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Vierundvierzigstes Kapitel

Die Aufregung in der Stadt nahm mit jedem Tage zu. Vergebens, daß man Truppen über Truppen ansammelte und Tag und Nacht in den Kasernen zum Gefecht bereit hielt; daß man jeden Volkshaufen mit bewaffneter Hand auseinandertrieb und die Schreier auf alle Weise einzuschüchtern suchte. Jeder Tag brachte neue und immer verhängnisvollere Unruhen; die Ansammlungen des Volks, besonders auf den weiten Plätzen in der Nähe des Schlosses, wurden immer bedrohlicher; immer öfter ertönte die aus gellendem Pfeifen und Hurrarufen eigentümlich komponierte Volksfanfare, und immer seltener konnte das durch wochenlangen überstrengen Dienst gegen das Volk erbitterte Militär diesem prickelnden Reizmittel widerstehen. Immer häufiger wurde auf jener Seite von den Pflastersteinen, die man schon hier und da aufzureißen begann, auf dieser von der blanken Waffe Gebrauch gemacht. Bereits war die Zahl der mehr oder weniger schwer Verwundeten, die in die öffentlichen Hospitäler abgeliefert waren, sehr bedeutend. Besonders verhängnisvoll war der letzte Tag gewesen. Eine Abteilung Gardekürassiere hatte, mit verhängten Zügeln und gezogener Waffe dahersprengend, einen Volkshaufen in eine der dem Schlosse benachbarten Straßen hineingetrieben, deren Ausgang von der andern Seite durch ein Pikett Dragoner besetzt war, die niemand durchließen. Eine Szene grauenhafter Verwirrung entstand in dieser von beiden Seiten zusammengequetschten Menge, in die die Reiter, links und rechts Säbelhiebe austeilend, erbarmungslos ihre Pferde hineinzwangen. In das Angstgeheul der Weiber und Kinder, in das Rachegeschrei der Männer mischten sich die Flüche der Soldaten, aber auch Drohungen und Verwünschungen, die ihnen aus den Fenstern der Häuser von friedlichen Menschen zugerufen wurden, die erst der Lärm in der Straße von ihrer Arbeit aufgeschreckt hatte. – So verbreitete sich die Bewegung in immer weiteren Kreisen, und selbst in den entferntesten Stadtteilen bildeten sich Gruppen auf den Straßen, als man erfuhr, daß auch die wegen ihres Leichtsinns verrufene Kaiserstadt an der Donau eine vollständige Revolution gemacht, daß auch dort das alte System gestürzt und der Vater der völkerberückenden Kabinettspolitik, der Altmeister, durch dessen erbärmliche Künste ein ganzes Menschenalter sich hatte gängeln lassen, aus seiner Herrscherstellung vertrieben sei. Man jauchzte diesen ungeheuren Taten, die noch einen Monat vorher die Sanguinischsten für unmöglich erklärt haben würden, tausendstimmigen Beifall zu und einer fragte den andern, ob man die schändlichen Mißhandlungen einer Kaste dulden solle, wenn es nur eines mutigen Entschlusses bedürfe, um Freiheit sind Gleichheit im Staate wiederherzustellen?

Während so nach und nach selbst die Gleichgültigsten in den Strudel der Revolution hineingezogen wurden, saß einer auf seinem Zimmer, unbekümmert um alles, was rings um ihn her vorging, in apathischer Regungslosigkeit.

Als Oswald gestern abend von seinem ziellosen Umherirren in den menschenüberfüllten Straßen nach Hause kam, das Zimmer leer und den Brief von Emiliens Bruder auf dem Tische fand, hatte er so laut aufgelacht, daß eine alte Dame, die die Zimmer nebenan bewohnte, aus ihrem ersten Schlaf aufgeweckt wurde. Dann hatte er sich auf das Sofa geworfen; er war zu abgespannt und müde, um zu Bett gehen zu können. Aber nach einiger Zeit fuhr er mit einem Schrei in die Höhe. Er war mit Emilien Arm in Arm am Rande eines Abgrunds, liebkosend und liebeflüsternd, einherspaziert; plötzlich war sie von seiner Seite in die Tiefe gestürzt, von Fels zu Fels, in schauderhafte Schlünde, aus denen ihr Jammern und Hilferufen bis zu ihm empordrang. Oswald suchte lange vergeblich das entsetzliche Bild loszuwerden, es hatte sich allzutief in sein überreiztes Gehirn geprägt. Er hätte gern im Schlaf Ruhe und Vergessenheit gesucht, aber obgleich er sich noch matter wie vorher fühlte, war doch die Müdigkeit ganz von ihm gewichen. Tausend Gedanken und Bilder jagten sich in regelloser Folge durch sein Hirn, ohne daß er imstande gewesen wäre, diesen tollen Spuk zu bannen. Er konnte nichts als untätig dem Treiben der Fiebergeister zusehen. Die Szenen der letzten Tage vermischten sich unaufhörlich mit Bildern aus der frühesten Jugend; und der große Herr, mit dem sie auf der letzten Station in einem Coupé gefahren, verwandelte sich urplötzlich in den alten Ausrufer seiner Vaterstadt, dessen Klingel für die Buben so anziehend gewesen war wie die Flöte des Rattenfängers von Hameln.

