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Einunddreißigstes Kapitel

Zwei Männer aus dem Dorfe hatten unter Aufsicht des alten Baumann in dem Park von Berkow auf einer Stelle an dem Rande des Buchenwaldes den tiefen Schnee weggeschaufelt und in der schwarzen Erde ein tiefes Grab gehackt und gewühlt, und in dem tiefen Grabe schlief nun die Zigeunerin nach ihrer ruhelosen Wanderung durch das bunte ruhelose Leben, das ihr so wenig Glück gebracht, den tiefen, ewigen Schlaf.

Als nach einigen Tagen das Wetter sich aufgeklärt hatte, und es möglich gemacht worden war, die Gänge im Garten und durch den Park bis zu der Stelle am Waldesrande freizumachen, wanderte Melitta mit ihrem Julius und der kleinen Czika den Weg nach dem Grabe, das jetzt mit einem Granitblocke bedeckt war, auf dessen einer glattpolierten Seite der Name Xenobis stand. Melitta führte das braune Kind an der Hand und sprach mit ihm viel öfter als mit ihrem Sohne, der aber auch seinerseits mit einer Art von ritterlicher Zärtlichkeit um das Kind bemüht war. »Wenn die Bahn erst ein bißchen besser ist, dann will ich dich im Schlitten fahren, Czika. Oh, ich habe einen wunderschönen Schlitten; ich will ihn dir zeigen, wenn wir wieder nach Hause kommen. Und wir wollen beide ganz allein fahren; der Pony kennt mich besser als irgendeinen; ich brauche bloß mit der Zunge zu schnalzen, so geht er davon wie der Wind, und wenn ich sage: Brrr, Pony! so steht er still wie ein Lamm. Nicht wahr, Mama, ich darf mit Czika ganz allein spazierenfahren?«

»Wenn Czika mit dir fahren will, warum nicht.«

Czikas dunkles Gesichtchen hatte sich bei Julius' kühnen Worten ein wenig aufgehellt; aber alsbald zog wieder eine Wolke über ihre Stirn.

»Czika wollte, sie hätte Hamet wieder«, sagte sie, mit den braunen Gazellenaugen in die Ferne starrend.

»Wer ist Hamet, Czika?« fragte Julius.

»Hamet? Hamet ist Czikas Esel.«

»Pah, ein Esel!« rief der Knabe, die Oberlippe verächtlich krümmend; aber ein Blick der Mutter genügte, ihm eine fliegende Schamröte über das ganze Gesicht zu jagen.

»Wo ist dein Esel, Czika?« fragte er mit freundlicher Teilnahme.

»Hamet ist tot. Mutter und ich haben ihn im Walde eingescharrt.«

»Ach, das ist ja schade. Laß es gut sein, Czika; ich will dir einen andern kaufen. Weißt du, Mama, der Förster Griebenow in Faschwitz hat einen großen Esel, mit so langen Ohren, Czika! Der Pony scheut immer, wenn wir ihm begegnen. Aber das schadet nichts. Er muß sich daran gewöhnen, sonst gibt's was« – bei diesen Worten schwang Julius seine Gerte – »ich will's ihm schon austreiben. Nicht wahr, Mama, ich darf mit Baumann hinüberreiten und Czika den Esel kaufen? Griebenow hat ihn mir schon ein paarmal angeboten. Nicht wahr, Mama?«

»Gewiß«, sagte Melitta, »er soll auch Hamet heißen.«

»Oh, das wird schön«, rief Julius, »und dann reiten wir alle drei spazieren. Du auf der Bella, ich auf dem Pony und Czika auf dem Hamet, und dann – aber, ich fürchte, Hamet wird nicht mitkommen können«, unterbrach er sich selbst und machte dabei ein sehr bedenkliches Gesicht.

»So reiten wir langsam.«

»Ja, das ist auch wahr. Wir wollen ganz langsam reiten, Czika; ich möchte um alles nicht, daß du herunterfielst.«

So plauderte der Knabe und Melitta sah mit innigster Freude, daß sein Geplauder und munteres Wesen auf Czika nicht ohne Wirkung blieben. Sie dachte der Zeit, wo die braune Gräfin zum erstenmal nach Berkow kam und wie sie schon damals, ehe sie noch eine Ahnung davon hatte, daß dies Kind Oldenburgs Kind sei, den Wunsch gehabt, es bei sich zu behalten und mit ihrem Julius zusammen zu erziehen, und wie wunderbar ihr Wunsch nun doch endlich in Erfüllung gegangen. Und dann schweiften ihre Gedanken in die Zukunft hinaus, ob wohl eine Zeit kommen werde, wo sie von diesen Kindern als von »unsern Kindern« sprechen dürfte, und als sie jetzt an dem Granitblock angelangt waren und sie einen Kranz von Immortellen darauf gelegt hatte, da schloß sie die beiden in ihre Arme, herzte und küßte sie und sagte: »Meine Kinder, meine lieben, lieben Kinder.«

Melitta beschäftigte sich so viel mit Czika, daß Julius, wenn er das hübsche kleine Mädchen nicht selbst so lieb gehabt hätte, deswegen hätte leicht eifersüchtig werden können. Czika schlief auch bei der Mama, und die Mama brachte sie alle Abend selbst zu Bett – oder vielmehr auf ihr Lager, denn Czikas Bett bestand vorläufig noch aus wollenen, auf der Diele ausgebreiteten Decken, da sie mit ihrem gewöhnlichen melancholischen Ernst erklärt hatte, Czika stirbt, wenn ihr sie in ein Bett legt. Die Kleine suchte ihr Lager sehr früh auf, meistens sobald es draußen dunkel geworden war, so daß Oldenburg, der erst immer um diese Zeit von Cona herüberkam, sie nicht mehr im Zimmer fand. Einige Male war er dann mit Melitta an das Lager getreten, aber er tat es jetzt nicht mehr, da das Kind einen so leisen Schlaf hatte, daß das leiseste Geräusch es erweckte. Er begnügte sich deshalb, von Melitta zu hören, daß es »ihrer Tochter« wohl gehe, daß sie mit »ihren Kindern« spazieren gewesen oder ausgefahren, daß »ihre« Czika sie heute zum ersten Male »Mutter« genannt habe.

