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Achtunddreißigstes Kapitel

Es war im März. In Frankreich war wenige Wochen vorher die Republik proklamiert worden. Das ungeheure Ereignis verbreitete in konzentrischen Kreisen seine Wirkung über die ganze zivilisierte Erde. Auch Berlin war seit einigen Tagen davon erfaßt, und eine fieberhafte Aufregung hatte sich der Geister bemächtigt – eine Verwirrung, ein nervöses Zittern, wie sie den Menschen ergreifen, der aus tiefem Schlaf urplötzlich zum hellen Licht des Tages aufgeschreckt ist und noch nicht recht weiß, wo ihm der Kopf steht. Und dabei ein heimliches Grauen vor dem Dunkel der Nacht, in der man so lange in den dumpfen Banden eines unnatürlich tiefen Schlafes zugebracht, ein verworrenes Gefühl, daß es doch etwas sehr Herrliches um das goldene Taglicht sei; ein hoffnungsfrisches Recken, ein tatendurstiges Dehnen in allen Gliedern, so daß den Wächtern, die den riesengewaltigen Schläfer im Schlaf beobachtet und bewacht hatten, schier unheimlich wurde und sie untereinander sprachen: »Wir werden ihn in eiserne Banden schnüren müssen, sonst steht er am Ende noch gar auf, und dann wäre es um uns geschehen.«

An einem schönen hellen Abend ging es »Unter den Zelten«, dem Hauptvergnügungsorte des soliden Bürgers, sehr lebhaft zu. Wer indessen dem Treiben der letzten Tage in der großen Stadt fremd geblieben war, hätte für den ersten Augenblick zweifeln können, ob dies eine politische Versammlung oder ein Volksfest sei. Vielleicht war es beides. Hatte man doch die Arbeit, die strenge Zuchtmeisterin, um einen Nachmittag, vielleicht nur um eine Stunde betrogen; erweckte doch schon der Umstand, daß man in Masse da war, daß kein Polizist so leicht wagen würde, hineinzureden oder gar einzugreifen, ein Gefühl des Übermutes und der Überkraft, eine nicht alltägliche, gehobenere, freudigere Stimmung, zumal da der Frühlingshimmel so herrlich blauete, die schlanken, blätterlosen Zweiglein und Ästlein der Baumwipfel des Parks sich so klar und scharf von dem blauen Himmel abhoben, und die Abendsonne so warm und hoffnungsreich herabschien auf die Tausende von Menschen, die unten auf dem weiten Platze zwischen den Kaffeehäusern und dem Fluß auf der einen und dem Parke auf der andern Seite durcheinanderwogten sind -drängten, besonders nach der hölzernen Tribüne am Rande des Parkes, die sonst für die Musici bestimmt war, von der aber heute eine Musik gar eigener Art erschallte, eine Musik, dem Volke so ganz ungewohnt, und vielleicht deshalb ihm kostbarer als die herrlichsten Walzer von Strauß und Lanner. Weiter zu nach den Kaffeehäusern aber, wo man die Redner nicht mehr wohl verstehen konnte, ging es lustiger zu. Da konnten die Kellner kaum so viel Gläser voll Bieres herbeischaffen, wie von den durstigen Kehlen geleert wurden; da boten Semmel- und Wurstverkäufer ihre Ware an, da quäkten die Zigarrenjungen mit den schrillen, unreifen Stimmen, da trieben selbst Gaukler und Taschenspieler ihr lustiges Handwerk.

Durch die wogende Menge schlenderten Oldenburg und Berger. Der Professor ließ seine Augen unruhig über die Menge schweifen und teilte seinem Begleiter die Bemerkungen, die er machte, mit leidenschaftlicher Energie mit, worauf dann jener lächelnd mit dem Kopfe nickte oder ein kurzes Wort erwiderte.

»Aber glauben Sie denn, daß sich dies Volk jemals zu einer Revolution wird aufrichten können?« fragte Berger nach einer längern Pause.