Gewaltsam raffte er sich aus diesem Zustand auf. Er zog die Glocke und bat, das Feuer, das ausgegangen war, wieder anzumachen. Dann setzte er sich an das Fenster und dachte an die ersten Abende in Paris, wo er in seiner bescheidenen Wohnung in dem fünften Stock eines Hauses im Quartier Latin mit Emilie am Kamin saß und sie sich gegenseitig gratulierten, endlich einmal »bei sich zu Hause« zu sein. Sie hatten sich über das Bedenkliche ihrer Lage mit Scherzen und Küssen hinwegzuhelfen gesucht und herrliche Pläne für die Zukunft geschmiedet. Aber aus der goldigen, hoffnungsreichen Zukunft war eine graue trostlose Gegenwart geworden; die Scherze waren verstummt, und die Küsse waren kälter und kälter geworden. Und dann kamen Abende, wo Oswald, verstimmt und mißmutig über vergebliche Wege zu Verlegern, die von seinen Manuskripten »keinen Gebrauch machen konnten«, nach Hause kam und Emilie in Tränen fand – in Tränen, von denen er sich sagen mußte, daß er und nur er allein sie verschuldet hatte. Dann kamen unselige Szenen, wo die Reue über die eigene Torheit sich hinter Anklagen des Wankelmutes und der Lieblosigkeit des anderen verbarg und in dem Hinüber und Herüber unfreundlicher Worte der Liebe zartes Blümlein mitleidslos zertreten ward. Und doch war es hier immer Emilie gewesen, die die Hand zur Versöhnung geboten hatte. »Ich mache dir keine Vorwürfe«, hatte sie dann oft gesagt, »ich wäre ganz glücklich, wenn ich nur sähe, daß du es bist. Aber daß du es nicht bist, durch meine Schuld nicht bist, das preßt mir Tränen aus.« Oswald hatte damals gezweifelt, daß sie die Wahrheit gesprochen – heute sagte ihm eine Stimme, daß es doch so war und daß sie ihn nie verlassen haben würde, wenn er nicht selbst sie von sich getrieben hätte. Er nahm den Brief, den er auf dem Tische gefunden, und starrte auf das: »Lieber, lieber Oswald« –, das von Emiliens zitternder Hand geschrieben und hernach von der andern Hand durchgestrichen war und auf die beiden Flecken auf dem Papier – die Spur der Tränen, die ihr die Trennung von ihm ausgepreßt hatte. Er ließ den Brief in die Flamme fallen und seufzte tief, als er sah, wie sie gierig das Blatt erfaßte und verzehrte und der Zugwind die schwarze Asche davonführte. So war auch das vorbei, vorbei!

Und wie er, den Kopf in die Hand gestützt, in die verglimmenden Kohlen starrte, fingen die Fiebergeister wieder an, ihre tollen Tänze zu tanzen. Bildschöne Gesichter sahen ihn an mit großen, liebevollen Augen und schnitten dann plötzlich eine häßliche Mohrenfratze; Direktor Klemens und Professor Snellius kamen gravitätisch einhergeschritten im wichtigen Gespräch, das sie auf einmal abbrachen, um eine übermütige Polka zu tanzen; Melitta, Helene und Emilie schwebten rosenbekränzt in einer goldenen Wolke hernieder, die zu einem Regen wurde, in dem die drei Hexen aus dem Macbeth ihre Schlangenhaare schüttelten. – So verging die lange, bange Nacht. Als die Dämmerung in die Fenster hereingraute, wurden die Fiebergeister blasser und immer blasser. Er öffnete das Fenster und ließ den kalten Morgenwind seine heißen Schläfen kühlen. Das erquickte ihn etwas; aber als es auf der Straße anfing, lebhafter zu werden, schloß er das Fenster wieder und ließ die Vorhänge herunter; er mochte von dem Leben, das er so haßte, nichts sehen und nichts hören.

In dem Hotel war Emiliens Flucht nicht eben aufgefallen. Der einzige, der etwas Genaueres von der Sache wußte, der Portier, fühlte im heimlichen Bewußtsein seiner Mitschuld keine Neigung, sich weiter darüber auszusprechen. Man glaubte also, wenn man überhaupt in diesen vielbewegten Tagen Zeit hatte, sich um solche Nebensachen zu bekümmern, daß die Dame nicht, wie man anfänglich gemeint, die Gemahlin, sondern die Schwester des Herrn, und der zweite Herr, der sie abgeholt, der Gemahl der Dame gewesen sei.

So nahm auch die Wirtin des Hotels, Frau Hauptmann Schwarz, an, als sie am Mittag des folgenden Tages sich bei Oswald melden ließ. Frau Hauptmann hatte die Gewohnheit, sich, wenn ihre Gäste drei Nächte unter ihrem Dache geschlafen, am vierten Tage persönlich nach ihrem Befinden und etwaigen Wünschen zu erkundigen, und auf diese Weise eine Art von persönlichem Verhältnis anzubahnen, wie es ihrem Herzen Bedürfnis war. Nun war Oswald freilich erst gestern abend gekommen, aber der junge Mann hatte in dem Blick seiner Augen und dem Ton seiner Sprache ein Etwas gehabt, das sie wunderbar an vergangene Zeiten und an ein Wesen mahnte, das sie sehr geliebt und dessen Verlust sie noch immer nicht verschmerzt hatte. Sodann kam er aus Frankreich, dem Lande, aus dem jene schöne, junge unglückliche Freundin gestammt, und wohin sie sich wahrscheinlich später gewandt hatte. Freilich, sie hatte nie wieder Nachricht von sich gegeben, das arme Mädchen, und so war es nicht eben wahrscheinlich, daß sie noch am Leben war, aber das hinderte die Frau Hauptmann nicht, sich jedesmal über die Ankunft eines neuen Franzosen in ihrem Hause ganz besonders zu freuen, weil ihr damit wenigstens die Möglichkeit gegeben schien, etwas über die Verlorene in Erfahrung zu bringen.

Wie erstaunt und betrübt war deshalb die gute Frau, als sie Oswald heute morgen so bleich und verfallen fand – ein Schatten nur noch des stattlichen Mannes von gestern abend. Er hatte eine schlechte Nacht gehabt? Freilich, das mußte eine recht böse, schlechte Nacht gewesen sein, die einen jungen Mann so herunterbringen konnte. Ob sie nach dem Doktor schicken solle? Nein? Aber eine Tasse Bouillon mit einem Ei abgerührt? Die gute alte Dame trippelte davon, um den Bouillon selber zu besorgen, den niemand so gut wie sie zu bereiten verstand. Und während sie in der Küche damit beschäftigt war, schüttelte sie einmal über das andere ihre graues Haupt, weil der Monsieur Oswald – so hatte sich der Fremde genannt – so sehr gut deutsch sprach und so recht krank und unglücklich schien und trotzdem der Verlorenen nur um so ähnlicher sah. Ihr kamen dabei die Tränen in die Augen, und sie nahm sich vor, selbst auf die Gefahr hin, indiskret zu werden, nach der Ursache seines Kummers zu fragen.

