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Zehntes Kapitel

Oswald hatte, nachdem er Berger an der Pforte des Irrenhauses verlassen, durch den Abschied von dem unglücklichen Manne und seine letzten grausigen Worte tief erschüttert, in trübes Sinnen verloren, den Weg von der Heilanstalt an dem Fluß entlang fast wie ein Nachtwandler zurückgelegt.

Was er seit seiner Ankunft gestern abend in Fichtenau gehört, gesehen, erfahren – all die Eindrücke, die auf ihn losgestürmt, all die Gedanken, die in ihm angeregt, all die Leidenschaften, die in ihm entfesselt waren, wirbelten in seinem Hirn und Herzen chaotisch durcheinander. Er hatte ein dunkles Gefühl davon, daß dieser Zustand zuletzt zum Wahnsinn führen müsse, ja daß er schon eine Art Wahnsinn sei.

Sollte er nicht umkehren und an die Pforte pochen, die sich soeben hinter Berger geschlossen? War dieses Haus mit seinen hohen Gefängnismauern nicht das beste Asyl für Herzen, die der Welt so müde waren wie das seine? Oder besser noch: sollte er sich nicht über das niedrige Geländer hinab in den Fluß stürzen, der unter ihm, tief und still, geräuschlos wie eine Schlange, zwischen den hohen, steilen Ufern dahinschoß? Konnte er so nicht sicher sein, die heiße Stirn für immer zu kühlen, die hämmernden Pulse in den Schläfen auf ewig zum Schweigen zu bringen? Durfte er hoffen, aus einem Labyrinth, in dem ein so hoher edler Geist, wie der Bergers, rettungslos verwirrt war, den Ausgang zum rosigen Licht zu finden? War ihm nicht Berger an Kraft des Geistes wie an Adel der Seele überlegen? – Und doch und doch!

Oswald stand vor dem Kurhause. Eine Chaise, die eben angekommen, hielt noch angespannt vor der Tür. In dem Speisesaal sah er zwei Herren in eifrigem Gespräch an dem Ende der langen Tafel sitzen. Es war ihm, als ob Doktor Birkenhain der eine sei. Es verlangte ihn durchaus nicht nach einer Begegnung mit dem Arzte, dessen Auftrag in betreff Bergers er so kläglich ausgeführt hatte. Er wollte ihm, ehe er abreiste, einige Zeilen schreiben, in denen er sich mit dringenden Geschäften und Bergers speziellem Wunsch entschuldigte, wenn er, ohne sich persönlich zu empfehlen, abgereist sei.

Er ging auf sein Zimmer und schellte.

»Geht die Post noch heute nacht?«

»In einer halben Stunde, mein Herr.«

»Ich will mit der Post fort. Besorgen Sie mir einen Platz und die Rechnung!« sagte Oswald, schon mit dem Packen seiner Sachen beschäftigt.

»Sogleich, mein Herr!«

»Ja, ja! Ich will fort, fort von hier«, murmelte Oswald mit Leidenschaftlichkeit, sich in dem Entschluß der letzten Minute bestärkend. »Fort von hier, ehe noch mehr Unglück über mich hereinbricht.«

»Die Rechnung, mein Herr!« sagte der wiedereintretende Kellner.

»Danke bestens, mein Herr. Der Herr brauchen sich gar nicht so sehr zu beeilen. Sie haben noch fünfundzwanzig Minuten Zeit; die Post ist drei Schritt von hier. Glaubten, der Herr würde noch die Nacht bleiben. Hätten sonst dies Zimmer an eine Dame geben können, die soeben angekommen ist und den Salon nebenan und zwei Zimmer bestellt hat. Mußten ihr die Zimmer links geben, die freilich für eine so schöne Dame nicht gut genug sind.«

Der Kellner sprach diese Worte in einem Flüstern, das auf eine gewisse Undichtigkeit der Türen in dem Kurhause schließen ließ.

»Wer ist die Dame?« fragte Oswald, indem er seinen Koffer zuschnallte.