»Weshalb nicht?«

»Sehen Sie diese stupiden Gesichter, hören Sie diese frivolen Scherze, mit denen sie sich über den Ernst der Situation und zugleich über das dumpfe Gefühl ihrer eigenen Nichtigkeit wegzuhelfen suchen; bemerken Sie dort, wie das Volk zu derselben Stunde, wo zuerst von Freiheit und Recht öffentlich zu ihm gesprochen wird, auch noch Zeit und Lust hat, an panem und circenses zu denken – und Sie haben genug beisammen, um den letzten Funken der Hoffnung zu ersticken, daß diese Menschen je für ihre Freiheit nicht bloß reden, sondern auch kämpfen werden.«

»Der alte Pessimismus, Berger! Und das jetzt, wo nach so vielen dunklen Leidensjahren die goldene Sonne endlich wieder scheint!«

»Gerade dieser Sonnenstrahl ist es, der mein Herz mit solcher Ungeduld erfüllt. In den grauen Wintertagen finden wir es natürlich, daß die Bäume die kahlen Äste zum Himmel strecken; wenn aber die ersten Frühlingslüfte wehen und der Himmel blaut, sehnen wir uns unendlich nach dem grünen, im Winde säuselnden und rauschenden Blättermeer. Und nun gar, wenn der Winter so lang und so hart war, daß er uns unsere Kraft unwiederbringlich geraubt hat und wir nicht hoffen dürfen, bis in den Sommer hinein zu leben.«

»Die Toten reiten schnell! Sie haben es in Paris gesehen!«

In diesem Augenblicke trat ein Mann, der die beiden Herren schon seit einiger Zeit beobachtet hatte, wie jemand, der nicht recht weiß, ob er seinen Augen trauen soll oder nicht, an sie heran und sagte zu Berger:

»Seid Ihr es denn wirklich, Professor?«

»Ei, sieh da, Herr Direktor«, erwiderte Berger, sich von Oldenburgs Arm losmachend und dem, der ihn angeredet hatte, die Hand reichend, »wie kommen Sie denn hierher?«

»Ach Gott«, sagte der Mann, »das ist 'ne traurige Geschichte; wollt Ihr ein paar Schritte mit mir kommen, ich möcht Euch gern allein sprechen.«

Oldenburg betrachtete die Gestalt nicht ohne Bewunderung. Es war ein mächtiger Leib mit breiter, hochgewölbter Brust und langen Armen, auf dem ein nicht minder mächtiger Kopf saß. In den plumpen, aufgedunsenen Gesichtszügen sprach sich neben viel Gutmütigkeit und jovialer Laune eine Art von Schlauheit und Verschmitztheit aus, die aber durchaus harmloser Natur war. Es konnte dem Manne, seiner äußeren Erscheinung nach, nicht eben besonders gehen. Sein grauer Filzhut hatte offenbar manchen Sturm erlebt, bevor er in diesen zerknitterten Zustand kam. Der schwarze, äußerst schäbige, mit altersgrauen Schnüren besetzte Sammetrock hatte einstmals bessere Tage gesehen, ebenso wie die weiten leinenen Beinkleider, deren Farbe jetzt nicht mehr wohl zu bestimmen war, oder die Stiefel, die auf bedenkliche Weise aus den Nähten zu platzen begannen. Ein rotseidenes, mit einer gewissen Absichtlichkeit nachlässig um den sonnverbrannten, muskulösen Hals geschlungenes Tuch vollendete den Charakter heruntergekommener Künstlerschaft, der dieser Erscheinung aufgeprägt war.

Berger sprach einige Minuten angelegentlich mit dem Manne, darauf entfernten sie sich noch mehr, und Oldenburg sah, wie der Professor seine Börse zog und dem andern mehrere Geldstücke in die Hand gleiten ließ. Gleich darauf trennten sie sich; der Mann verschwand in der Menge, Berger kam wieder zurück.