Mit diesem Vorsatze betrat sie abermals Oswalds Zimmer und fand den jungen Mann in derselben Stellung, wie sie ihn verlassen hatte, auf dem Sofa sitzend, die Arme über die Brust gekreuzt; die matten, schmerzlich starren Augen auf den alten französischen Kupferstich an der Wand gegenüber geheftet, der die an den Felsen gekettete und von dem Drachen bewachte Andromeda darstellt, zu deren Rettung Perseus mit dem Gorgohaupt durch die Lüfte herbeieilt. Er hatte das Bild heute morgen in der Dämmerung zuerst bemerkt, und bei dem mangelhaften Lichte lange gerätselt, was es wohl darstellen möchte, bis er es endlich, als es heller wurde, herausgebracht hatte. Das Bild war manieriert, wie alle Produkte der Zeit, in der es entstand. Die Andromeda war ein wenig zu klein geraten, ein Kind fast in dem Verhältnis zu dem sehr langen und sehr schlanken Heros, der, eben den Fuß auf den Felsen setzend, zum Schlage gegen das Ungeheuer ausholt, das ihn mit weitgeöffnetem Rachen anschnaubt und mit giftigen Basiliskenaugen anstiert. Dennoch war es nicht ohne Geist in der Konzeption und nicht ohne Feinheit in der Ausführung. Besonders war das Aufleuchten der Hoffnung in den kindlich schönen Zügen des Mädchens und der heroische Zorn in dem Antlitz des Jünglings vortrefflich wiedergegeben; und die Szenerie – ein einsamer Fels in dem grenzenlosen Meere, über dessen Horizont die Morgensonne aufsteigt, deren Strahlen über die Wellen fort bis an den Felsen zittern – hatte etwas von Claude Lorraines heiterer Kraft und Großheit. Oswald hatte mit einem Gefühl schmerzlicher Wehmut das Bild wieder und wieder betrachtet. Der schöne Sinn der alten Mythe, daß kühner Mut den, der ihn besitzt, mit Götterflügeln über Länder und Meere trägt, daß der Held mit dem Blick seiner Augen schon die Gefahr bändigt und schließlich nur ihm die holde Blume der Liebe und Schönheit auf rauhem Felsen in dem öden, unwirtlichen Meer des Lebens blüht – hatte ihn, den Mutlosen, den Träumer schmerzlich an alles erinnert, was er Liebes und Schönes im Leben schon besessen hatte, nur, um es nach so kurzer Zeit auf immer wieder zu verlieren.

Auch jetzt, während die Frau Hauptmann sich auf seine Bitte zu ihm gesetzt hatte, und ihm von der Aufregung, die in der Stadt herrsche, von den blutigen Szenen, die gestern abend gar nicht weit von ihnen, in der Brüderstraße, vorgefallen wären, von den Volksversammlungen unter den Zelten erzählte und über die schlimme Zeit klagte, wo alles drunter und drüber gehe und man zuletzt nicht mehr wisse, wer Koch und wer Kellner sei, richteten sich seine Augen wiederholt auf das Bild an der Wand. Die Frau Hauptmann bemerkte es und sagte:

»Ja! So sah es vor fünfundzwanzig Jahren auch aus. Es gehörte einem Landsmann von Ihnen, einem lieben, braven Herrn, der viele Jahre bei mir gewohnt hat und den ich wie eine Schwester liebhatte – das Bild ist noch hier, aber er –«

Hier seufzte sie so tief, daß Oswald, den das eigene Leid nicht für das Leid anderer abgestumpft hatte, mitleidig fragte:

»Er ist tot, der Herr, nicht wahr?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte die alte Dame, »er ist in die Welt hineingezogen, um ein Mädchen, das ich als mein Kind erzogen hatte – ein süßes, herziges Geschöpf –, vom Verderben zu retten; aber er ist nicht wiedergekommen, und sie ist nicht wiedergekommen, und ich beweine ihren Verlust, obgleich jetzt beinahe fünfundzwanzig Jahre darüber verflossen sind. Haben Sie, Monsieur – ach es ist eigentlich töricht, daß ich danach frage, aber möglich ist ja am Ende alles auf der Welt –, haben Sie je etwas von einer Mademoiselle Marie Montbert und einem Monsieur d'Estein gehört?«

Die alte Dame hatte diese Frage so oft getan und so oft nur ein kurzes non, Madame, zur Antwort erhalten, daß sie kaum Oswalds bedauerndes Achselzucken beobachtete und mit Lebhaftigkeit fortfuhr:

»Ach, ich dachte es wohl; niemand weiß mir etwas von ihnen zu sagen. Die Welt ist so groß und der Menschen sind so viele, und in dieser großen Welt und in dem Menschengetreibe, wie leicht sind da zwei Unglückliche vergessen und verschollen!«

Das Benehmen der alten Frau war bei aller Herzlichkeit so fein und würdig, die tiefliegenden, aber noch immer lebhaften Augen blickten so freundlich und sanft, und ihre Stimme klang so treu und so gut, daß Oswald sich wunderbar von ihr angemutet fühlte und sie mit einer Wärme, die ihm von Herzen kam, bat, ihm etwas Näheres von jenen beiden Personen mitzuteilen, deren unglückliches Schicksal sie nach so langer Zeit noch so schmerzlich beklagte.

Die Frau Hauptmann strich die schwarzseidene Schürze glatt und erzählte in schlichten Worten ihre Geschichte.

Ihr Gemahl, eine tapfere, aber überaus wüste und unbändige Natur, hatte sie durch seine Verschwendung schon Jahre vorher, ehe er bei Waterloo durch einen heldenmütigen Tod die Sünden seines Lebens quitt machte, gezwungen, für ihren Unterhalt selbst zu sorgen. Sie hatte in einem Hintergebäude des Hauses, dessen Herrin sie jetzt war, eine geräumige Wohnung innegehabt, von der sie den größeren Teil an einzelne Herren wieder vermietete. Immer hatte sie gesucht, mit ihren Abmietern auf einem freundschaftlichen, zum wenigsten guten Fuß zu stehen. Mit keinem war ihr das so gut gelungen als mit einem Herrn, namens d'Estein, dem Abkömmling einer Familie französischer Refugiés, der sich sein mühseliges Brot durch Unterrichtgeben in der unvergessenen Sprache seiner Heimat verdiente. Monsieur d'Estein war ein herzensguter, voller Schrullen steckender Hagestolz, der mit der ganzen Welt zerfallen war und mit jedem, der ihn darum bat, seinen letzten Bissen Brot teilte. Er hatte über alles seine ganz besonderen Ideen und trug sich fortwährend mit weltumstürzenden Plänen, während er dabei so harmlos wie eine Grille lebte.

