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Fünftes Kapitel

Oswald hatte, nachdem er mit Franz in dem eleganten Kurhause von Fichtenau gastliche Aufnahme gefunden, dem Verlangen, die kleine Czika noch heute abend aufzusuchen, nicht widerstehen können. Er hoffte von der braunen Gräfin zu erfahren, wie sie in diese wunderliche Gesellschaft geraten sei, und zugleich sie zu bereden, entweder zu Oldenburg zurückzukehren oder ihm doch wenigstens das Kind zu überlassen. Er glaubte durch Klugheit bewirken zu können, was der Heftigkeit des Barons unmöglich gewesen war, um so mehr als die braune Gräfin ihm wohlzuwollen schien, und die kleine Czika offenbar zu ihm größeres Vertrauen hatte als zu dem »andern«, der ihr Vater war. Überdies fühlte er eine persönliche Zuneigung zu dem schönen Kinde und der Zigeunerin, die ihm an jenem verhängnisvollen Nachmittage, als er sich auf dem Wege zu Melitta im Walde verirrte, zuerst begegnet waren und so gleichsam sein Verhältnis zu Melitta vermittelt hatten. Hernach waren sie wieder auf so seltsame Weise in seine Bekanntschaft mit Oldenburg verflochten worden. Und dann war es noch ein anderes Gefühl, was Oswald zu raschem Handeln trieb. Die Dankbarkeit, zu der ihn Oldenburgs ritterliche Hilfe bei Brunos Tod und in dem Duell mit Felix verpflichtet hatte, drückte ihn. Er mochte einem Manne nicht verpflichtet sein, gegen den er von vornherein eine fast instinktive Abneigung empfunden, den er hernach während seiner Liebe zu Melitta als seinen Nebenbuhler gefürchtet hatte; einem Manne, dessen kühne Kraft seinem schwankenden Geiste, sosehr er sich dagegen sträubte, gewaltig imponierte, und den er dennoch – der Himmel weiß, mit welchem Recht! – der Charakterlosigkeit und Zweideutigkeit des Betragens zieh; ja, von dem er, wenn Oldenburgs und Melittas Verhältnis dem Bilde entsprach, das die Barnewitz und andere Gebärdenspäher und Geschichtenträger davon entwarfen – während der ganzen Zeit auf die demütigendste Weise düpiert war. Gelang es ihm jetzt, diesem befreundeten Feinde einen großen Dienst zu leisten, ihm sein Kind, das er schon verloren gegeben hatte, wieder zuzuführen – so war die drückende Schuld der Dankbarkeit abgetragen, so war die Rechnung quitt, und Oswald Stein brauchte vor dem Baron Oldenburg nicht die Augen beschämt niederzuschlagen!

Diese Gedanken und Empfindungen erfüllten Oswalds Seele, während er in Begleitung des Hausknechtes aus dem Kurhause durch die stillen Straßen des Städtchens nach der »Grünen Mütze« schritt, die ihm von Franz als das Hauptquartier der Seiltänzer bezeichnet worden war. Franz selbst war im Kurhause zurückgeblieben, da er zu diskret war, sich in ein Geheimnis zu drängen, das man vor ihm verbergen zu wollen schien. Oswald hatte nämlich, als er ihm lachend erzählte, wie er es angefangen habe, den Leuten die wunderliche Szene mit dem Seiltänzerkinde zu erklären, ein Schweigen beobachtet, das Franz kaum anders auslegen konnte, als: sein Gefährte wolle oder dürfe über diese Angelegenheit sich nicht weiter auslassen. Er hatte deshalb, als Oswald bemerkte, es sei heute abend wohl schon zu spät geworden, um Berger noch aufzusuchen, bloß: Ich glaube auch! geantwortet und Oswald seine Begleitung nicht angeboten, als dieser, nachdem er eine Viertelstunde lang schweigend in dem Zimmer auf und ab gegangen war, erklärte, noch eine Promenade in der Abendkühle machen zu wollen. Franz fügte sich in die Launen seines launenhaften Gefährten um so leichter, als er in diesem Augenblicke mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt war. Er hatte gehofft, in Fichtenau einen Brief seiner Braut vorzufinden, sich aber in seiner Erwartung getäuscht gesehen. Das Ausbleiben des Briefes erfüllte ihn mit einiger Sorge, um so mehr, als Sophie sonst sehr pünktlich zu schreiben pflegte und ihre Ankunft in Fichtenau sich überdies schon um einige Tage verspätet hatte. Er tröstete sich mit der Hoffnung, daß die letzte Post, die, wie man ihm sagte, jeden Augenblick eintreffen müsse, den sehnlichst erwarteten Brief bringen würde.