»Wer war diese sonderbare Figur?«

»Ein Mann, von dem ich Ihnen schon viel erzählt habe: Herr Direktor Kaspar Schmenckel aus Wien.«

»Oh«, rief Oldenburg, »weshalb haben Sie mir das nicht gesagt? Ich hätte Czikas einstigen Brotherrn doch gern kennengelernt.«

»Er wird uns in den nächsten Tagen aufsuchen; der arme Mann ist in Verzweiflung; seitdem ihn Xenobi und Czika verlassen, hat ihn Unglück über Unglück getroffen. Sein Clown ist ihm gestorben, sein erster Künstler weggelaufen, und die andern hat er, weil er sie nicht bezahlen konnte, entlassen müssen. Jetzt treibt er sich hier in den Kneipen umher und gibt Vorstellungen auf eigene Hand.«

»Wir müssen für ihn sorgen«, sagte Oldenburg, »er hat Czika gut behandelt und sich meinen Dank verdient. Überdies scheint er ein braver Kerl. Doch lassen Sie uns nach Hause gehen. Die Sache verläuft sich, wie sich voraussehen ließ, für heute im Sande.«

Als die beiden gingen, stand gerade ein junger Mann auf der Rednerbühne, der allen unbekannt war und dessen eigentümliche Erscheinung die Aufmerksamkeit der Leute in ungewöhnlich hohem Grade fesselte.

»Meine Herren«, rief er mit lauter heller Stimme, während ein spöttisches Lächeln um seine feinen Lippen flog, »was würden Sie von einem Manne sagen, der den schärfsten Pfeil im Köcher und auch den stärksten Bogen hat, diesen Pfeil abzuschießen, und der es denn nun doch aus übergroßer Gutmütigkeit vorzieht, den Pfeil anstatt vermittels des Bogens mit der schwachen Hand abzuschnellen? Nun, meine Herren, wir gleichen durchaus diesem törichten Manne. Der Pfeil im Köcher ist die Adresse mit den neun Wünschen, wie wir die gerechten Forderungen des Volkes bescheidentlich nennen; die Deputation aus unserer Mitte, durch die die Adresse Sr. Majestät morgen zugestellt werden soll, ist die schwache Hand. Wie weit wird sie den Pfeil tragen? Bis zur Schwelle des Königsschlosses – nicht weiter! Ich sage Ihnen, meine Herren, die schwache Hand der Deputation wird vergeblich an die Pforte pochen; Seine Majestät wird unsere Wünsche nicht entgegenzunehmen geruhen, und die Deputation wird unverrichteter Sache zurückkehren.«

Bei diesen Worten des Redners ging ein Brausen durch die Versammlung, wie wenn über das Meer ein heftiger Windstoß fährt. Einzelne riefen »Bravo«, so besonders der starke Herr im abgetragenen Sammetrock, der sich bis dicht an die Tribüne durchgedrängt hatte und dem Redner mit großem Beifall, den er durch Kopfnicken, Grunzen und Bravorufen kundgab, zuhörte. Aber der bei weitem größte Teil war offenbar gegen alle extremen Schritte; auf jeden Bravorufer kamen hundert Kopfschüttler und Zischer.

Der junge Mann ließ sich durch diese Zeichen der Unzufriedenheit nicht einschüchtern, sondern wiederholte mit großem Nachdruck:

»Die Deputation wird unverrichteter Sache zurückkehren! Und uns geschieht damit ganz recht. Weshalb brauchen wir die Hand zum Pfeileschleudern, wenn der Bogen unbenutzt daneben im Grase liegt? Wollen Sie wissen, wo der Bogen ist? Der Bogen sind wir, das heißt: die ganze Versammlung. Wenn wir acht- bis zehntausend, wie wir hier sind, in geschlossenem Zuge, die Adresse von dem Sprecher voraufgetragen, hinrücken vor das Schloß – ich wollte die Türen sehen, die sich nicht vor uns öffneten, die Schranzen, die uns den Eingang zu verweigern wagten, den Höfling, der sich erfrechte, uns zu sagen: Meine Herren, Se. Majestät sitzt beim Tee und kann Sie nicht empfangen.«