Monsieur d'Estein hatte bereits mehrere Jahre bei ihr gewohnt und war ihr in dieser Zeit ein lieber treuer Freund geworden, dem sie ohne Bedenken ihre mancherlei Sorgen und Nöte klagen konnte, als eines Tages Monsieur Montbert, ein französischer Obrist, Monsieur d'Estein, seinen Verwandten, zu besuchen kam. Der Obrist war auf dem Wege nach Rußland – es war im Jahre 1812 – und er hatte ein Töchterchen von acht Jahren bei sich, ein liebliches Geschöpf, das der Obrist vielleicht um so zärtlicher liebte, als es sich nicht des Vorzuges einer legitimen Geburt erfreute und niemand auf der Welt hatte, der es liebte und beschützte, als den Vater, den die Kriegsstürme stets von einem Ende Europas nach dem andern fegten. Bis jetzt hatte er sie auf allen seinen Zügen bei sich gehabt: aber der sonst so tapfere Mann schauderte vor dem Gedanken, sein Kleinod den Gefahren einer Winterkampagne, deren Ausgang er ahnen mochte, preiszugeben, und die eigentliche Veranlassung seines diesmaligen Besuches – schon 1807 war er auf einige Monate in Berlin gewesen – war, Monsieur d'Estein zu bitten, solange der Feldzug dauere, die Sorge für die kleine Marie zu übernehmen, und wenn er nicht wiederkehren sollte – da waren die Familienpapiere, da war bar und in Wechseln das Vermögen, das er besaß und – die Freunde sahen sich in die Augen und drückten sich die Hände. Der Obrist küßte sein Töchterchen, versprach ihr, in einem Schlitten mit zwei Rentieren aus Rußland zurückzukommen, küßte sie noch einmal, rief: Adieu, mon cher! Adieu, ma petite! schwang sich auf sein Pferd und ritt davon.

Der Oberst Montbert machte sein Versprechen mit dem Rentierschlitten nicht wahr; sein Töchterchen wartete und wartete auf den Schlitten und den Vater, bis sie ein großes Mädchen war, aber Schlitten und Vater kamen nicht.

Marie war ein großes schönes Mädchen geworden, so schön, daß sie in der ganzen Nachbarschaft nur die schöne Marie hieß. Sie war auch ein gutes Mädchen, mit einem Herzen, das sich mit den Fröhlichen freuen und mit den Leidenden weinen konnte. Ihr einziger Fehler war eine allzu lebhafte Phantasie, ein Hang für das Außerordentliche, Wunderbare – das Erbteil ihres Vaters, des französischen Reiterobristen, dessen abenteuerlustiger, phantastischer Sinn, wie Monsieur d'Estein behauptete, nah an Wahnsinn gestreift hatte.

Der Frau Hauptmann und Monsieur verursachte die Charaktereigentümlichkeit ihres Pfleglings viel schwere Sorge, besonders Monsieur, dem bei seiner herben, nüchternen Sinnesart alles Phantastische ein Greuel war. Das Mädchen darf keine Zeit zum Träumen haben, pflegte er zu sagen; sie muß denken und handeln lernen. Sie muß in der schweren Prosa des Lebens ein Gegengewicht gegen ihre bunte Traumwelt haben. In spanischen Schlössern kann kein Mensch wohnen. Nach diesen Maximen entwarf er einen Erziehungsplan für die kleine Marie, dessen Zweckmäßigkeit Frau Hauptmann trotz der unbegrenzten Achtung, die sie vor Monsieurs Verstand und Charakter hatte, niemals recht einleuchten wollte. Marie sollte in den einfachsten Kleidern gehen wie die Kinder kleiner Handwerker; sie sollte jede häusliche Arbeit verrichten lernen, und als sie erwachsen war, trieb Monsieur die Konsequenz gar so weit, daß er sie zu einer achtbaren Putzmacherin in die Lehre gab – man konnte ja nicht wissen, ob ihr das in ihrem späteren Leben nicht noch recht nützlich würde. Frau Hauptmann schüttelte zu dem allem den Kopf; aber sie söhnte sich auch wieder mit Monsieurs Handlungsweise aus, wenn sie bedachte, wie gut er's doch meinte, und besonders, wenn sie sah, wie trefflich das Mädchen dabei gedieh, wie es mit jedem Tage klüger und schöner wurde und in seinem bescheidenen Kattunkleidchen und dem einfachen Strohhütchen feiner und vornehmer aussah wie eine Geheimratstochter.

Frau Hauptmann war stolz auf das Mädchen; sie selbst hatte nie Kinder gehabt, aber sie meinte, daß sie ein eigen Kind nicht mehr geliebt haben würde. Und war sie denn nicht des Kindes Mutter? Hatte sie es nicht in gesunden Tagen gehegt und in kranken gepflegt? Und hing es dafür nicht an ihr mit so zärtlicher Liebe, wie nur eine Tochter an ihrer Mutter hangen kann? Frau Hauptmann war ordentlich eifersüchtig auf diese Liebe; sie hatte so wenig Liebe in ihrem Leben erfahren und sah es gar nicht so ungern, daß Marie zu ihr offenbar mehr Vertrauen und Liebe hatte als zu ihrem Pflegevater. Aber dieser war seinerseits nicht weniger eifersüchtig; ja, es kam Frau Hauptmann manchmal vor, als ob Monsieur noch andere als väterliche Empfindungen gegen die schöne Nichte hege und als ob seine Erziehungsmethode, die Marie ganz in den kleinen Kreis der Häuslichkeiten bannte, nicht bloß durch pädagogische Rücksichten bestimmt sei. Monsieur war um diese Zeit erst vierzig Jahre alt. Es war dies kaum mehr als der Schatten eines Verdachtes, dem aber die folgenden Ereignisse Körper gaben.