»Eine Frau von Berkow; alte Bekannte von uns. Erzählte dem Herrn schon heute morgen davon. Werde sogleich den Hausknecht schicken, daß er den Koffer auf die Post trägt. Sonst nichts zu befehlen, mein Herr?«

Der Kellner verließ mit einer kühnen Schwenkung seiner Serviette das Zimmer. Oswald richtete sich in die Höhe. Sein Gesicht war totenbleich. Er mußte sich an dem Tisch halten; seine Glieder flogen.

Hatte er denn recht gehört? Melitta hier? In diesem Hause? In dem nächsten Zimmer? Wie kam sie hierher? Was wollte sie hier? Wen suchte sie hier? Hier an diesem Orte, an den sich für sie so wichtige Erinnerungen knüpften? War dies ein Zufall? War es Absicht? War es möglich, daß sie seinethalben hier war? Hatte sie das Ziel seiner Reise in Erfahrung gebracht? Suchte sie ihn? Hatte sie den Brief, den er ihr von Grenwitz aus, nach Brunos Tode und eine Stunde vor dem Duell mit Felix nach Berkow schrieb, den Brief, in dem er ihr mit einer apathischen Grausamkeit, die er für Heroismus hielt, sagte, daß sein Herz ihr nicht mehr ganz gehöre, daß er sie und sich selbst nicht täuschen wolle und könne, daß er für immer von ihr – und vielleicht von dem Leben – Abschied nehme, nicht erhalten? Oder hatte sie ihn erhalten und mit der Ungläubigkeit eines liebenden Herzens gelesen, das die Treulosigkeit nicht versteht, weil es selbst nur treue Liebe kennt? War sie hier, ihm zu sagen, daß sie ihm verziehen habe, daß sie noch immer seine Melitta sei? Würde sie, wenn er jetzt zu ihr eilte und ihr zu Füßen sänke, den Reuigen vom Boden aufheben, ihm sagen, daß alles vergessen und vergeben sei, daß sie ihm nie gezürnt habe?

Er lauschte, ob sich nebenan etwas rege. Er hörte nichts, nichts als das Klopfen seines ungestüm pochenden Herzens.

Sie war allein! Sie harrte vielleicht seines Kommens! Sollten sie wirklich wiederkehren, die seligen Tage von Berkow? Sollte wirklich noch alles, alles gut werden?

Er lauschte; er hörte nebenan die Tür gehen.

Es wird ein Kellner sein, der einen Auftrag ausgerichtet hat!

Eine tiefe Männerstimme! Die weiche Stimme einer Frau!

Die weiche Stimme war Melittas Stimme; aber die andere?

Er lauschte. Die Stimmen wurden lauter, deutlicher.

Ein konvulsivisches Zucken flog über das Gesicht des Lauschers; ein heiseres, unheimliches Lachen brach aus seiner Kehle. Der Mann, der mit Melitta so eifrig sprach – war Baron Oldenburg!

Das Sofa, auf dem die Redenden saßen, stand dicht an der Tür, welche die beiden Zimmer verband. Oswald konnte nicht alles verstehen, was sie sprachen; aber wozu denn auch das? Die Zusammenkunft der beiden hier in diesem abgelegenen Städtchen, das schon einmal der Ort ihrer verstohlenen Rendezvous gewesen war, sprach beredt genug. So hatte er denn doch recht gehabt! So hatten die beiden ihn von Anfang an genasführt! Er hatte an Melitta nicht gefrevelt, was sie nicht an ihm gesündigt hatte. Die Rechnung war quitt!

Es klopfte an die Tür.

Der Hausknecht erschien, den Koffer des Herrn auf die Post zu bringen.

»Es ist die höchste Zeit, mein Herr. Der Postillion hat schon zweimal geblasen.«

Oswald folgte mechanisch dem Manne über den Korridor weg zum Hause hinaus über die dunkle Straße an den Postwagen.

Eine Minute später rollte der Wagen über das holprige Pflaster davon. Der Postillion blies ein lustiges Liedel in die stille Nacht hinaus, und Oswald summte zur Melodie den Text: Sich selbst verachten; die Welt verachten; verachten, daß man verachtet wird!


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