»Bravo, bravo!« schrie der starke Herr in dem Sammetrock und klatschte wütend in die Hände. Aber der Menge mißfiel diese Humoristische Behandlung einer so ernsten Sache durchaus. Zischen, Pfeifen, Schreien ertönte von allen Seiten; nur mit Mühe gelang es dem Präsidenten, einem Herrn in breitkrämpigem Hut und mit langem Bart, durch energisches Klopfen mit seinem Rohr auf den Tisch die Ruhe so weit wiederherzustellen, daß der Redner fortfahren konnte. Der seinerseits nahm jetzt die ganze Kraft seiner hellen Stimme zusammen und schmetterte in die Versammlung hinein:

»Ich habe den Antrag, in corpore aufs Schloß zu ziehen, nicht gestellt, weil ich glaubte, daß er durchgehen werde, sondern nur, um Ihnen zu zeigen, wes Geistes Kinder Sie sind. Pioniere der Freiheit hat Sie ein Vorredner genannt! Jawohl! Die Freiheit wird es weit mit Ihnen bringen, wenn Sie nicht einmal jetzt imstande sind, aus dem Vertrauensdusel sich aufzuraffen, in dem Sie schier dreißig Jahre geschlafen.«

Was der junge Mann etwa noch weiter sprach, konnte man nicht verstehen, denn bei den letzten Worten war der Sturm, der schon lange gegrollt hatte, losgebrochen, und der kecke Redner wäre schwerlich ungestraft davongekommen, wenn nicht der starke Herr in dem Sammetrock ihn, sobald er von der Tribüne herabkam, enthusiastisch umarmt und damit zu seinem Freund und betreffenden Falls zu seinem Schützling erklärt hätte. Mit einem Mann aber von so herkulischem Bau anzubinden, mochte niemand Lust haben. Zum wenigsten erlaubte man den beiden, unangefochten die Versammlung zu verlassen.

Die neuen Freunde bogen in eine der Alleen, die in der Nähe der Tribüne vor dem Platz der Volksversammlung in den Park führte. Sobald sie allein waren, schüttelte der Herr im Sammetrock noch einmal dem jungen Mann mit den blonden Haaren die Hand und sagte mit großer Herzlichkeit:

»Ich freue mich ganz ausnehmend, die Bekanntschaft einer so kreuzbraven Haut gemacht zu haben.«

»Gleichfalls, gleichfalls!« erwiderte der junge Mann, seinen Bewunderer mit dem scharfen, schnellen Blick seiner blauen Augen musternd und zu diesem Zweck seine Brille mit dem Zeigefinger höher auf die Nase schiebend: »Mit wem habe ich die Ehre?«

Der Herr im Sammetrock trat einen Schritt zurück, warf sich in die Brust, lüftete seinen vielgeprüften Filz und sagte:

»Ich bin der Direktor Kaspar Schmenckel aus Wien.«

»Ah«, erwiderte der andere leichthin, »freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Mein Name ist Timm, Albert Timm.«

»Sie sind nicht von der Kunst?« fragte Herr Schmenckel zutraulich.

»Wie meinen Sie?« fragte Albert ausweichend.

Herr Direktor Schmenckel machte die Gebärde jemandes, der einen sehr schweren Gegenstand mit beiden Händen schnurgerade in die Luft wirft, um ihn mit dem Nacken wieder aufzufangen.

»Aha!« sagte Albert. »Verzeihen Sie, daß mir ein Mann von Ihrer Bedeutung persönlich noch nicht bekannt war; aber ich bin erst seit wenigen Tagen hier.«

»Konnt's mir denken«, erwiderte Herr Schmenckel, als sie jetzt Arm in Arm weiterschritten, »sind ein ganz andrer Kerl wie die Lumpen hierzulande; sprechen frei von der Leber weg, wie's Ihnen ums Herz ist. Kaspar Schmenckel liebt solche Leute, und wenn er Ihnen mit irgend etwas dienen kann, sagen's nur gerade heraus!«

»Sehr verbunden, Herr Direktor. Die Ehre Ihrer Bekanntschaft ist schon erfreulich genug. Ich vermute, daß Sie mit Ihrer Truppe jetzt hier in der Residenz Vorstellung geben?«