Eines Abends – es war an einem Sonntag – kam Monsieur von dem Spaziergang, den er mit Marie in den Park gemacht hatte, sehr verstimmt nach Hause. Auch Marie schien aufgeregt und hatte die Spur von Tränen in ihren schönen Augen. Sie ging gleich nach dem Abendessen zu Bett, und Frau Hauptmann bat Monsieur nun so lange, zu erzählen, was sich ereignete, bis er ihr endlich willfahrte.

Marie und er waren in traulichen Gesprächen in den schattigen Gängen des Parks auf und ab gewandelt, und endlich in eine der Gartenrestaurationen getreten, weil Monsieur dem durstigen Kinde ein Glas Limonade reichen lassen wollte. Sie hatten kaum Platz genommen, als zwei Herren, die vorher weiter weg gesessen hatten, sich an dem Tischchen dicht neben ihnen niederließen. Monsieur, der den Herren den Rücken zukehrte, beachtete sie nicht weiter und wurde erst auf sie aufmerksam, als er sah, daß Marie, während er mit ihr sprach, einen halb verlegenen, halb neugierigen Blick neben ihm vorbei nach jener Richtung warf. Er wandte sich um, zu sehen, was es gäbe. Es war ein auffallend schöner Mann – Monsieur konnte das trotz all seines Ärgers nicht leugnen –, eine hohe, ritterliche Gestalt, ein herrlicher Kopf, ein edles, wenn auch etwas verwüstetes Gesicht, große, dunkelblaue Augen, die vornehm und freundlich zugleich blickten, als der Herr jetzt den Hut ziehend, in sehr gutem Französisch – Monsieur und Marie hatten, wie gewöhnlich, französisch gesprochen – fragte, ob es ihm und seinem Begleiter vergönnt sei, sich der Gesellschaft von Monsieur und Mademoiselle anzuschließen? Nun war Monsieur der höflichste Mensch von der Welt; aber, behauptete er, es habe in dem Wesen des vornehmen Herrn ein Etwas gelegen, das ihn sofort mit tiefem Widerwillen gegen ihn erfüllte, und er habe deshalb kurz und trocken geantwortet, daß er und Mademoiselle vorzögen, allein zu bleiben. Es hatte darauf einen kurzen Wortwechsel zwischen ihm und dem Fremden gegeben, der damit endete, daß er selbst aufstand und, um der Sache ein Ende zu machen, Marie aus dem Garten führte.

Von diesem Abend an datierte sich eine merkliche Veränderung in Mariens Benehmen. Sie, die sonst so Heitere, Gleichmütige, ließ das Köpfchen hangen, war bald blaß und bald rot, bald ausgelassen lustig, bald zum Sterben traurig – weder Monsieur noch Frau Hauptmann wußten, was sie daraus machen sollten. Zu allem Unglück wurde Monsieur in der Zeit so krank, daß er das Zimmer hüten mußte und infolgedessen die Pflege der Frau Hauptmann mehr wie gewöhnlich in Anspruch nahm, so daß Marie sich vielfach selbst überlassen blieb. Sonst hatte sie Monsieur regelmäßig des Abends aus dem Atelier, in welchem sie arbeitete, abgeholt, jetzt mußte sie den Weg allein machen. Was nun während dieser Zeit geschehen, in welche Schlingen das arme unglückliche Mädchen gefallen ist – Frau Hauptmann hatte es nie erfahren. Aber eines Morgens, als sie die Kleine wecken wollte, fand sie das Zimmer leer und auf dem Tisch ein Briefchen, in dem die Unglückliche schrieb, daß Gründe, über die sie sich nicht näher erklären dürfe, sie zwängen, die Stadt zu verlassen; daß sie ihre Wohltäter mit tausend Tränen um Verzeihung bitte, wenn sie ihnen jetzt ihre Liebe nur mit scheinbarer Undankbarkeit lohne; daß sie aber zu Gott hoffe, es werde bald ein Tag kommen, wo all dieses Leid sich in Freude verwandele.

Dieser Tag war nie gekommen, dafür hatte sich für die arme Frau Leid auf Leid gehäuft. Monsieur war über die Nachricht von Mariens Flucht beinahe wahnsinnig geworden und hatte mit furchtbarem Eid geschworen, daß er von dieser Stunde an nicht ruhen und nicht rasten wollte, bis er Marien aus den Händen des schändlichen Verführers befreit und sich persönlich an ihm gerächt habe. Monsieur d'Estein war der Mann, sein Wort zu halten. In dem kleinen, schwächlichen Körper lebte ein energischer Geist. Das zeigte sich jetzt, wo eine freche Hand das Glück seines Lebens grausam zerstört hatte. Denn die Frau Hauptmann konnte nicht länger zweifeln, daß der sonderbare Mann die Verlorene mit all der Leidenschaft, die so verschlossenen, wunderlichen Naturen eigentümlich ist, geliebt habe. Er betrieb die Nachforschungen mit einer rastlosen Tätigkeit, die von Erfolg gekrönt war. Er hatte die rechte Spur gefunden. Wohin sie führte? – – Er sprach sich darüber nicht aus, wie er denn überhaupt die ganze Angelegenheit selbst vor seiner alten Freundin in tiefes Geheimnis hüllte. Er packte in seinen Koffer, was er zu einer längeren Reise brauchte, riß sich von der Weinenden los, mit dem Versprechen, in acht Tagen spätestens Nachricht von sich zu geben – aber seitdem waren nun beinahe fünfundzwanzig Jahre vergangen, und Frau Hauptmann wartete noch immer, daß Monsieur sein Versprechen erfüllte.

Die alte Dame hatte, in ihre Erinnerungen verloren, ganz vergessen, daß es nicht sowohl ihre Absicht gewesen, das eigene Leid zu klagen, als das des jungen Fremden in Erfahrung zu bringen; und sie wurde erst durch die Blässe von Oswalds Gesicht, die, während ihrer Erzählung nur immer zugenommen hatte, daran erinnert.