Unterdessen erreichte Oswald das Haus gerade in dem Augenblicke, als es einen Teil seines krausen Inhaltes durch die offene Haustür auf die Straße entsandte, wo der Massenkampf, der bis dahin auf dem Flur gewütet, sich in einzelne Gruppen aufzulösen begann, die, den Trümmern eines umhergestreuten Scheiterhaufens gleich, noch für einen Moment um so heller aufflackerten, um im nächsten aus Mangel an Nahrung zu verlöschen. Der Friede wurde um so leichter hergestellt, als eigentlich niemand so recht wußte, weshalb man sich überhaupt mit solcher Wut befehdet, und es für nichts und wieder nichts gerade genug blaue Augen und rote Striemen gegeben hatte. Freilich war die Aufregung noch immer groß und der Lärm noch immer laut genug, aber es war das nur die Brandung des Meeres nach dem Sturm – hohe Wellen, deren beste Kraft schon gebrochen ist. Man fluchte und schimpfte, man drohte und prahlte – aber man setzte sich wieder und ertränkte den Rest der Feindseligkeiten in Bier.

Die Sorge um Czika hatte bei Oswald den Widerwillen, den ihm unter anderen Umständen diese wüsten Szenen eingeflößt hätten, kaum aufkommen lassen; glücklicherweise sah er weder sie noch Xenobi in diesem Wirrwarr, aber schon der Gedanke, daß die beiden in ein solches Pandämonium geschleudert seien, war ihm entsetzlich und befestigte in ihm den Entschluß, sie, es koste, was es wolle, daraus zu erlösen. Er drängte sich durch die Streitenden und Scheltenden, die seiner gar nicht achteten, hindurch, sich bei diesem, bei jenem nach der Ursache des Streites und nach der Zigeunerin und ihrem Kinde erkundigend. Niemand hatte Zeit oder Lust, ihm Rede zu stehen, bis er sich endlich zufällig an einen jungen Menschen wandte, der etwas weniger wüst als die übrige Gesellschaft aussah und der ihm erzählte: Es seien ein paar von der Seiltänzerbande davongelaufen – eine Zigeunerin mit ihrem Kinde – und darüber sei die Schlägerei entstanden. Übrigens sei der Mann, der sich eben das Blut aus dem Gesicht wischte und so lebhaft gestikulierte, der Direktor der Truppe und an den möge sich der Herr nur wenden, wenn er noch mehr wissen wolle.

Oswald atmete bei diesen Worten des jungen Menschen hoch auf. Xenobi und Czika waren fort, gleichviel, wohin, wenn sie nur aus dieser Hölle erlöst waren. Er überlegte einen Augenblick, ob es nicht geratener sei, umzukehren, ohne sich mit den Seiltänzern weiter einzulassen; aber das Verlangen, mehr zu erfahren – vielleicht den Ort, wohin sich Xenobi möglicherweise gewendet haben könnte, überwand diese Bedenken, und er trat auf die Person zu, die ihm als der Chef der Gesellschaft bezeichnet war.

Herr Direktor Schmenckel besaß, sobald sich nur der erste Sturm der Leidenschaft gelegt hatte, in einem hohen Grade jene philosophische Resignation, die sich in das Unvermeidliche mit Würde schickt und zu einem schlechten Spiel möglichst gute Miene macht. Da die Zigeunerin einmal weg war, so konnte er sich durch Lamentieren darüber nur noch lächerlich machen, und einem edlen Charakter ziemt es, zu vergessen und zu vergeben. Er tat deshalb, als ob nichts geschehen sei, was er nicht schon längst erwartet hätte. »Undankbarkeit ist der Welt Lohn. – Wie gewonnen, so zerronnen. – Heute mir, morgen dir! – Lassen's uns wieder niedersetzen, ihr Herren – Direktor Schmenckel läßt sich durch so etwas nicht aus der Fassung bringen – wir haben noch andere Mittel, ein hochgeschätztes Publikum zu unterhalten, und Sie sollen sehen, daß die Vorstellung, die ich morgen mit hoher obrigkeitlicher Bewilligung – Was beliebt dem Herrn? Wünschen mich zu sprechen? Steh' zu Diensten – Ein Direktor muß immer auf dem Platze sein –« und Herr Schmenckel folgte Oswald um so lieber, als die Erscheinung eines elegant gekleideten Herrn ein Umstand war, der nicht verfehlen konnte, einiges Aufsehen zu erregen. »Was befehlen Euer Gnaden«, fragte Herr Schmenckel, als sie draußen waren.