»Vorstellung geben?« fragte der Direktor Schmenckel und räusperte sich. »Offen gestanden, finden Sie Kaspar Schmenckel augenblicklich nicht in floribus. Ich habe mich aus manchen Gründen genötigt gesehen, meine alte Truppe aufzulösen, und bin jetzt mit der Organisation einer neuen beschäftigt – eine Aufgabe, die indessen, wie Sie sich wohl denken können, ihre Schwierigkeit hat. Unterdessen –«

»Privatisieren Sie?«

»Gewissermaßen, ja: das heißt, ich gebe noch immer von Zeit zu Zeit in Freundeskreisen Vorstellungen, aber nur, um nicht aus der Übung zu kommen, wissen Sie.«

»Natürlich.«

»So bin ich heute Abend in einem sehr noblen Lokal, das von der besten Gesellschaft besucht wird, gewissermaßen engagiert, und wenn Sie mir die Ehre erzeigen wollen –«

»Sehr gütig.«

»Sie werden dort lauter brave Leute finden, vor denen man sich nicht zu genieren braucht – alles Demokraten vom reinsten Wasser, obgleich sie verzweifelt wenig Wasser trinken, sollt' ich meinen. Ich gehe schon den ganzen Winter in dem ›Dustern Keller‹ aus und ein, aber niemals so gern und so oft, als seit den letzten acht Tagen, wo wir eine neue Wirtin haben.«

»In der Tat?«

»Ich werde stolz darauf sein, Sie mit ihr bekannt zu machen. Frau Rosa Pape ist ein Muster ihres Geschlechts.«

»Wie sagten Sie?« fragte plötzlich Herr Timm mit großer Lebhaftigkeit.

»Ich sagte, Frau Rosa Pape sei ein kapitales Frauenzimmer.«

»Sagten Sie nicht, die Dame sei erst seit kurzem Inhaberin des Geschäfts?«

»Allerdings, sie war bis dahin in einer – andern Branche beschäftigt; die französische Revolution hat sie zur Kellerwirtin gemacht.«

»Das ist originell.«

»Nicht wahr? Aber Frau Rosa ist auch ein Original. Sie hat einen wunderbaren Blick fürs Geschäft, und als in Paris der Spektakel losging, sagte sie: ›Jetzt kommt eine goldene Zeit für Kellerwirtinnen mit weiblicher Bedienung!‹ – Einen Tag darauf hatte sie den ›Dustern Keller‹ gepachtet.«

»Ich bin äußerst begierig, die Bekanntschaft einer so trefflichen Dame zu machen.«

Unter diesen Gesprächen waren die beiden Freunde auf wenig betretenen Parkpfaden in die Nähe des herrlichen Tores gekommen, das von dieser Seite unmittelbar aus dem Park in die Stadt führt. Die Versammlung vor den Zelten war, gleich nachdem sie sie verlassen hatten, auseinandergegangen; schon berührte die Spitze des unabsehbaren Zuges, der sich von jener Seite heranwälzte, das Tor. Hier stießen die Massen der Hereinkommenden auf die Scharen derer, die noch immer aus der Stadt nach dem Park zogen. Es konnte nicht ausbleiben, daß sich die Menge stopfte, zumal vor der Wache in unmittelbarer Nähe des Tors, wo eine Kompanie, Gewehr bei Fuß, aufmarschiert war. Die Leute blieben stehen, sich über diese außerordentliche Maßregel ihre Bemerkungen mitzuteilen; andere traten heran, zu sehen, was da zu sehen sei; in einem Nu war die Wache mit einem aus vielen Hunderten von Menschen bestehenden Halbkreis umringt, der mit jedem Augenblick enger wurde. Der die Kompanie kommandierende Hauptmann, ein langer Offizier mit einem verbissenen Ausdruck in dem scharf markierten Gesicht, schoß wütende Blicke auf die ihn umgebende Menge, ohne sie indessen eines Wortes zu würdigen. Man sah, wie es in ihm kochte. Plötzlich kommandierte er mit ärgerlich quäkendem Tone: »Stillgestanden, richt' euch! Gewehr auf! Bataillon soll chargieren, geladen!«

Die Ladestöcke rasselten, im Nu war das Kommando ausgeführt.

