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Vierunddreißigstes Kapitel

In das wilde Allegro von Oswalds jetzigem Leben tönte wie Äolsharfenklänge die Erinnerung an alles, »was sein einst war«; an seine schwärmerische Jugendzeit, wo rosige Wölkchen den Horizont umsäumten, hinter dem die geheimnis- und wundervolle Zukunft lag; an die seligen Tage von Grenwitz, wo sich für ihn die alte Sage vom Paradiese wiederholen zu wollen schien; an seine Freundschaften mit großen, zum mindesten guten Menschen: mit Berger, Oldenburg, Franz, Bemperlein – wohin, wohin dies alles? Die Jugend versunken für immer und mit ihr all die holden rosigen Träume der Jugend; aus dem Paradiese nichts geblieben als der bittere Geschmack der Frucht von dem Baume der Erkenntnis, daß Wankelmut der Seele und treue Liebe nimmer Hand in Hand gehen können. Und seine Freunde? – Von Berger hatte er am Tor des Irrenhauses wohl auf ewig Abschied genommen; in Oldenburg haßte er jetzt seinen Nebenbuhler und den reichen Aristokraten, den Sohn des Glücks, der sich leicht hinwegschwingt über die Hindernisse, an denen andere ihre Kraft ausgeben; – gegen Franz, der sich seiner in einer der verwickeltesten Lagen seines Lebens so brüderlich angenommen, hatte er sich der gröbsten Undankbarkeit schuldig gemacht, die er vergebens durch die Unmöglichkeit zu rechtfertigen suchte, mit dem in sich gefesteten, sich streng begrenzenden, leidenschaftslosen Mann bei seiner entgegengesetzten Natur auf die Dauer Freundschaft zu halten. – Und von Bemperlein, dem guten, harmlosen, ehrlichen Menschen, der ihm eine so enthusiastische Freundschaft entgegengetragen hatte, trennte ihn das quälende Bewußtsein, ihn in seiner geliebten Herrin tödlich beleidigt zu haben, so daß, wenn er ihm auf der Straße begegnete, er in peinlicher Verlegenheit nach der anderen Seite blickte.

Und was hatte er für so viel verlorenes Glück eingetauscht?

Die allerdings seltenen Augenblicke, in denen Oswald nicht umhin konnte, über seine Situation ernstlich nachzudenken, waren unerfreulich genug. Seine Stellung an der Schule war jetzt nach kaum drei Monaten so gut wie unhaltbar. Direktor Klemens vielgerühmte Humanität reichte nicht mehr hin, alle die großen und kleinen Sünden, deren sich Oswald in seinen dienstlichen Beziehungen schuldig machte, mit dem Mantel der Liebe zuzudecken, und Frau Direktor Klemens erklärte vor dem versammelten dramatischen Kränzchen, daß sie eine Schlange an ihrem Busen genährt.

Aber Oswald hatte noch mehr zu verantworten als diese Treulosigkeit. Sein Verhältnis mit der jungen Frau von Cloten, in das er sich aus Laune halb und halb aus wirklicher Neigung so Hals über Kopf gestürzt hatte, fing an, auf seiner Seele mit bleiernem Gewicht zu lasten, um so mehr, als die leidenschaftlich unbesonnene Natur der Dame jeden Augenblick das Geheimnis zu verraten drohte. – »Dich zu lieben, von dir geliebt zu werden, ist mein einziger Wunsch und Wille – alles andere ist mir gleichgültig« sagte sie, sollte sie jetzt, wo ihr Herz zum ersten Male wußte, was es wollte, ihre ausschweifenden Wünsche zügeln? Vergebens, daß Oswald sie an die Pflichten seiner Stellung, an die äußere Beschränktheit seiner ganzen Lage erinnerte. – »Ich begreife nicht, wie du noch wählen kannst zwischen der Langweile, deine Buben zu unterrichten, und dem Vergnügen, das wir eines in des andern Gesellschaft haben; laß doch die alte dumme Schule und lebe für mich.« – »Aber, liebes Kind, ich lebe jetzt schon beinahe nur für dich, und wenn das noch eine Zeit so fortgeht, wird mein Direktor nicht nur nichts dagegen haben, sondern selbst den Wunsch aussprechen, daß ich ausschließlich für dich lebe.« – »Oh, das wäre zu herrlich«, rief Emilie, in die Hände klatschend, »dann gehen wir nach Paris, oder nach irgendeinem andern Ort, wo uns nicht so viele alberne Menschen auf Tritt und Schritt belauern.« Oswald zuckte die Achseln. »Und wovon leben in Paris?« Emilie machte ein langes Gesicht; im nächsten Moment aber lachte sie schon wieder und rief: »Das findet sich, wenn wir nur erst fort wären!«

