkles Zimmer hat, das er nicht gern öffnet und wovon er nur ungern spricht, weil sich vor Jahren einmal eine ihm nahestehende Person darin entleibte. – Dann war die Zeit gekommen, wo Melitta, Doktor Birkenhains Einladung folgend, ihren sterbenden Gemahl zu besuchen ging – dann die peinlichen, schlimmen Tage, wo er sie in Fichtenau wußte an der Seite des todkranken Gatten; wo er von Fichtenau aus ihre Briefe erhielt, in denen jedes Wort ein sehnsuchtsvoller Kuß war. Da war ihm Fichtenau abwechselnd wie das Grab und die Wiege seines Glückes erschienen, je nachdem er durch Herrn von Berkows Tod die Hindernisse einer Verbindung mit Melitta aus dem Wege geräumt oder sich von ihr gerade durch dieses Ereignis für immer getrennt sah. – Dann kam der unselige Tag, wo er erfuhr, daß der Mann, in dem er von vornherein instinktiv seinen gefährlichsten Nebenbuhler erkannt hatte, sich bei Melitta befand; als böse Zungen ihm die gehässigsten Auslegungen dieses auffallenden Schrittes ins Ohr zischelten und er, der Unglückliche, diesen anstößigen Verleumdungen mit nur zu willigem Ohr lauschte, weil er selbst schon an seiner Liebe zum Verräter geworden war, weil er, wie ein Schiffbrüchiger, der, sich und seinen Raub zu retten, den besten Freund mitleidlos von dem schaukelnden Brette in die Tiefe stößt, Melitta opferte, um seine neue Leidenschaft für die schöne Helene vor sich selbst zu rechtfertigen. – Und endlich, um das Maß vollzumachen, dem Verstörten, von tausend qualvollen Gefühlen Zerrissenen gleichsam den Beweis zu liefern, daß die ganze Welt aus den Fugen sei und es auf eine Verirrung mehr oder weniger nicht ankomme, mußte dieser Ort, wo, wie er wähnte, das vor kurzem noch so heißgeliebte Weib sich in den Armen eines geistreichen Roués für die Augenblicke, die sie an dem Sterbebette ihres Gemahls zubrachte, entschädigte, derselbe Ort sein, wohin man den von ihm so hochverehrten Freund und Lehrer brachte, als sein Genius die strahlende Fackel in der öden Nacht des Wahnsinns ausgelöscht hatte. Da – und besonders, als nun kurze Zeit darauf der Tod ihm den Knaben raubte, den er mit brüderlichster Liebe umfing und sein Verhältnis mit der hochadeligen Familie auf eine so eigentümliche Weise gelöst wurde – als er den Nebenbuhler, von seiner Kugel auf den Tod verwundet, zu seinen Füßen liegen und er sich von dem geliebten Mädchen, und wäre es nicht aus tausend anderen Gründen, schon durch diese Tat für immer getrennt sah – da war ihm zu Sinnen, als ob es für ihn auf Erden keine passendere Zufluchtsstätte gebe als eine Zelle neben der seines Freundes und Lehrers in Doktor Birkenhains berühmter Heilanstalt für Geisteskranke zu Fichtenau.

So hatte er denn auch, als er mit Doktor Braun zu der Reise aufbrach, die dieser ursprünglich zur Verfolgung wissenschaftlicher Zwecke projektiert hatte, sogleich nach Fichtenau gewollt; aber Braun hatte den Besuch des Ortes unter diesem und jenem Vorwande immer hinauszuschieben gewußt; und zwar aus guten Gründen. Er hatte – ohne Oswalds Wissen – direkt an Doktor Birkenhain geschrieben und ihn um eine detaillierte Schilderung von Bergers Zustand gebeten. Doktor Birkenhain antwortete, daß bei Berger von Wahnsinn nur insoweit die Rede sein könne, als er an der fixen Idee der absoluten Nichtigkeit aller Existenz leide, im übrigen aber im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte sei, ja daß er ihn jetzt schon aus seiner Anstalt entlassen haben würde, wenn der Kranke nicht ausdrücklich eine Verlängerung seines Aufenthalts gewünscht hätte. Doktor Braun sagte sich nun, daß unter diesen Umständen ein Besuch in Fichtenau für Oswalds exzentrisches und jetzt mehr als je aufgeregtes Gemüt mit der größten Gefahr verknüpft sei. Der Anblick eines Wahnsinnigen würde ihn zu Besinnung gebracht haben, der Verkehr mit einem selbst noch in seinen Verirrungen genialen Hypochonder konnte ihm möglicherweise in seinen ausschweifenden Ideen noch bestärken.

In dieser Besorgnis hatte Franz den Besuch von Fichtenau an das Ende und nicht, wie Oswald wollte, an den Anfang der Reise gebracht, indem er hoffte, der vielfache Verkehr mit fremden Menschen, die wohltätigen Eindrücke einer Fahrt durch die schönsten, im festlichsten Schmucke des Herbstes prangenden Gegenden würden Oswald zu einer ruhigeren, vernünftigeren Ansicht des Lebens bringen und ihn so befähigen, Berger mit Überlegenheit, wenigstens ohne Gefahr für sich selbst, gegenüberzutreten.

Jetzt sah sich Franz in dieser Hoffnung betrogen. Oswalds aufgeregtes Wesen gefiel ihm keineswegs und er wäre am liebsten umgekehrt, wenn dazu jetzt noch eine Möglichkeit gewesen wäre. So nahm er sich wenigstens vor, während er von Zeit zu Zeit einen prüfenden Blick auf Oswald warf, der, in seine Ecke gedrückt, mit starren Augen auf das Städtchen herabsah, den Besuch so viel als möglich abzukürzen und den Freund während der Dauer so wenig als möglich mit Berger allein zu lassen.


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