»Aber Sie sind wirklich kränker als Sie glauben, lieber junger Herr«, unterbrach sie sich. »Ihre Hand ist glühend heiß und – verzeihen Sie einer alten Frau! – Ihre Stirn brennt. Erlauben Sie mir, daß ich nach unserm Arzt schicke!«

»Bitte, lassen Sie das!« sagte Oswald, sich gewaltsam emporraffend, »ich will Ihnen gestehen, ich bin die ganze Nacht schlaflos gewesen, wahrscheinlich aus übergroßer Abspannung infolge der langen Reise.«

»So legen Sie sich wenigstens jetzt noch einige Stunden hin!« bat die alte Dame. »Ich weiß es wohl: die Jugend kann des Schlafes nicht entbehren, wie wir alten Leute.«

»Das will ich«, sagte Oswald, während sich Frau Hauptmann erhob. »Sie sollen sehen: der Schlaf macht alles wieder gut.«

»Das gebe Gott«, erwiderte die alte Dame, Oswald noch einmal freundlich die Hand drückend, »bitte, bitte, keinen Schritt weiter! Ich werde nach einigen Stunden wieder anfragen.«

Die Tür hatte sich kaum hinter der Frau Hauptmann geschlossen, als Oswald wie vernichtet in den Sofa zurücksank.

Was hatte er eben gehört! Daß dies die Fortsetzung der Geschichte sei, die ihm im vorigen Sommer die alte Mutter Clausen in Grenwitz erzählt hatte – an jenem Abend, als er mit Timm in ihrer Hütte Schutz vor dem Regen suchte –, daran hatte er schon nach den ersten Worten der Frau Hauptmann nicht mehr gezweifelt. Stimmten doch alle Umstände! – So, genauso, wie die alte Dame den fremden Kavalier geschildert hatte, blickte noch heute das Porträt des Barons Harald von Grenwitz aus seinem breiten Goldrahmen; und hatte nicht das arme schöne Mädchen, die unglückliche Verführte, Marie geheißen, wie die Pflegetochter des Monsieur d'Estein!

Aber das war es nicht, was ihm jetzt das Blut erstarren machte und alle seine Glieder wie im Fieber schüttelte. Es war eine andere, furchtbare Ahnung, die aus den Tiefen seiner Seele mit dämonischer Gewalt heraufstieg. Oder waren es auch nur die Fiebergeister, die am lichten Tage ihren schauerlichen Spuk von neuem begannen? War es Wahnsinn, daß in seiner erhitzten Phantasie aus dem Monsieur d'Estein, dem grillenhaften französischen Sprachmeister, sein Vater, der alte wunderliche Mann wurde? Und aus der schönen Tochter des französischen Obristen die schöne junge Frau mit den holdseligen Augen, um deren Knie er als Kind an hellen Sommermorgen in dem lauschigen Garten hinter der Stadtmauer gespielt hatte, während die weißen Schmetterlinge sich über dem blauen Rittersporn wiegten?

Und in immer wilderer Hast jagten sich die tollen Gedanken. Alte, längst vergessene Eindrücke erwachten und gaben deutliche Antwort über die Kluft der Jahre hinweg; seltsame, Zweifel, mit denen sich der Knabe, der Jüngling getragen hatte, kamen wieder und sagten: Du hast ja nun die Lösung! So vieles Unerklärliche in seinem Leben zeigte auf einmal den tiefen verborgenen Sinn. Nicht greisenhafte Schwäche war es also gewesen, was die alte Mutter Clausen trieb, in seinem Gesicht fortwährend nach den Zügen des Barons Oskar zu suchen, »der mit dem Wodan stürzte«, und nicht eine phantastische Laune, daß Albert Timm erklärte: Sie haben das leibhaftige Gottseibeiunsgesicht der Grenwitzer Barone!

Oswald sprang vom Sofa auf nach dem Spiegel. Ein totenbleiches Gesicht mit unheimlich leuchtenden Augen stierte ihn an: Sieh da! Ist der böse Geist noch immer nicht zur Ruhe? Sind ihm noch nicht genug Opfer gefallen? Erzeugt er sich in seinen Opfern immer wieder? Kann der Vampir nicht an seinen eigenen Blicken sterben? Eine Kugel? Was? So gerade über den pochenden Schläfen ins fieberhafte Hirn – sollte die dem Spuk nicht ein Ende machen? Doch, das ist der rechte Tod nicht, sagt Berger; ist nur Tausch. Was bringt denn den rechten Tod, aus dem die Seele nimmer wieder zu diesem gottverfluchten Dasein erwacht? Oswald fuhr mit einem Schrei zusammen – eine Hand erfaßte seinen Arm und über die Schulter des Spiegelbildes weg schaute eine höhnisch lachende Fratze ihn an.

»Hoho!« sagte Albert Timm. »Willst du unter die Komödianten, Dottore, daß du vor dem Spiegel stehst und Monologe deklamierst, die einem ehrlichen Menschen eine Gänsehaut verursachen könnten? Gottverfluchtes Dasein? Laß dich doch mal bei Licht besehen, Schatz! In der Tat! Du siehst bedenklich aus! Die kleine Emilie, he? Sei froh, daß sie fort ist, bevor sie dich zum Schatten deines Schattens machte! Du siehst, ich weiß alles und weiß noch ein gut Teil mehr, was, wenn du's hörst, dir wieder Lust zum Leben beibringen soll, du melancholischer Dänenprinz, du! Aber, bevor ich mein Wissen auskrame – laß eine Flasche Portwein kommen oder dergleichen; ich bin heute morgen noch so trocken wie ein Stockfisch.«

Albert Timm wartete Oswalds Antwort nicht ab, sondern klingelte selbst und bestellte Portwein und Kaviar. »Haben keinen? Gehen Sie in den ›Dustern Keller‹, gleich um die Ecke. Mann, nicht drei Schritt von hier. Machen Sie eine Empfehlung von Albert Timm an Frau Rosalie Pape und kommen Sie im Fluge zurück, Sie blondgelockter Jüngling!«

Herrn Timms Behauptung, daß er heute morgen noch nichts getrunken habe, war offenbar erlogen. Er verbreitete einen sehr merkwürdigen Duft von Spirituosen um sich her, sein Gesicht war stark gerötet und seine Augen weniger hell als sonst. Seine Wäsche war noch unsauberer als gewöhnlich, und der braune Überrock hatte mit verschiedenen weißen Wänden und schmutzigen Tischen allzunahe Bekanntschaft gemacht. Herrn Timms Umstände hatten sich, seit ihn Oswald zum letztenmal sah, augenscheinlich bedeutend verschlechtert.

Er stellte das auch gar nicht in Abrede, im Gegenteil, er hob unaufgefordert den Schleier von dem reizlosen Bilde seiner letzten Monate.