Das Verlangen, aus Sundin wegzukommen, wo in der Tat ihr Verhältnis jeden Augenblick der Gefahr einer für beide gefährlichen Entdeckung ausgesetzt blieb, war in der letzten Zeit bei Emilie so groß geworden, daß sie bei jeder Gelegenheit darauf zurückkam. Sie wollte Oswalds Liebe in vollen Zügen ungestört genießen und sich nicht jede halbe Stunde verstohlenen Zusammenseins durch tagelange Sorge und Angst gewinnen. Bis jetzt hatten sie ihre Rendezvous entweder in Primulas Boudoir oder drüben in Fährdorf bei Emiliens alter Amme, der Frau Lemberg, gehabt, wohin jetzt, da die Meerenge zwischen der Insel und dem Festland mit dickem Eis bedeckt war, die Überfahrt keine Schwierigkeit machte. Primula war in das Verhältnis eingeweiht, nachdem Emiliens Unbedachtheit eine lächerliche Entdeckungsszene herbeigeführt, und sie hatte, nachdem ihre erste eifersüchtige Regung glücklich vorüber war, diesen »Liebesbund« ausnehmend romantisch, die Liebenden in ihrer Hilflosigkeit gegenüber einer »kalten, lieblosen Welt« höchst bejammernswert und sich selbst als Beschützerin so »heroischer Leidenschaft« vollkommen bewunderungswürdig gefunden. In diese Rolle redete sie sich nun immer tiefer hinein, und die Abonnenten der »Zeitlosen«, in deren »Album« Primula Veris jetzt ihre Gedichte schrieb, bekamen von nichts weiter als von »lichtscheu krummen Liebespfaden«, »geheimer Liebe still verschwiegenem Tun«; und vor allem von »des treuen Bundes keuscher Wächterin« zu lesen, unter welcher letzteren Bezeichnung man, wie es in einer der folgenden Strophen ausdrücklich hieß, nicht etwa an »den Mond, den kalten Gesellen« zu denken hatte.

Für Emiliens Plan schwärmte sie. »Flieht, meine Freunde«, sagte sie, »flieht unter einen milderen Himmel als diesen rauhen kimmerischen, der nur über wilden Zyklopen und seelenlosen Ichthyophagen graut. In Schnee und Eis will selbst der Freundschaft blaue Zyane kaum gedeihen, geschweige denn der wilden Liebe rote Rose.«

Oswald war nicht so blind, daß er das Wahnsinnige dieses Projektes nicht hätte einsehen sollen, aber einerseits sagte ihm auch wieder das Abenteuerliche zu, andererseits lockte ihn der Gedanke, sich aus all diesem Wirrsal mit einem kühnen Schritt befreien zu können, gleichviel, wohin der Schritt führte; und schließlich war bei ihm aus der frivolen Koketterie mit der reizenden Emilie eine Leidenschaft geworden, die, wenn sie nicht sein Herz erwärmte, zum mindesten seine Phantasie entflammte, und gegen die er sich um so weniger wehrte, als er in ihr eine Art von Entschuldigung für seinen sonstigen Wankelmut fand. Er fing an, den Fluchtplan in ernstliche Überlegungen zu ziehen, um so mehr, als der Rest seines kleinen Vermögens, wie es bei der Lebensweise, die er jetzt führte, wohl nicht anders sein konnte, sehr rasch zusammenschmolz, und mithin, was einmal geschehen sollte, bald geschehen mußte.