»Ich fürchte, sie wird mich niemals Vater nennen mögen«, siegte Oldenburg traurig.

»Wir müssen Geduld haben, Adalbert«, erwiderte Melitta.

Hermann hatte die Koffer seines Herrn mit größerem Vergnügen wieder ausgepackt, als er sie an jenem melancholischen Tage vollgepackt hatte. Oldenburg dachte nicht mehr daran zu reisen, seitdem Melitta ihn zu bleiben genötigt hatte, und das Haus von Berkow jetzt alles umschloß, woran sein Herz hing. Jeden Tag gegen Dunkelwerden klingelte sein Schlitten auf dem Hof von Berkow, und die junge Frau begrüßte oft noch auf der Hausschwelle ihren täglichen Gast. Seit dem Abend, der ihm sein Kind wiedergeschenkt hatte, war Oldenburg ruhiger und heiterer, als er es je gewesen. Er schien sich Melittas Wort, daß sie am besten geduldig trugen, was sie doch einmal tragen müßten, zu Herzen genommen zu haben. Er wußte recht gut, was die Geliebte damit habe sagen wollen; recht gut, warum sie ihm noch immer nicht mit ihren lieben, schönen Augen klar in die Augen sehen konnte. Er beklagte es, daß es so war, aber er, der den Adel von Melittas Seele besser kannte als irgend jemand, hätte sich am meisten gewundert, wenn es anders gewesen wäre. Melitta liebte den Mann nicht mehr, der ihr Herz in einer unbewachten Stunde im Sturm der Leidenschaft eroberte, aber die Wunde, die dieser Liebe Lust und Leid ihrem Herzen geschlagen, blutete noch und auch hier mußte die Zeit bewirken, was dem Raisonnement nicht möglich war.

Die eigentümliche Situation, in der Oldenburg sich Melitta gegenüber befand, war nicht ohne Einfluß auf seine ganze augenblickliche Denk- und Empfindungsweise. Die Geduld, die Klugheit, die Vorsicht, deren er bedurfte, um das Fahrzeug seines Glücks endlich in den Hafen zu steuern, ließen ihn auch die Weltverbesserungspläne, mit denen er sich früher trug, als unausführbar beiseite legen. Dafür widmete er sich mit allem Eifer der Verwaltung seiner Güter und verfolgte die Politik des Tages mit nimmer müdem Interesse. Er bedauerte, daß er, als im Sommer der Landtag zusammentraf, die Zeit, die er dem Vaterlande schuldete, an den Ufern des Nil verträumt hatte. Neue Quellen des Volkswohls zu öffnen schien ihm jetzt wichtiger, als die des Nil zu entdecken. Er spürte in seiner stillen Solitüde den Sturm der Revolution, der aus Frankreich heraufdrohte und der mit seinem ersten Stoß das Gewitter, das dumpf über dem eigenen Vaterlande brütete, entfesseln konnte.

Melitta nahm teil an seinen Hoffnungen, Befürchtungen, an seinen Wünschen, seinen Plänen, selbst an seiner Ungeduld, daß die Stunde, von der er fühlte, daß sie kommen müsse, bald kommen möge. Sie begriff es vollkommen, daß er nach Paris zu gehen wünschte, um mit den alten Freunden, die er dort hatte, die neu gewonnenen Ansichten auszutauschen. Er wußte, daß sie nur an ihn dachte, und gerade deshalb entschloß er sich zur Reise.

Kurz vorher erfuhren sie von der jetzt mitteilsameren Czika einen wunderlichen Umstand. Das Kind fing plötzlich an, nachdem in ihrer Gegenwart Paris mehrere Male genannt war, von einem alten Manne zu sprechen, der schon längere Zeit bei ihnen gewesen sei, und zuletzt die Mutter und sie hierher geleitet habe. Nicht weit von dem Hoftore von Berkow sei er erst umgekehrt. Der Mann habe auch nach Paris gewollt. Sie drangen weiter in das Kind und konnten nicht zweifeln, daß der alte Mann, von dem es sprach, Berger gewesen war. Warum er die so treu Begleiteten an der Schwelle des Hauses fast verlassen hatte? Was er in Paris wollte? »Vielleicht«, meinte Oldenburg, »will er sich überzeugen, daß der kreißende Berg der Revolution abermals ein Nichts gebären wird.«

Dennoch berührte ihn die Nachricht seltsam. Er hatte Berger in Fichtenau kennengelernt, als er während des Sommers Melitta dort besuchte, und damals mit dem scharfsinnigen, enthusiastischen Manne manches philosophische und politische Gespräch geführt, in dem das Wort Revolution häufig genug vorkam.

»Der Moderdunst der Festungskasematten und die Stickluft des Polizeistaates, die ich mein Leben lang habe einatmen müssen – das hat mich gemacht, was die Leute verrückt nennen« – hatte der Professor einmal gesagt; »mir ist manchmal, als ob nur ein Atemzug freier Luft im Vaterlande mir die Last wegheben würde, die hier ruht«; und dabei hatte er auf die Brust gedeutet.

»Ein Atemzug freier Luft im Vaterlande!« Oldenburg wiederholte sich das Wort, während er seinen Koffer packte. »Jawohl! Das wird uns allen, allen, die Brust leichter machen.«


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