»Das Pech hat mich auf Schritt und Tritt verfolgt«, rief er, sich auf das Sofa werfend und die Beine von sich streckend. »In dem Augenblick, als ich die Entdeckung gemacht hatte, die ich dir mitteilen werde, sobald der Wein getrunken sein wird, verschwandest du spurlos aus Sundin. Am nächsten Tage hob die Polizei unseren Klub auf, als wir beim Pharao saßen, und konfiszierte – ich hielt gerade Bank – meine ganze Barschaft von einigen hundert Talern, die ich um so nötiger brauchte, als am nächsten Morgen ein Wechsel von ebenfalls einigen hundert Talern fällig war, den ich natürlich nun nicht bezahlen konnte. Der verdammte Manichäer ließ mich ins Loch sperren, wo ich denn bis vor acht Tagen etwa gesessen habe. Wie ich losgekommen bin? Mein Wirt – lassen wir das! Ich stehe wieder auf freien Füßen, und da kommen der Wein und der Kaviar. Hier, Oswald, tu mir Bescheid! Es lebe, wer sich tapfer hält! Kerl, ich sage dir, ich bin außer mir vor Freude, daß ich dich so bald aufgetrieben habe. Ich hatte mich schon auf eine lange Jagd gefaßt gemacht. Und nun will ich dir eine Geschichte erzählen, daß du vor Verwunderung die Hände über den Kopf zusammenschlagen und vor Staunen aus der Haut fahren sollst. Jawohl, aus der Haut! Denn du mußt den ganzen miserablen Menschen, als welchen ich dich hier vor mir sehe, aus- und den andern anziehen, so ich für dich ohne alle dein Verdienst und Würdigkeit bloß aus purer Freundschaft mit saurer Mühe bereitet habe. Und nun noch einen Schluck und dann ans Werk!«

Herr Timm schob den Teller, den er unterdessen geleert hatte, von sich, stürzte ein volles Glas hinunter, schenkte sich wieder ein, holte aus der Tasche ein Bündel Papiere, die er vor sich auf den Tisch legte, stemmte die beiden Arme auf, lachte Oswald an und sagte:

»Was gibst du mir, mon cher, wenn ich dich nun so nolens volens aus einem armen Schlucker zu dem Sohne eines Barons mit nebenbei einem Erbe von zirka fünfzehn- bis zwanzigtausend jährlicher Rente mache? Aber ich sehe, du bist wirklich etwas stark angegriffen. Ich will dich nicht länger auf die Folter spannen. Höre!«

Daß Timm ihm die Bestätigung seiner Ahnung brachte, ihm gleichsam schwarz auf weiß bewies, daß er nicht geträumt habe, jede ausschweifende Phantasie durch ein schriftliches Dokument zu einem Faktum machte, das sich vor Gericht beweisen ließ – Oswalds bis zum Wahnsinn überreiztes Gehirn sah in dem allen nichts Außerordentliches. Da waren die Familienpapiere Marie Montberts. Ihr eigentlicher Name war der ihrer deutschen Mutter, Marie Herzog, die, nach Paris verschlagen, dort die Geliebte des Obristen Montbert geworden war. Und Herzog, das wußte Oswald, war der Familienname seiner Mutter. Hier war – durch Timms unermüdliche Tätigkeit und geheimnisvolle Konnexionen herbeigeschafft – eine Abschrift aus dem Kirchenbuche über die am 1. Dezember 1823 in der St. Marienkirche stattgehabte Trauung des Herrn d'Estein, genannt Stein, und der Marie Elisabeth Herzog. Und dann hier die Abschrift eines Taufzeugnisses: Am 22. Dezember 1823 wurde dem Herrn Amadeus Stein und seiner Ehefrau Marie, geborene Herzog, ein Sohn geboren, der in der heiligen Taufe, den 23. Januar 1824, den Namen Oswald empfing. Hier waren die Briefe, die Marie an den Baron gerichtet; hier ein Brief Herrn d'Esteins an Marie aus dem Sommer desselben Jahres, worin er ihr schreibt, daß er endlich ihren Aufenthalt in Grenwitz erfahren; sie bei ihrer Seelen Seligkeit beschwört, ihm zu folgen, daß er alles zur Flucht bereit habe.

»Du siehst, es stimmt alles aufs Haar«, sagte Timm, nachdem er mit vielem Scharfsinn alle Fäden der verwickelten Angelegenheit entwirrt und zu einem festen Gewebe vereinigt hatte, »die Identität der Personen kann durch Dokumente und durch Zeugen zugleich bewiesen werden, und das Zeugnis der Frau Rosalie Pape, die deine Mutter verkuppelt hat und hernach bei deiner Geburt und bei deiner Taufe zugegen gewesen ist, schnellt alle möglichen Pfiffe und Kniffe der Gegenpartei in die Luft. Zwar wird das Weib ein Zeugnis, das es in der Tat einigermaßen kompromittiert, nicht gern hergeben, aber für Geld kann man den Teufel tanzen sehen. Also deshalb habe ich keine Sorge. Meine einzige Sorge ist, daß du die Sache nicht mit der nötigen Energie betreiben wirst. Ich will dir nur gestehen: Ich fürchtete das bei den einigermaßen verrückten Ansichten, die du über manche Dinge hast, so daß ich im Anfang ganz und gar zweifelte, ob es sich überhaupt der Mühe verlohne, dir von meiner Entdeckung Mitteilung zu machen, und ich infolgedessen gegen die Baronin einige Winke fallen ließ, die aber nicht sehr gnädig aufgenommen wurden.«

»Mit einem Worte«, sagte Oswald, und er wurde noch blasser, als er es schon war, »du hast die Entdeckung an die Baronin verkaufen wollen, und sie hat dir nicht den Preis bezahlt, den du fordertest.«