Oswald hätte in dieser Bedrängnis gern Alberts Rat vernommen; aber er wagte jetzt nicht mehr über Emilie mit ihm zu sprechen. Im Anfang freilich hatte er von seinem neuesten Roman dann und wann ein Wort fallen lassen, und der kluge Albert hatte, ohne Oswald durch neugierige Fragen lästig zu sein, in kurzem so ziemlich alles, was er zu wissen wünschte, herausgebracht. Er wußte, daß Oswald bei der Frau Jäger und drüben in Fährdorf heimliche Zusammenkünfte mit der jungen leichtsinnigen Frau hatte, und er ließ sich auch dadurch nicht irremachen, daß Oswald über Emilie plötzlich zu sprechen aufhörte, sondern schloß nur daraus, daß das Verhältnis in ein Stadium getreten sei, wo Schweigen Pflicht war.

So weit hatte es nun freilich nach Timms Wunsch nicht kommen sollen. Timm hatte nichts dagegen, daß Oswald seiner Geschmack am aristokratischen Leben durch eine Liebelei mit der vornehmen Dame auffrischte und sich so noch mehr von der Notwendigkeit, ein Vermögen zu besitzen, überzeugte, aber es paßte ihm gar nicht, daß aus dieser Liebelei eine Liebschaft in bester Form wurde, von der sich gar nicht berechnen ließ, was noch alles daraus entstehen mochte, und die vor allem Oswalds romantischer Liebe zu Helenen verderblich zu werden drohte. Und doch hatte auf diese Liebe Timm eigentlich seinen ganzen Plan aufgebaut. Wenn Oswald nichts bewegen könnte, sich in den Erbschaftsstreit mit der Familie Grenwitz einzulassen, so sollte die Hoffnung, auf diese Weise Helenen zu, erobern, den Ausschlag geben. So durfte denn Oswald nicht für Helenen, aber auch umgekehrt, Helene nicht für Oswald verlorengehen. Und auch dieser letztere Fall war neuerdings möglich geworden. Albert, der die Augen überall hatte, war es nicht entgangen, daß Fürst Waldernberg tagtäglich zu Grenwitzens kam; und auch sonst hatte er mehrere verdächtige Zeichen eines im besten Fortgang begriffenen Verhältnisses zwischen dem Fürsten und Helene entdeckt; so bei einem Gärtner verschiedene herrliche Buketts, die vom Fürsten bestellt waren und »heute abend ins Hotel Grenwitz geschickt werden sollten«. Außerdem hatte er, seitdem der Schnee lag und die adelige Jugend Sundins glänzende Schlittenpartien nach allen Richtungen arrangierte, Helene wiederholt an der Seite des Fürsten in einem prachtvollen Schlitten gesehen, dessen kostbare Decken und in russischer Weise nebeneinander angeschirrte drei Pferde ihn als Eigentum Sr. Durchlaucht bezeichneten. Er hatte Oswald wiederholt auf einen so gefährlichen Nebenbuhler aufmerksam gemacht, aber immer nur ausweichende Antworten erhalten. Diese Lage der Dinge mißfiel Albert durchaus.