»Ich wollte Sie bitten, mir womöglich über die Zigeunerin, die, wie ich höre, sich erst heute abend von Ihrer Gesellschaft entfernt hat, einige Auskunft zu geben«, erwiderte Oswald.

Herr Schmenckel stutzte; die Frage kam ihm verdächtig vor; er warf bei dem trüben Licht der Laterne vor dem Hause einen prüfenden Blick in Oswalds Gesicht und erkannte den Herrn, der die Czika umarmt hatte. Herr Schmenckel wußte nicht recht, was er von dem Interesse, das der fremde junge Herr an dem hübschen Zigeunerkinde nahm, denken sollte.

»Hm«, sagte er, um Zeit zur Überlegung zu gewinnen, »weshalb wollen Euer Gnaden das wissen?«

»Das kann Ihnen gleich sein«, antwortete Oswald, »genug, wenn ich die Auskunft, die ich wünsche, nicht umsonst haben will«, und er drückte Herrn Schmenckel einen Taler in die Hand.

»Danke, Euer Gnaden«, erwiderte Herr Schmenckel, »Geld ist unter allen Umständen eine angenehme Sache, indessen möcht ich doch gern –«

»Aber ich begreife nicht, weshalb Sie Anstand nehmen, mir das wenige, was Sie von der Frau wissen, mitzuteilen.«

»Hm«, sagte Herr Schmenckel, »vielleicht ist das, was ich weiß, so wenig nicht. Wenn man jemand dreizehn Jahre lang in seiner Gesellschaft gehabt hat –«

»Aber ich habe ja die Zigeunerin erst in diesem Sommer auf – gleichviel, aber weit von hier und allein getroffen.«

»Wohl möglich«, sagte der schlaue Direktor, »es ist heute abend nicht das erste Mal, daß mir die Xenobi weggelaufen ist, aber sie ist doch jedesmal wiedergekommen.«

»Seit dreizehn Jahren!« sagte Oswald, dem dieses Märchen durchaus glaublich schien. »Wie alt war denn das Kind, als sie zu Ihnen kam?«

»Wie alt?« fragte Herr Schmenckel. »Ei! Euer Gnaden, als sie zu mir kam, hatte sie kein Kind, das muß ich am besten wissen.«

»Sie?« sagte Oswald, und ein Schauder überlief ihn. »Sie?«

»Nun weshalb nicht, Euer Gnaden? Schau ich Euer Gnaden aus, als ob sich ein hübsches junges Ding nicht in mich verlieben könnte, das noch dazu bei mir in Lohn und Brot stand? Ich sage Euer Gnaden, ich hab noch ganz andere Eroberungen in meinem Leben gemacht. Sind Euer Gnaden je in Petersburg gewesen. Da ist die Fürstin – aber freilich, ich darf über diese Dame nicht so sprechen, wie –«

»Mit einem Worte«, sagte Oswald, sich gewaltsam zusammenraffend, »so ist die Czika Ihr Kind?«

»Beschwören will ich's nicht«, sagte Herr Schmenckel lächelnd; »aber daß es mein's sein könnte und ich es immer als mein's angesehen habe, das kann ich beschwören, Euer Gnaden.«

»Und Sie glauben, daß die Zigeunerin sich wieder einstellen wird?«

»Oh, darauf können sich Euer Gnaden verlassen; sie hat es nirgends so gut wie bei mir.«

»Aber warum entfernt sie sich denn so oft von Ihnen?«

»Ja schaun's, Ihr Gnaden! Die Weiber sind ein wunderliches Volk«, sagte Herr Schmenckel, »und je besser man es mit ihnen meint, desto sicherer kann man sein, daß sie uns ein X für ein U machen. Treu und Glauben ist bei ihnen nicht zu finden, und besonders die Zigeunerinnen –«

»Es ist gut«, sagte Oswald, den der Ekel überwältigte, »ich spreche mit Ihnen ein andermal weiter darüber.« Und er entfernte sich eilig. Herr Schmenckel sah ihm einige Augenblicke nach und kam zu der Überzeugung, daß es mit dem feinen jungen Herrn offenbar nicht ganz richtig sei. Er schüttelte den Kopf, steckte den Taler, den er noch in der Hand hielt, in die Tasche und verfügte sich in die Trinkstube zurück, wo mittlerweile der Friede wieder so vollständig hergestellt war, daß sich sämtliche Anwesende zur gemeinschaftlichen unisonen Absingung des beliebten Volksliedes: »Blau blüht ein Blümelein« vereinigen konnten.

