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Dreißigstes Kapitel

Der Winter war während der Nacht über die Insel gebraust, und noch immer wirbelte der Schneestaub, den er bei seiner eiligen Fahrt vom Nordland her aufstöberte, dicht herab auf Dächer und Bäume, auf Wiesen und Felder.

Oldenburg schien sich heute an diesem melancholischen Schauspiel nicht satt sehen zu können. Er stand am Fenster seiner Arbeitsstube auf der Solitüde und schaute unverwandt in die schneeerfüllte Luft. Er hatte den Tag über viele Stunden so gestanden und kaum einmal seinen Hermann beachtet, der mit sorgenvoller Miene ab und zu ging, und mehrere große Koffer, die in dem Zimmer offen standen, voll Kleider, Wäsche und Bücher packte. Auch des treuen Dieners treue Gattin Thusnelde, die behäbige dicke Haushälterin, hatte sich wiederholt in dem Zimmer zu schaffen gemacht und einmal sogar gewagt, dem Herrn zu sagen, daß das Essen fertig sei, darauf aber keine Antwort erhalten als: »Es ist gut, Alte!«

Seitdem waren schon wieder mehrere Stunden verflossen. Der Baron hatte gleich nach Tische wegfahren wollen; aber er hatte noch immer nicht Befehl zum Anspannen gegeben. Daß sich das Wetter aufklären würde, hoffte er wohl schwerlich, denn die Vorratshäuser des Schnees schienen unerschöpflich und überdies wäre es das erste Mal gewesen, daß er sich von der Ausführung eines Entschlusses durch schlechtes Wetter hätte abhalten lassen; auch war, wenn er noch vor Abend die Fähre erreichen wollte, Mittag die späteste Zeit der Abreise gewesen. Er hatte im Laufe des Tages wiederholt gefragt: »Ist niemand dagewesen?« und dann jedesmal, wenn der alte Hermann, wie er wohl nicht anders konnte: »Nein, Herr Baron!« geantwortet hatte, sich wieder zum Fenster gewandt und mit den Fingern weiter auf den Scheiben getrommelt.

Jetzt war es auch nicht eben mehr wahrscheinlich, daß noch jemand kommen würde. Der schmutzig rote Streifen tief am westlichen Horizont verkündete, daß die Sonne, die den ganzen Tag unsichtbar gewesen war, im Meere versank. Der Sturmwind, der gegen die Fenster rasselte und klagend und heulend um das Haus und durch die hohen Wipfel der Tannen fuhr, zerriß die Schneeluft, und die unendliche graue Wasserwüste mit ihren schaumgekrönten Wellen breitete sich vor den Blicken des einsamen Mannes am Fenster aus in schauerlicher Erhabenheit. Er öffnete die Tür und trat auf den Balkon; er lehnte sich auf das Geländer, durch dessen eiserne Stäbe der Wind in schrillen Tönen pfiff. Er warf keinen Blick auf die hohen Kreideufer, die sich rechts und links weit und weiter erstreckten in einem ungeheuren Halbkreise, und die jetzt mit den starren Wäldern, die sie auf ihren schroffen Stirnen trugen, von der untergehenden Sonne für einen Augenblick blutrot angestrahlt waren. Er schaute nur immer hinab, wo hundert Fuß unter ihm das wilde Meer zwischen den Felsblöcken des Ufers donnernd brandete. Der weiße Gischt wirbelte in den scharfen Ecken der steilen Wände, von dem wilden Winde emporgetrieben, manchmal bis hinauf zu ihm und netzte ihm mit eiskalten Tropfen Stirn und Haar und Bart. Aber er achtete es nicht. In seiner Seele sah es wilder und stürmischer aus als da draußen in der Natur. Es war ihm, als wäre er ganz allein in der verödeten Welt, als bräche eben für diese verödete Welt die ewige Nacht herein und als wäre er verdammt, weiterzuleben in dieser ewigen Nacht.