Im Hotel Grenwitz hatte er sich seit längerer Zeit nicht sehen lassen. Seine vierhundert Taler für Monat November hatte ihm Felix, der die Summe von seinem Reisegeld nahm, bei seiner Abreise zugeschickt; mit dem Ersuchen, sich für die Zukunft »in allen geschäftlichen Angelegenheiten« direkt an seine Tante, die Frau Baronin, wenden zu wollen. Albert hatte von dieser Erlaubnis bis jetzt noch keinen Gebrauch gemacht, da es selbst für ihn schwer hielt, in dem bescheidenen Sundin vierhundert Taler in einem Monat durchzubringen und er überdies gerade in der letzten Zeit Glück im Pharao gehabt hatte. Indessen nahm er sich vor, diesen Besuch baldmöglichst zu machen und bei der Gelegenheit die Situation genauer zu studieren.

Gerade in diesen Tagen geschah es, daß Albert eines Abends, als er eben ausgehen wollte, durch die Stadtpost einen Brief erhielt, dessen Lektüre ihn so verstimmte, daß er seine ursprüngliche Absicht, in den Ratskeller zu gehen, vorläufig aufgab und statt dessen einen Besuch bei seinem Hauswirt, dem Küster Tobias Gutherz, machte, jenem Mann, der mit dem Geruch seines heiligen Lebenswandels das ganze alte Quartier enger winkliger Straßen um die alte Brigittenkirche erfüllte.

Albert Timm trat mit dem Hut auf dem Kopfe in das Stübchen hinter dem Sprechzimmer und fand Gutherz im Begriff, sich ein Glas seines Lieblingsgetränkes zu bereiten.

»Kannst mir auch eins zurechtmachen«, sagte Albert, seinen Hut auf einen Stuhl schleudernd und sich selbst in die Ecke des vortrefflich gepolsterten Sofas werfend.

»Wie gewöhnlich, Albertchen?« sagte Tobias, ein zweites Glas nebst Teelöffel aus dem Wandschrank nehmend und neben dem dampfenden Wasserkessel auf den Tisch stellend.

»Eher ein bißchen mehr als weniger.« – Während Herr Tobias nach diesem Rezept den heißen Trank zurechtbraute, starrte Albert schweigend vor sich hin. »Du bist heute nicht in guter Laune, Albertchen!« sagte Tobias, von seiner Beschäftigung aufblickend.

»Müßte lügen, wenn ich das Gegenteil behaupten wollte.«

»Was gibt's? Hat die kleine Luise dir's angetan?«

»Der Teufel soll die kleine Luise holen.«

»Oder ist dir ein Wechselchen präsentiert, an das du nicht mehr gedacht hattest?«

»So etwas der Art.«

»Na, was ist's denn?« fragte Tobias, den für Albert bereiteten Grog umrührend und das Glas vor ihn auf den Tisch setzend. »Hier nimm einen Schluck, und dann heraus mit der Sprache!«

Albert nahm das Glas, kostete, und als er sich überzeugt, daß in allen Punkten das rechte Maß getroffen, leerte er es auf einen Zug bis zur Hälfte. »Nun?« sagte Tobias.

»Du erinnerst dich, daß ich in Grenwitz während des Sommers ein Verhältnis mit der kleinen schwarzäugigen Hexe von Französin anfing«, sagte Timm.

»Weiß schon«, sagte Tobias mit schlauem Lächeln, »um was es sich handelt.«

»Nichts weißt du; das Ding war in einer Hinsicht so scheu wie eine wilde Ente. In anderer Hinsicht war sie freilich auch wieder dumm genug, wie du schon daraus sehen kannst, daß sie mir die Dreihundert borgte, die sie in der Sparkasse hatte.«

»Das war edel von ihr.«

»Ja, aber jetzt will sie sie wiederhaben.«

»Hast du ihr einen Wechsel gegeben?«

»Nein.«

»So sag, du hast nichts bekommen, abgemacht Sela!«

»Das geht nicht so leicht. Sie hat Freunde, mit denen ich es nicht gern verderben möchte.«

»Wieso?«

»Ich sagte dir doch, daß Marguerite seit einiger Zeit nicht mehr bei Grenwitzens ist?«