Es hatte vorläufig nur eine Drohung für die Menge sein sollen; aber man bewirkte gerade das Gegenteil von dem, was man gewollt hatte. Den Zunächststehenden wurde durch die von hinten Herandrängenden das Zurückweichen unmöglich, und diese hatte das Rasseln der Ladestöcke nur noch neugieriger gemacht. Ein verderblicher Zusammenstoß des Militärs mit dem Publikum schien unvermeidlich.

Da drängte sich durch die Gaffer ein langer Herr und trat gerade auf den Hauptmann zu:

»Erlauben Sie auf ein Wort.«

»Was wollen Sie?«

»Mein Name ist Oldenburg; ich habe die Ehre, mit Herrn Grafen Grieben zu sprechen?«

Der Offizier faßte salutierend an seinen Helm: »Freue mich, Sie nach langen Jahren wiederzusehen, Herr Baron. Kommen wie gerufen; werde mich genötigt sehen, auf die Kanaille da Feuer geben zu müssen.«

»Gerade um das zu verhindern, erlaubte ich mir, mich Ihnen vorzustellen. Sie haben ein einfaches, aber unfehlbares Mittel, alle diese Leute zum Weitergehen zu bringen und so unsägliches Unglück zu verhüten.«

»Das wäre?«

»Lassen Sie Ihre Mannschaft in die Wache treten!«

»Wo denken Sie hin? Dem Pöbel eine solche Konzession machen! Überdies ist es gegen die Instruktion.«

»So fordern Sie die Leute wenigstens auf, nach Hause zu gehen!«

»Ich habe keine Lust, mich mit der Krapüle in eine Unterhaltung einzulassen.«

»Wollen Sie es mir denn gestatten?«

»Wie's Ihnen beliebt«, erwiderte der Offizier, sich mit kalter Höflichkeit von Oldenburg abwendend.

Oldenburg trat ein paar Schritte auf den dichten Kreis zu und sagte, seine Stimme so laut wie möglich erhebend:

»Meine Herren, Ihr Stehenbleiben hier an dieser Stelle ist für Sie nicht ohne Gefahr. Viele von Ihnen sind ja selbst Soldat gewesen und wissen, daß der Soldat nach den Paragraphen seines Wachtbuchs handeln muß. Zwingen Sie deshalb Ihre Brüder, die hier in Waffen stehen, nicht, diese Waffen gegen Sie zu wenden. Lassen Sie uns von unserem Rechte der freien Bewegung Gebrauch machen und weitergehen. Es wird ja auch nachgerade langweilig, hier immer auf demselben Fleck zu stehen.«

»Er hat recht!« rief ein vierschrötiger Bürger mitten aus dem Gedränge. »Ich fange schon an, auseinanderzugehen!«

Die Leute lachten, und als die schrille Stimme eines Zigarrenbuben anfing zu singen: »Immer langsam voran, immer langsam voran!« setzte sich der dichte Haufen in Bewegung, zumal in diesem Augenblick Geschrei und Lärmen, das von einer andern Seite ertönte, die Neugierigen lockte.

Eine Strecke die herrliche Hauptstraße weiter hinauf war es zwischen dem Publikum und einer der vielen Patrouillen, die von dem Schloß nach dem Tor, von dem Tor nach dem Schloß seit einigen Stunden hin und her marschierten, zu dem Zusammenstoß gekommen, der an der Wache durch Oldenburgs kluges und mutiges Dazwischentreten noch glücklich vermieden war. Der Führer der Patrouille – eine zweite marschierte, sich möglichst in gleicher Höhe mit dieser haltend, auf der andern Seite der Straße – war ein Offizier von riesigem Wuchs, dessen finster drohende Miene den festen Entschluß verkündigte, die geringste Widersetzlichkeit sofort zu ahnden. Auch war ihm, wie er an der Spitze seiner Mannschaft einherschritt, bis jetzt alles so scheu ausgewichen, daß er zu dein verachtungsvollen Lächeln, welches von Zeit zu Zeit über sein dunkles Gesicht zuckte, einigermaßen recht zu haben schien. Da kam er an eine Stelle, wo sich von der Straße ein enger, aber für gewöhnlich sehr stark frequentierter Durchgang abzweigte. Diese Passage war mit Menschen, die sehen wollten, was auf der Hauptstraße vorging, vollgestopft. Von dort drängten andere dagegen. So sammelte sich hier ein gewaltiger Menschenknäuel, in dem die Verwirrung den höchsten Grad erreichte, als jetzt durch die heranmarschierende Patrouille eine zweite Stockung in die sich so schon nur mit Mühe fortbewegende Masse kam.

