Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel

Als die beiden Wanderer aus den Bergen heraus an die ersten Häuser des Städtchens gelangten, war es vollkommen Nacht. Oswald hatte sich ganz der Führung Bergers anvertrauen müssen und war der Meinung gewesen, daß er auf dem nächsten Wege zu Doktor Birkenhains Anstalt zurückkehren werde. Er war daher einigermaßen erstaunt, als er jetzt bemerkte, daß sie sich dem Städtchen vom entgegengesetzten Ende genähert hatten. Da standen die hochbeladenen Fuhrmannswagen, da sah man durch das offene Hoftor auf den geräumigen Hof, da brannte in der Laterne von grünem Glase über der Haustür ein trübseliges Licht und beleuchtete melancholisch die eine Hälfte der großen Mütze von Blech, die einst in den Tagen des Glanzes in grüner Ölfarbe geprangt, seitdem aber manchen Sturm erlebt und von Wind und Wetter und Regen um ihre Jugendfrische gebracht war; da erschallte aus den spärlich erhellten vier niedrigen Fenstern rechts von der Haustür das Geklirr von Gläsern, die von durstigen Trinkgästen energisch auf den Tisch gestoßen wurden, und der konzentrierte Lärm einiger zwanzig nicht allzu zarter Männerstimmen, die sich alle auf einmal vernehmen ließen.

Es hätte so vieler unverkennbarer Zeichen nicht bedurft, um Oswald daran zu erinnern, daß er sich in dem gastlichen Schatten der »Grünen Mütze« befand.

Das ganz unverhoffte Wiedersehen der Zigeunerin im Walde hatte ihn auf das lebhafteste an diese Angelegenheit erinnert, die er über der Begegnung mit Berger beinahe vergessen hatte.

Er hätte Berger, dessen Scharfsinn in der Enträtselung verworrener Situationen und problematischer Naturen er früher oft zu bewundern Gelegenheit gehabt, gern in dieser Sache um Rat gefragt, aber er scheute sich, einen Geist, der fortwährend in den geheimnisvollen Tiefen der Mystik grübelnd umherwandelte, mit Geschichten zu behelligen, in denen der Direktor Schmenckel eine Hauptrolle spielte.

Wie erstaunt war er daher, als Berger, an der Tür der »Grünen Mütze« angekommen, stehenblieb und sagte:

»Mich dürstet; laß uns hier einen Augenblick eintreten.«

»Hier?« sagte Oswald, der vor dem Gedanken zurückschreckte, den schwärmerischen zartsinnigen Mann, dem der Duft des Tabaks ein Greuel war, in eine so wüste Gesellschaft zu bringen. »Es sind sehr rohe Gesellen, die hier verkehren.«

»Was tut es?« erwiderte Berger. »Sind es doch Menschensöhne!«

Mit diesen Worten trat er durch die offene Haustür auf den Flur, wo gestern abend der Kampf zwischen den Kunstenthusiasten und ihren Gegnern stattgefunden hatte, und durch die ebenfalls offene Stubentür in die Trinkstube.

Sie gewährte heute so ziemlich denselben Anblick wie gestern vor und nach der Rauferei, nur daß der Tisch, an dem die Künstler saßen, heute von den übrigen Gästen bedeutend weniger gesucht schien.

Herr Schmenckel war ein viel zu guter Philosoph, als daß er sich durch dies beleidigende Benehmen der Freunde um seine gute Laune hätte bringen lassen sollen. Sein dickes Gesicht strahlte heute so rötlich wie je, seine verschwollenen Äuglein zwinkerten heute noch so listig wie je aus dem roten Gesicht; seine Wäsche war heute noch vielleicht um eine Schattierung weniger sauber, aber die Beinkleiderträger waren um keine Linie schmäler und um keine der gestickten Rosen ärmer geworden.

»Wie findet Ihr das Bier, Cotterby?« sagte er, die breite Faust auf die Schulter der »Fliegenden Taube« legend.

»Sauer!« war die lakonische Antwort des Angeredeten, der heute, wo der Genius in der Eiche seinen Flug nicht geweiht hatte, viel weniger applaudiert war.