»Nein, kein Wort. Wo denn?«

»Bei Geheimrat Robran.«

»Wie kommt sie dahin?«

»Ich glaube, durch den Kandidaten Bemperlein, den Duckmäuser, der, wie ich hörte, jetzt des Geheimrats rechte Hand, und wie andere sagen, mit meiner Poussage verlobt ist.«

»Wohl bekomm's; aber wer hat dich denn nun eigentlich gemahnt?«

»Der alte Geheimrat selbst. Hier –«, bei diesen Worten zog Albert den Brief, den er vor einer halben Stunde erhalten hatte, aus der Tasche, »schreibt der alte Sünder: Geehrter Herr! Wie mir Fräulein Marguerite Martin, die mir jetzt die Ehre erweist und so weiter. Da die Beziehungen, welche früher zwischen Ihnen und der jungen Dame bestanden, gänzlich und für immer – Sie wissen am besten weshalb – abgebrochen sind, so werden Sie es selbstverständlich finden, daß Sie als Mann von Ehre ein Kapital, das Ihnen unter so ganz anderen Voraussetzungen zur Disposition gestellt wurde, keinen Augenblick länger behalten können. Schließlich noch eine Bemerkung. Die junge Dame selbst würde aus einer leicht erklärlichen Scheu die ganze Sache wahrscheinlich auf sich haben beruhen lassen, wenn ich nicht, zufällig von der Baronin Grenwitz hörend, daß Fräulein Martin während der Zeit ihres Aufenthalts in jener Familie ein kleines Kapital sich erspart habe, in die junge Dame gedrungen wäre und so den Sachverhalt erfahren hätte; und so weiter. Nun, Was meinst du dazu?« fragte Albert, den zerknitterten Brief wieder in die Tasche steckend.

»Die Sache liegt allerdings schlimm«, erwiderte Ehren-Tobias, sich den ergrauenden Kopf kratzend. »Der Geheimrat gilt so viel in der Stadt, besonders jetzt, wo er, der Teufel mag wissen wie, seine Schulden bezahlt hat, daß du nicht gegen ihn aufkommst; ich fürchte, du wirst blechen müssen.«

»Ich fürchte es auch«, sagte Albert. »Die verdammte Plaudertasche, die Baronin: Es ist bloße Rache an mir; aber sie soll's mir büßen. Ich will die Daumschrauben anziehen, daß –«

Albert schwieg und goß den Rest aus seinem Glase hinunter.

»Höre, Albertchen«, sagte Tobias, »in welchem Verhältnis stehst du eigentlich zur Baronin? Ich hoffe, Albertchen, mein Junge, daß du zu dem vielen Gelde, das du in letzter Zeit – ich kann wohl sagen, sehr gegen deine Gewohnheit – hast blicken lassen, auf anständige Weise gekommen bist?«

»Erst sage mir, was es für eine Bewandtnis hat mit dem Verhältnis zwischen dir und Grenwitzens, auf das du schon ein paarmal geheimnisvoll hingedeutet hast.«

»Willst du mir dann sagen, wie du zu dem Gelde kommst?«

»Ja.«

»Gut! So wollen wir uns erst jeder noch ein Glas zurechtmachen und dann ans Erzählen gehen; aber reinen Mund gehalten, Albertchen, reinen Mund gehalten!«

»Eine Krähe hackt der andern die Augen nicht aus.«

Herr Tobias nickte schmunzelnd, mischte mit kunstgerechter Hand den Grog, knöpfte seine schwarze Weste auf, lehnte sich in den Stuhl zurück und sprach: »Ich war nicht immer in Sundin und nicht immer Küster in St. Brigitten.«

»Weiß! Berlin hat die unbestrittene Ehre, dich den ihren zu nennen, und wessen Küster du gewesen bist, ehe du hierher kamst und Küster an St. Brigitten wurdest, wird der Teufel wohl am besten wissen.«

Tobias lächelte vergnügt in sich hinein und schlurfte behaglich seinen Grog.