»Platz da!« herrschte der Offizier, rücksichtslos in den Haufen hineinschreitend.

Die zunächst Stehenden wichen rechts und links auf die Seite; aber die andern drängten wieder zu. Ein buntes Durcheinander entstand, in dem der Offizier mit nur wenigen seiner Leute von der Truppe getrennt wurde.

»Platz da!« wiederholte der Offizier in noch barscherem Tone.

»Machen Sie nur selber Platz«, rief ein junger Mann aus dem Haufen.

Er hatte es kaum gerufen, als der Offizier auf ihn zusprang, ihn am Kragen ergriff und mit einem Ruck seines starken Armes seinen Leuten zuschleuderte:

»Nehmt den Schreihals fest«, rief er.

Die Soldaten ergriffen den jungen Mann, der vergeblich sich loszureißen versuchte.

»Stoßt den Hund nieder, wenn er sich widersetzt!« herrschte der Offizier.

Ohne Zweifel würden die Soldaten diesen Befehl ausgeführt haben, wenn in diesem Moment nicht Herr Schmenckel sich vor den Offizier hingestellt und ihm zugeschrien hätte:

»Geben Sie den Mann los, Eure Gnaden! Oder das Wetter soll dreinschlagen!«

Der Gardeoffizier und der Mann aus dem Volke standen sich einen Augenblick lang gegenüber, zwei riesengewaltige Männer, überraschend ähnlich an hohem Wuchs, gewölbter Brust, breiten Schultern und langen, muskelkräftigen Armen; ja, wie sie sich so mit zornigen Blicken anstarrten, ähnlich im Ausdruck der massiven plumpen Züge.

Doch nur einen Augenblick standen sie so; im nächsten hatte der Offizier seinen Gegner mit aller Macht vor die Brust gestoßen, um ihn aus seiner unmittelbaren Nähe zu bringen und Raum für seinen Degen zu gewinnen. Indessen, er hätte ebensogut einen Felsen von der Stelle rücken können als den Mann im Sammetrock. Der aber reckte seine mächtigen Arme aus, ergriff den Offizier um den Leib, hob ihn vom Boden auf und schleuderte ihn mit solcher Gewalt gegen die Soldaten, die zu tun hatten, ihren Arrestanten zu halten, daß Offizier, Soldaten und Arrestant in einem Haufen über- und untereinander rollten.

»Hurra!« schrie die entzückte Menge. »Hurra! Hurra! Drauf! Nieder mit der Soldateska!«

Herr Schmenckel mußte sich von der Hilfe und dem Mut der Menge nicht viel versprechen. Er zog mit einem Ruck den Arrestanten aus dem Haufen heraus und war mit ihm, ehe sich noch der Offizier wieder aufraffen konnte, in dem Gedränge, das ihm bereitwillig Platz machte, verschwunden.

Es war die höchste Zeit, denn jetzt war es den von ihrem Führer getrennten Sektionen gelungen, die Menschenmauer zu durchbrechen.

Der Offizier sprang auf die Füße und kommandierte mit einer vor Wut kreischenden Stimme: »Links aufmarschiert! Marsch! Marsch! Zur Attacke Gewehr rechts! Fällt das Gewehr!«

»Hurra, hurra!« riefen die Soldaten, indem sie im Geschwindschritt auf die wehrlose Menge eindrangen, die heulend und schreiend auseinanderstob.


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