»Es ist ganz recht«, murmelte er, »warum warst du der Hans Narr, der sich wieder ruhig an dem Seile führen ließ, von dem er doch nun mittlerweile wissen mußte, wohin es ihn führte! Und doch! Sie war so lieb, so gut in dieser Zeit, wie sie es nie gewesen! Konnte ich mein Ohr dem Sirenengesange verstopfen, der mir nie so nah und so süß getönt hatte! Sirenengesang – das ist es eben! Was weiß ein Weib von der treuen Liebe, deren ein Männerherz fähig ist! Kaprice alles, alles eitel Tand und Spielerei! Ein Paar blaue Augen, eine glatte Zunge und höfliche Manieren dazu – so muß das Püppchen ausstaffiert sein, wenn es den guten Kindern gefallen soll. Ob das Püppchen ein Herz in der Brust, Hirn im Schädel hat, das kümmert sie nicht. Im Gegenteil: das ist so unbequem, so langweilig, das paßt ja gar nicht in die Puppenstube.

Und so sei es denn abgetan, das Narrenkleid, für nun und immer! Wie das Abendrot dort an den Felsen verbleicht, so will ich von meiner Seele wegwischen diese rosige Lüge, und rauh werden wie das winterliche Meer, und wie mich niemand liebt, so will ich niemand lieben. Ich will durch das Leben ziehen, einsam, wie jener Schneevogel sich dort durch die pfadlose Luft schwingt, unbekümmert wie er, ob irgendwo am Ufer unter überhangenden Felsen das schützende Nest bereit ist.«

»Das werden Sie nicht; denn Sie sind ein Mensch und der Mensch ist viel mehr als die Vögel unter dem Himmel.«

Oldenburg wandte sich verwundert um nach dem, der in einem tiefen, festen Tone diese Worte gesprochen. Dicht hinter ihm stand Baumann.

»Ich komme«, fuhr der alte Mann, Oldenburgs ängstlich fragenden Blick beantwortend, fort, »im Auftrage der Frau von Berkow.«

»Was ist's?« sagte Oldenburg, dem alles Blut aus den Wangen zum Herzen getreten war. »Sprechen Sie es aus! Frau von Berkow ist sehr krank – nicht wahr?«.

»Nicht Frau von Berkow!« erwiderte Baumann. »Eine andere Frau, die vor einer Stunde samt ihrem Kinde zu uns auf den Hof gekommen ist, und die Sie, Herr Baron, vor ihrem Ende, das vielleicht nahe bevorsteht, noch einmal zu sehen wünscht!«

Eine Frau – mit einem Kinde! Wie ein Schleier fiel es dem Baron von den Augen.

»Kommen Sie!« sagte er. –

Vor der Tür der Solitüde stand Melittas mit zwei kräftigen Braunen bespannter Schlitten. Die Männer stiegen ein, Oldenburg ließ sich von dem Kutscher hinten auf der Pritsche Zügel und Peitsche geben, und fort ging es im Galopp durch die düstern Tannen; aus den Tannen hinaus in das ebene, sich nach Faschwitz zu allmählich senkende Land, das jetzt eine weite, von dem grauen Horizont begrenzte Schneefläche war, von der die spärlichen, mit Schnee bedeckten Bäume und Hütten sich kaum abhoben. Auch der Weg war verschüttet und selbst die Gleise, die der Schlitten vorhin gemacht hatte, schon wieder zugeweht. Man mußte mit der Gegend sehr vertraut und überdies ein so kundiger Rosselenker sein, wie es Oldenburg war, um in dieser Wildnis hügelauf, hügelab, zwischen bodenlos tiefen Mooren hindurch in vollem Rosseslauf dahinjagen zu können. Kaum ein Wort wurde unterwegs gesprochen, nach einer halben Stunde hielt der Schlitten mit den dampfenden Pferden vor dem Herrenhause von Berkow. Sie gingen in das Haus.

»Wollen der Herr Baron nur gefälligst in den Gartensaal treten«, sagte der alte Baumann.

Er ging voran in den Gartensaal, wo auf dem Tisch eine Lampe, und in dem Kamin ein verlöschendes Feuer brannte. Der Alte schob die Lampe höher, fachte das Feuer wieder an, und verschwand dann durch die Tür, die in die »rote Stube« führte.

Oldenburg hatte sich an den Kamin gestellt, seine kalten Hände zu wärmen. Tausend Gedanken auf einmal wirbelten durch sein Hirn, er schritt ein paarmal durch das Gemach, dann stellte er sich wieder an den Kamin.