»Nicht so grob, Albertchen«, sagte er, »sonst erzähle ich nicht weiter. Mein Vater war Bedienter, und ich wurde von der zartesten Jugend auf zu demselben Berufe bestimmt. Wie groß mein Talent in dieser Beziehung war, magst du daraus entnehmen, daß ich, als ich kaum zwanzig Sommer zählte, mindestens schon ein Dutzend Herren gehabt hatte. Um diese Zeit kam mir der Gedanke, endlich einmal mein eigener Herr zu sein, und da ich mir während meiner Dienstzeit ein nicht unerkleckliches Sümmchen gespart hatte« – hier lächelte Ehren-Tobias mit dem linken Auge und dem linken Winkel seines Mundes –, »besaß ich Kapital genug, um eine kleine Wirtschaft anzufangen.«

»Mag auch 'ne Wirtschaft gewesen sein«, meinte Albert.

»Allerdings!« sagte Tobias, indem er noch ein Stück Zucker in seinen Grog tat, »zum mindesten war in meiner Wirtschaft das schöne Geschlecht sehr stark vertreten. Da ich das Prinzip hatte, nur weibliche Bedienung in meinem Lokal zu haben und das »Café Gutherz« immer stark frequentiert wurde, so hatte ich fast immer sechs bis acht junge Damen, welche die Honneurs machten, bei mir.«

Albert Timm lehnte sich in seine Ecke zurück und brach in ein schallendes Gelächter aus, während Ehren-Tobias nur lächelte – diesmal mit dem rechten Auge und dem rechten Mundwinkel.

»St! st! Albertchen«, sagte er, »die Leute hören es auf der Straße. Wie kann ein kluger Jüngling so unvorsichtig laut lachen; ich habe mein ganzes Leben lang nur gelächelt und habe mich dabei sehr gut gestanden. Doch das beiseite. – Die jungen Mädchen waren natürlich immer hübsch, ja ich kann wohl sagen, daß ich von allen meinen Kollegen stets die hübschesten hatte. Dies verdankte ich aber, ehrlich gestanden, weniger mir selbst als dem Scharfblick und dem Geschmack einer Dame, mit der ich früher, als ich mal mit ihr bei einer Herrschaft zusammen diente, ein zärtliches Verhältnis gehabt hatte und jetzt noch immer in freundschaftlichem und geschäftlichem Verkehr stand. Frau Rosa Pape war eine vortreffliche Frau, deren Gesellschaft von den anständigsten Damen nicht bloß gesucht, sondern auch obendrein mit schwerem Gelde bezahlt wurde und deren Nachtklingel die ganze, sehr stark bevölkerte Straße, in der sie wohnte, kannte. Aber Rosa Pape interessierte sich nicht bloß für junge Frauen, sondern auch ganz konsequenterweise für diejenigen, die es noch einmal werden konnten, und so hatte sie denn unter den hübschen Stubenmädchen und Näherinnen eine nicht minder ausgebreitete Kundschaft als unter den Regierungs- und Kommerzienrätinnen.

Infolgedessen war niemand besser als sie imstande, die Bekanntschaft solcher jungen Personen mit jungen Kavalieren, die sich nach einer temporären Lebensgefährtin sehnten, zu vermitteln, und da sie sich immer sehr anständig für ihre Hilfeleistungen bezahlen ließ, so war ihr Publikum das nobelste, das sich denken läßt: lauter Herren von, Barone, Grafen, ja selbst Prinzen von Geblüt wandten sich vorkommenden Falls an die verwitwete Frau Rosa Pape.

Eines schönen Tages kam nun Frau Rosa zu mir und teilte mir mit, daß ein steinreicher Baron ihrer Bekanntschaft sich sterblich in ein hübsches Kind verliebt und sie beauftragt habe, ihm das Mädchen, koste es, was es wolle, zu schaffen. Sie habe auch schon mit dem Baron einen herrlichen Plan entworfen, zu dessen Ausführung aber noch ein ›Kammerdiener‹ nötig sei. Es sei Geld, viel Geld bei der Affäre zu verdienen; ob ich Lust habe, mit von der Partie zu sein.