»Sieh, sieh!« sagte Albert mit aufrichtiger Bewunderung. »Du entwickelst da einen Sinn für Geschäfte, den ich dir gar nicht zugetraut hätte. Nun, nimm an, die Sache sei so, wie du sagst. Das kann und wird dich nicht hindern, von deinem guten Rechte Gebrauch zu machen. Aber, Freundchen, periculum in mora! Wenn du nicht bloß der Neffe, sondern der Schwiegersohn Anna-Marias werden willst, mußt du dich beeilen. Es ist so gekommen, wie ich dir schon im Winter sagte, daß es kommen würde. Helene hat sich mit dem Fürsten Waldernberg versprochen; die öffentliche Verlobung soll in diesen Tagen stattfinden und zwar hier. Anna-Maria ist gestern abend angekommen und im Hotel Waldernberg bei der alten Fürstin Letbus, der Mutter Seiner Durchlaucht, abgestiegen. Nun habe ich, um in dem feindlichen Lager die nötige Verwirrung zu bereiten, die unsern Angriff unterstützen soll, bereits eine herrliche Mine gegraben, die noch heute platzen muß. Ich bin wie von meinem Leben überzeugt, daß Helene den Fürsten nicht liebt und daß sie noch im letzten Augenblick nein sagen würde, wenn sie wüßte, daß du ihr Vetter bist und sie das Vermögen, das sie durch ihre Vetterschaft verliert, aus den Händen des Gemahls zurückerhalten kann. Daß die Sache sich aber so verhält, wird sie nur einem Menschen auf Erden glauben, und dieser Mensch bist du selbst. Oswald, bedenke, was auf dem Spiel steht. Ein einziger mutiger Schritt – und das Mädchen, das du – leugne es nicht! – zum Rasendwerden liebst, ist dein! Ein Vermögen, das deine kühnsten Wünsche übersteigt, ist dein! Du hast mit einem Schlage alles, wonach andere jahrelang vergeblich rennen, wofür sie, wenn sie die Chance hätten, ohne sich lange zu besinnen, ihr Leben einsetzen würden! Die Überraschung bewirkt Wunder. Fahre nach dem Hotel Waldernberg in der Wilhelmstraße; laß dich bei der jungen Baroneß melden! Sag ihr, wenn es sein muß, in Gegenwart der Mutter, nicht, daß du sie heiraten willst – denn das versteht sich hernach von selbst –, sondern, daß du jetzt unter den und den Umständen die Entdeckung gemacht hast, und ich will meinen eigenen Kopf fressen, wenn dir das Mädel nicht um den Hals fällt und ihren Fürsten zum Teufel schickt.«

Albert hatte sich darauf gefaßt gemacht, diesen abenteuerlichen Plan von dem zaghafteren Oswald zuerst auf das entschiedenste verworfen und im besten Falle erst nach langer Debatte angenommen zu sehen. Wie freudig war er deshalb überrascht, als jener, der während der ganzen Verhandlung, den Kopf in die Hand gestützt, schweigend dagesessen hatte, jetzt sich erhob und sagte:

»Du hast recht. Es gibt nur das eine Mittel. Ich muß selber hingehen und zwar sogleich.«

»Bruderherz!« rief Timm aufspringend und Oswald mit Heftigkeit umarmend. »Das ist das vernünftigste Wort, das du in deinem Leben gesprochen hast.«

Oswald machte sich mit einem Schauder, der dem aufgeregten Timm entging, aus dieser Umarmung los.

»Laß mich jetzt allein«, sagte er, »ich bin, wie du dir denken kannst, von dieser Unterredung angegriffen. Ich muß mich zu der Szene, die mir bevorsteht, sammeln.«

»Um Himmels willen, nur keine neuen Bedenken!« rief Timm. »Frische Fische, gute Fische! Ich fürchte, sobald ich dir den Rücken kehre, fallen dir tausend Aber ein.«

»Ich gebe dir mein Wort, daß ich noch in dieser Stunde hingehen werde. Die Papiere läßt du doch hier? Ich könnte sie der Baronin gegenüber gebrauchen.«

Albert warf einen mißtrauischen Blick auf Oswald. Er gab die Papiere ungern aus der Hand. Wenn Oswald falsch spielte, wenn – aber es war keine Zeit sich lange zu bedenken. Und in Oswalds Wesen lag ein Etwas, das jeden Widerspruch gewagt erscheinen ließ – eine Entschiedenheit in dem festgeschlossenen blassen Munde, ein düsteres Feuer in den großen Augen – Timm hatte ihn so noch nie gesehen. Es war nicht mehr der alte wankelmütige Oswald Stein, es war der Sohn Haralds von Grenwitz, der da vor ihm stand.

»Meinetwegen«, sagte er, »mache, was du willst. Ich sehe wohl, daß du zum Äußersten entschlossen bist. Aber, Oswald, wenn der große Wurf gelingt, und jetzt zweifle ich nicht mehr, daß er gelingt – vergiß nicht den, der dir die Würfel in die Hand gedrückt hat.«

»Sei überzeugt«, sagte Oswald mit einem unheimlichen Lächeln, »daß du in dieser Angelegenheit, was den materiellen Vorteil betrifft, nicht schlechter fahren sollst als ich selbst.«

Albert Timm wollte Oswald noch einmal umarmen. Der indessen machte eine ungeduldig abwehrende Bewegung. »Na, ich sehe«, sagte Albert ohne alle Empfindlichkeit, »du bist schon mitten in deiner Rolle. Ich will dich nicht länger aufhalten. Adieu, Oswald! Mache deine Sache gut! Es ist jetzt drei Uhr. Ich komme um vier wieder und frage, wie es abgelaufen ist. Adieu solange!«

Oswald ging, als Albert fort war, mit langsamen Schritten im Zimmer auf und ab. Dann trat er vor den Kupferstich und betrachtete ihn lange mit starren Augen. »Es ist zu spät«, murmelte er, »ich kann ihr Retter nicht werden, kann sie nicht mehr befreien von dem Felsen, an den das Schicksal sie geschmiedet. Aber sehen will ich sie noch einmal und mein Andenken von der Schmach reinigen, die dieser Schurke auf mich gehäuft hat. Sie soll nicht glauben, daß ich mich je unwürdiger Mittel bedienen konnte.«

Er trat an den Tisch und legte die Papiere zusammen. Dann fing er an, sich zu dem Gange, den er vorhatte, anzukleiden. Er kam nicht schnell damit zustande. Seine Glieder waren wie abgestorben; er mußte sich mehrmals hinsetzen, um einen Anfall von Schwindel vorübergehen zu lassen. Endlich war er fertig. Er steckte die Papiere in die Tasche und verließ das Zimmer.


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