»Melitta hatte recht«, murmelte er. »Ehe dies Unrecht nicht gesühnt ist, kann von Glück für mich nicht die Rede sein. Und wie soll es gesühnt werden? Ist es doch der Fluch der bösen Tat, daß sie fortzeugend Böses muß gebären. Es war der Schatten von heute, der gestern schon auf unsere Seelen fiel. Wie stumpfsinnig war ich, wie verblendet vor Leidenschaft, daß ich die Mahnung nicht verstand! Aber es ist entsetzlich, daß die Erinnyen uns bis in den Tempel verfolgen, wo wir uns reinigen wollten von aller Schuld, bis in das Heiligtum, das unser ganzes Glück umschließt.«

Das Rauschen eines Gewandes hinter ihm schreckte ihn empor. Er wandte sich um, und vor ihm stand Melitta, blaß und ernst, die schönen, lieben Augen glänzend von der Spur frisch geweinter Tränen.

»Melitta«, sagte Oldenburg, die Hände nach ihr ausstreckend, »kannst du mir verzeihen?«

»Ich habe dir nichts zu verzeihen, Adalbert«, erwiderte sie, ihre Hände in die seinen legend, »laß uns geduldig tragen, was wir doch tragen müssen.«

Sie sahen sich ein paar Momente schweigend in die Augen.

»Es liegt noch manches zwischen uns«, sagte Oldenburg traurig, »ich kann dir nicht bis auf den Grund der Seele schauen.«

»Wir müssen eben geduldig sein«, sagte Melitta.

Oldenburg ließ ihre Hände los.

»Wie geht es ihr?«

»Sie ist sehr schwach; in einem Zustand zwischen Schlafen und Wachen; aber sie erkennt mich wohl und hat schon mehrmals nach dir gefragt.«

»Ist Czika bei ihr?«

»Ja.«

»Darf ich sie sehen?«

»Laß mich erst einmal allein hingehen. Ich komme alsbald zurück.«

Nach einigen Minuten, während deren Oldenburg mit untergeschlagenen Armen, die Augen nicht vom Boden hebend, in dem Saale auf und ab gegangen war, erschien Melitta wieder in der Tür:

»Komm!«

Oldenburg folgte ihr durch die »rote Stube«, in ein halbdunkles Gemach. Melittas Schlafgemach. Es war das erste Mal in seinem Leben, daß er es betrat, und während sie hindurchgingen, fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf, welch verhängnisvoller Augenblick ihm den Zutritt in dieses Heiligtum verschaffte. An der Tür auf der entgegengesetzten Seite blieb Melitta stehen und flüsterte: »Hier ist sie.«

Sie traten ein. Es war ein großer, äußerst stattlicher, in der Rokokomanier überladen dekorierter und möblierter Raum, der zu den Fremdenzimmern in der Fronte des Hauses gehörte. Schwere gelbseidene Vorhänge verhüllten die Fenster; die Stühle und Sofas waren mit demselben Stoff überzogen, der getäfelte Fußboden blinkte in dem Schein des Feuers, das in dem Kamin brannte. Auf dem von Amoretten getragenen Sims des Kamins stand eine vergoldete Stutzuhr, die den von Genien und Schmetterlingen umflatterten Eingang einer Grotte darstellte, aus deren Öffnung, sooft die Stunde schlug, ein Sensenmann hervortrat. Gemälde im Geschmack jener Zeit, mit gezierten Schäfern und wohlfrisierten Schäferinnen in breiten, verschnörkelten Goldrahmen schmückten die Wände. Von der Stuckdecke hing ein mächtiger Kronleuchter von Glaskristallen, die bei dem wechselnden Licht, das in dem Gemache herrschte, in allen Farben des Regenbogens spielten. Und inmitten dieser Pracht, in einem großen Himmelbette, dessen seidene Vorhänge halb zurückgeschlagen waren, ruhte auf schneeigen Kissen ein armes, todkrankes Weib, das im fernen Ungarlande hinter einer Hecke das Licht der Sterne erblickt und zeit ihres Lebens nur in Scheunen und Ställen und öfter noch auf der öden Heide unter freiem Himmel oder im wilden Walde unter hohen Buchenhallen die Nächte zugebracht hatte. Ihre großen, im Fieber erglänzenden Augen wanderten unruhig über all die Herrlichkeiten, die sie umgaben, hin und blieben dann immer wieder auf ihrem Kinde haften, als sei dies der einzige Punkt, wo ihr geängstigter Geist sich wieder auf sich selbst besinnen könnte. Czika stand vor dem Bett, gekleidet in die phantastisch bunte Tracht, die sie zu tragen pflegte. Ihr schönes Gesichtchen war noch ernster und sorgenvoller als sonst. Sie verwandte keinen Blick von der Mutter. Man sah ihr an, daß sie ein volles Verständnis der Lage hatte; daß sie sehr wohl wußte, daß es der Tod sei, der ihrer Mutter braune Wangen so gelb und die roten Lippen so bleich machte, und mit so großen, kalten Schweißtropfen die schmerzlich gefurchte Stirn betaute.