Nun hatte ich gerade in der letzten Zeit einige unangenehme Auseinandersetzungen mit der Polizei gehabt, die leicht zu noch unangenehmeren Folgen führen konnten; und ich ergriff daher mit Freuden die Gelegenheit, mich in so anständiger Gesellschaft eine Zeitlang aus Berlin zu entfernen. Vierundzwanzig Stunden später war ich mit der jungen Dame, um die es sich handelte, in dem Wagen meines neuen Herrn auf dem Wege nach – nun rate einmal, Albertchen?«

»Das mag der Kuckuck wissen! Aber du wolltest mir nicht deine ganze interessante Lebensgeschichte erzählen, sondern sagen, wie du nach Grenwitz gekommen bist«, sagte Albert, der, mit seinen Angelegenheiten beschäftigt, der Erzählung Ehren-Tobias' nicht die gewöhnliche Aufmerksamkeit gewidmet hatte.

»Du hörst ja, daß ich schon auf dem Wege dahin bin«, sagte dieser, Albert über den Rand seines Glases mit dem linken Auge anzwinkernd, »denn mein neuer Herr war der Baron von Grenwitz und das Ziel unserer Reise Schloß Grenwitz, wo du in diesem Sommer gewesen bist.«

Ein Indianer, der in dem Grase der Prärie die Spur des Feindes entdeckt, den er tagelang vergeblich verfolgt, kann nicht alle Sinne schärfer anspannen, als es Albert tat, sobald er diese letzten Worte vernommen, die ihn in Ehren-Tobias eben jenen Kammerdiener erkennen ließen, der in der Erzählung der Mutter Clausen eine so zweideutige Rolle gespielt hatte. Aber er verriet mit keiner Miene, keinem Worte, wie wichtig ihm die eben gemachte Entdeckung war, sondern fragte mit vortrefflich gespielter Unbefangenheit:

»Der alte Baron? Der Tausend! Wer hätte dem alten Knaben dergleichen zugetraut.«

»Nicht der jetzige, sondern sein Vetter aus der älteren Linie, Baron Harald, oder der wilde Harald, wie er noch immer bei denen, die ihn gekannt haben, heißt. Ich sage dir, Albertchen, es war ein fideles Leben, das wir anno achtzehnhundertzweiundzwanzig auf Schloß Grenwitz führten. Wein und Weiber die Hülle und die Fülle; und dabei Komödie gespielt, zum Totschießen lächerlich. Denke dir: meine gute Freundin Rosa –«

»War denn die auch da?«

»Allerdings! Habe ich dir denn nicht gesagt, daß der Baron sie als Großtante engagiert hatte?«

»Als was?«

Tobias lächelte – diesmal mit beiden Augen und Mundwinkeln:

»Sie spielte mit Perücke und Krückstock die alte Großtante des Barons, da das alberne Ding, die Marie – Marie Montbert hieß der Aff' und war ein schmuckes Mädel, daß einem die Augen übergingen, wenn man sie sah –, was wollte ich doch sagen? Ja! Die Marie hatte eine Anstandsdame aus der Familie des Barons als conditio sine qua non, wie wir Lateiner sagen, gemacht. Na, nun hatte sie ihre Anstandsdame, eine famose Anstandsdame, he, Albertchen he!« und Ehren-Tobias kicherte und stieß Albert freundlich in die Seite.

»Und wie ging die Sache zu Ende?« fragte Albert, der Eile hatte, über das, was er schon wußte, wegzukommen.