Während Oswald diese so bedenklichen Mitteilungen über die arme Czika entgegennahm, erwartete Franz seine Rückkehr mit der größten Ungeduld. Die Post hatte wirklich den sehnlichst herbeigewünschten Brief seiner Braut gebracht und dieser Brief die unbestimmte Furcht, mit der er sich in diesen letzten Tagen getragen, nur zu sehr bestätigt. Sophie schrieb mit einer Hand, die die Angst beinahe unleserlich gemacht hatte, daß ihr Vater von einem Schlaganfall betroffen worden sei, der die Ärzte das Schlimmste befürchten lasse. Der Vater sei noch in diesem Augenblick (mehrere Stunden nach dem in der Nacht eingetretenen Anfall) sprachlos und unfähig sich zu bewegen. Wenn noch Rettung für ihren Vater sei, so könne die Hilfe nur von dem kommen, zu dem ihr Vertrauen ebenso groß sei wie ihre Liebe.

Franz' Entschluß war sofort gefaßt; er bestellte, da der Kutscher, mit dem er gekommen war, nicht weiterfahren zu können erklärte, Extrapost, um die nächste Station der Eisenbahn womöglich noch in derselben Nacht zu erreichen. Seine holde, süße Braut in so bitterer Not und Bedrängnis – wachend und weinend an dem Krankenbette, vielleicht an dem Sarge ihres Vaters – und er, ihr Trost und ihre Hoffnung, über achtzig Meilen entfernt – es war ein Gedanke, der auch ein so festes Herz wie das seine um seine Ruhe bringen konnte. Der Boden brannte ihn, unter den Füßen. Die paar Minuten, bis der Wagen aus der Post herbeigeschafft wurde, erschienen ihm eine Ewigkeit.

Da kam der Wagen und mit ihm Oswald. Franz teilte ihm die soeben erhaltene Nachricht mit sowie seinen Entschluß, sofort abzureisen. Er bat den Freund mit fliegenden Worten, nicht länger in Fichtenau zu verweilen, als es unumgänglich notwendig sei, und vor allem den Termin innezuhalten, zu dem man ihn in Sundin am Gymnasium erwartete. Oswald war durch die mancherlei wunderlichen Abenteuer der letzten Stunden so gleichsam auf alles Außerordentliche vorbereitet, daß er die Mitteilung mit einer Art von Gleichgültigkeit entgegennahm. Er versprach indessen, was Franz von ihm verlangte, während er ihn zum Wagen begleitete.

»Wissen Sie was, Oswald«, sagte Franz, schon im Wagen, »kommen Sie mit mir! Sie werden diese Zumutung sonderbar finden, aber das Sonderbarste ist oft das Vernünftigste.«

»Es geht nicht, Franz«, sagte Oswald«,ich kann nicht wieder abreisen, ohne Berger auch nur gesehen zu haben, und überdies –«

»Ich weiß alles, was Sie mir sagen können«, erwiderte Franz, »und offen gestanden, habe ich eigentliche Gründe für meine Zumutung gar nicht; nur ein Gefühl, als ob ich Sie nicht allein hierlassen dürfe, als ob die Luft hier herum für Sie mit Unheil angefüllt sei. Kommen Sie mit mir, Oswald!«

»Ich will Ihnen sobald als möglich folgen.«

»Dann leben Sie wohl! Fort, Schwager!«

Franz drückte noch einmal Oswalds Hand. Der Wagen rollte eilends über das holprige Pflaster des Städtchens davon.

»Schade, daß der Herr sobald wieder fort mußte«, sagte Louis, der Oberkellner des Kurhauses, der mit der Serviette unter dem Arm und der Feder hinter dem Ohr neben Oswald stand. »Ein charmanter Herr! – Wollen der Herr Doktor jetzt soupieren? Der Herr Doktor finden noch charmante Gesellschaft im Speisesaale.«

Oswald ging in das Haus zurück. Hätte Franz in diesem Augenblick noch einmal seine Aufforderung wiederholt, Oswald würde sich nicht länger geweigert haben, ihm zu folgen. Seitdem ihn Franz verlassen, war es ihm, als ob sein guter Engel von ihm gewichen und die Luft in Fichtenau für ihn mit Unglück angefüllt sei.


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