An einem Tischchen in der Nähe des Bettes stand der alte Baumann. Er war eifrig beschäftigt, einen kühlenden Trank zu bereiten, und er blickte von seiner Beschäftigung kaum auf, als jetzt Melitta und Oldenburg geräuschlos in das Zimmer traten.

Aber das scharfe Ohr der Kranken hatte sie wohl gehört. Ein schwaches Lächeln der Befriedigung flog über ihr verwüstetes Gesicht. Sie winkte die beiden mit den Augen zu sich heran.

Czika war, wie sie an das Bett traten, zwischen sie zu stehen gekommen. Xenobi schien das mit Befriedigung zu sehen. Das Lächeln wurde heller, dann verschwand es wieder, und in ihrem gebrochenen Deutsch sagte sie:

»Legt eure Hände auf Czikas Kopf!«

Oldenburg und Melitta taten es. Oldenburgs Hand zitterte, als er die weichen Locken des schönen jungen Hauptes berührte.

»Und gebt mir die beiden andern Hände!«

Xenobi nahm die Hände, und als sie die Kette so geschlossen sah, murmelte sie etwas, das jene nicht verstanden und das ein Fluch oder Segen oder beides sein mochte, denn der Ausdruck ihres Gesichts wechselte bei jedem Wort.

Dann sagte sie:

»Schwört, daß ihr die Czika nicht verlassen wollt.«

»Wir schwören es«, antwortete Oldenburg, während Melitta, unfähig, ein Wort hervorzubringen, nur die Lippen bewegte.

Xenobi ließ ihre Hände los, um ihre eigenen Hände über die Brust zu kreuzen.

»Nun laßt Xenobi allein«, sagte sie mit sehr leiser Stimme, »nur Czika soll hierbleiben und der alte Mann.«

Oldenburg und Melitta blickten sich und dann den Alten an, der jetzt mit dem Trank in der Hand an das Bett trat. Er nickte mit dem ehrwürdigen grauen Haupte, als wollte er sagen: »Tut, was sie verlangt!«

Oldenburg wagte nicht zu widersprechen. Er nahm Melittas Arm und führte sie aus dem Zimmer. Die Uhr auf dem Kamin hakte zum Schlagen aus. Der Sensenmann drinnen machte sich bereit, aus seiner Höhle hervorzutreten.

Sie gingen in den Gartensaal zurück. Keines sprach ein Wort. Oldenburg warf sich am Kamin in einen Lehnsessel und starrte düster in die verglimmten Kohlen; Melittas Hand legte sich auf seine Schulter: »Adalbert!«

Er schaute fragend zu ihr empor.

»Nicht wahr, du reisest nicht fort?«

»Wenn du es nicht wünschest – nein!«

»Und willst du geduldig warten, bis – bis du mir auf den Grund der Seele schauen kannst?«

»Ja.«

»Gib mir die Hand darauf.«

Oldenburg drückte ihre Hand gegen sein Gesicht; sie fühlte seine Tränen fließen. Dann setzte sie sich ihm gegenüber und versank wie er in stilles Brüten.

Das Klingeln eines Schlittens unterbrach das Schweigen. Es war Doktor Balthasar. Oldenburg sagte dem alten Herrn, während er sich die Hände am Kaminfeuer wärmte, um was es sich handle.

»Hm! Hm!« sagte Doktor Balthasar. »Weiß schon, war schon damals herzkrank – rheumatisches Fieber – Reise bei dem Hundewetter – kommt nicht wieder auf – hm, hm – wo ist sie denn? – Wollen mal nachsehen.«

Als die drei sich zu gehen wandten, tat sich die Tür des Saales auf und der alte Baumann trat, Czika an der Hand, herein.

»Sie kommen zu spät!« sagte er zu Doktor Balthasar.

Melitta zog Czika unter lautem Weinen an ihr Herz.

»Hm, hm!« sagte Doktor Balthasar. »Alte Geschichte – immer gerufen, wenn nichts mehr zu tun ist – hm, hm – wollen mal nachsehen.«


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