»Ja, ich habe sie nicht zu Ende kommen sehen, denn wir, das heißt: Rosa und ich, brannten schon vorher durch. Offen gestanden, fürchteten wir, die Geschichte möchte schief ablaufen, denn Marie hatte in Berlin manche Freunde, die Lärm machen und uns alle zusammen, zum wenigsten mich und Rosa, in des Teufels Küche bringen konnten. So empfahlen wir uns denn eines schönen Tages, oder vielmehr in einer schönen Nacht, ohne Abschied zu nehmen, nachdem wir noch eins oder das andere, was uns gerade in die Hände kam, als Andenken an Grenwitz mitgenommen. Hier in Sundin trennten wir uns, oder wurden getrennt. Ich wurde nämlich so krank, vermutlich von dem guten Leben, das wir in Grenwitz geführt, daß ich nicht weiterkonnte, und hier ins Spital gebracht werden mußte. Was ich damals für ein Unglück hielt, schlug mir hinterher zum größten Glück aus. Denn der verstorbene Superintendent, der damals Spitalgeistlicher war, verliebte sich so in mein bescheidenes Lächeln, daß er mich, als ich wieder gesund war, notwendig zum Bedienten haben mußte – na, und von dem Bedienten eines Geistlichen bis zum Küster ist nur ein Schritt«; und Herr Tobias schlürfte behaglich den Rest aus seinem Glase.

»Und hast du von deiner Freundin Rosa je wieder etwas gehört?«

»Sie lebt in Berlin und treibt ihr Geschäft mit der doppelten Buchführung schwunghafter als je. Wenn du mal nach der Residenz kommst, Albertchen, vergiß ja nicht, sie zu besuchen. Sie wohnt Gertruden- und Roßstraßenecke, zwei Treppen hoch.«

»Wir wollen uns das doch gleich notieren«, sagte Albert, die Adresse in seine Brieftasche schreibend, »aber was ist denn aus der Marie, oder wie das dumme Ding hieß, geworden?«

»Ja, das ist eine kuriose Geschichte. Kurze Zeit nachdem wir fort waren, ist wirklich einer ihrer Freunde, ein Herr von Estein, gekommen und hat sie dem Baron wegstibitzt, der sich darüber so schwer geärgert hat, daß er bald darauf gestorben ist. Aber nun kommt das Kurioseste von allem. Denke dir, Rosa ist kaum wieder in ihrem Geschäft, als sie nachts herausgeklingelt wird. Von wem? Von eben dem Herrn von Estein, und zu wem? Zu eben derselben Marie, die in Kindesnöten liegt.«

»Nicht möglich!« rief Albert, einen Augenblick die angenommene Gleichgültigkeit vergessend.

»Was ich dir sage. Rosa hat es mir damals gleich geschrieben und ich habe mich halb totgelacht über den Spaß. Erst ein Mädchen verkuppeln und dann –« Tobias lachte diesmal gegen seine Grundsätze gerade heraus.

Albert stimmte ein. »Sehr gut, wirklich sehr gut! Vielleicht weiß Frau Rosa auch, was aus dem Kinde geworden ist?«

»Möglich«, sagte Tobias, »aber ich glaube, sie will nichts davon wissen. Sonst hätte sie sich wohl gemeldet, als Baron Harald damals in allen Blättern dem, welcher ihm über das Verbleiben der Marie Auskunft geben könnte, eine große Belohnung bot. Ich glaube, sie hat die Folgen der Geschichte gefürchtet und hat's gemacht wie ich und reinen Mund gehalten, bis zwanzig und einige Jahre lang Gras darüber gewachsen ist. Na, aber nun, Albertchen, ist die Reihe an dir, mir zu erzählen, wie du in letzter Zeit zu deinem Gelde kommst.«

»Tausend! Da fällt mir ein, daß ich noch in den Keller muß«, rief Albert aufspringend. »Adieu, Tobias, ein andermal – ich kann wahrhaftig nicht bleiben.«

Und Albert setzte seinen Hut auf und entfernte sich eiligst, ohne sich an das Schmollen seines Wirtes und Gastfreundes zu kehren.


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