»Pah«, sagte Herr Schmenckel. »Ihr seid verwöhnt, Cotterby. Freilich, so gut, wie wir es in Ägypten tranken, ist es nicht; aber es ist doch gut, sehr gut. Ihr Wohl, meine Herren!«

In diesem Augenblicke traten Berger und Oswald in die Trinkstube und näherten sich dem Tische, an dem die Künstler saßen, als dem am wenigsten besetzten. Herrn Schmenckels scharfes Auge hatte die neuen Ankömmlinge kaum bemerkt, als er sich von seinem Platze erhob, auf Oswald zuschritt, sich tief vor ihm verbeugte und mit einer Stimme, die darauf berechnet war, alle zu übertönen, sagte:

»Ah, Euer Gnaden, Herr Graf, das ist einmal schön, daß Sie einen armen Künstler in seiner niedrigen Herberge zu besuchen kommen! Ihr Wohl, Herr Graf, und auch Ihres, alter Herr! Ach! Das war der erste Schluck, der mir heute abend geschmeckt hat. Merkwürdig! Schlechte Gesellschaft verdirbt gutes Bier, gute Gesellschaft macht schlechtes gut. Bin ein Freund von Geselligkeit, Herr Graf. Sehe, daß Sie es auch sind; wollen Sie die Güte haben, mich mit dem alten Herrn bekannt zu machen. Direktor Schmenckel weiß gern, mit wem er zu tun hat.«

Oswald warf einen Blick auf Berger, um zu sehen, welchen Eindruck diese Umgebung und Gesellschaft auf ihn mache, und danach sein Verhalten Herrn Schmenckel gegenüber zu bestimmen. Zu seiner Verwunderung schien Berger mit einem gewissen Interesse dem Geschwätz des Seiltänzer-Direktors zuzuhören. Er hatte seinen Hut auf die Lehne des Stuhles gehängt, seinen Dornenstock neben sich gestellt und lehnte sich jetzt mit beiden Armen auf den Tisch, ganz wie einer, der so schnell nicht wieder fortzugehen gedenkt.

»Ich heiße Berger«, sagte er auf die Frage des Direktors.

»Professor Berger«, fügte Oswald hinzu, in der guten Absicht, Herrn Schmenckel durch den Titel zu imponieren und die Zudringlichkeit des Mannes in Schranken zu halten.

»Professor?« wiederholte Herr Schmenckel, mit einem Blick auf Bergers blaue Bluse und verwirrten Bart. »Sehr gut! Darf ich Sie mit meinem Freunde Cotterby bekannt machen? Herr John Cotterby aus Ägypten, genannt die ›Fliegende Taube‹, Herr Berger, genannt Professor.«

»Wollen wir wieder aufbrechen?« fragte Oswald, den das Benehmen Herrn Schmenckels in nicht geringe Verlegenheit setzte.

»Ich denke, wir bleiben noch ein wenig«, erwiderte Berger.

»Ihre Faust, alter Knabe«, sagte Herr Schmenckel, Bergers magere, schmale Hand ergreifend und kräftig schüttelnd. »Sie gefallen mir ganz ausnehmend. Wenn Ihr Filz einmal vollends aus dem Leim geht und Ihre Bluse weder Stich noch Fetzen hält – dann kommen Sie zu mir. Direktor Schmenckel wird sich ein Vergnügen daraus machen, einen Mann wie Sie als ein Mitglied seiner Gesellschaft zu begrüßen. Ihr Bart allein ist eine Zierde für die Gesellschaft. Sie würden in einer Pantomime Furore machen. – Was sagen Sie zu unserer heutigen Vorstellung, Herr Graf?«

»Ich war leider verhindert, ihr beizuwohnen«, erwiderte Oswald, den ein Lächeln auf Bergers Lippen zu einem Eingehen auf die sonderbare Unterhaltung ermutigte.

»Oh, da haben Sie viel, sehr viel verloren«, sagte der Direktor in dem Tone aufrichtigen Bedauerns und seinen dicken Kopf hin und her wiegend. »Die Vorstellung war die glänzendste, die wir seit langer Zeit gegeben haben. Direktor Schmenckel hat bewiesen, daß die momentane Abwesenheit einiger schätzenswerter Mitglieder seiner Gesellschaft keinen Einfluß auf ihre Leistungen im allgemeinen ausübt. Ich will nicht von mir sprechen, obgleich ich glaube, daß mir mein berühmtes Schmenckelspiel mit den drei achtundvierzigpfündigen Kanonenkugeln von niemand auf der Welt nachgemacht wird und meine Fontaine d'argent mit den zwanzig silbernen Bällen bis jetzt noch unerreicht ist – aber, meine Herren, Sie hätten heute Herrn Cotterby an dem Trapez sehen sollen! Ich sage Ihnen, die Ringelaffen von der Insel Sumatra sind Schufte dagegen, ganz elendigliche Schufte! Und dann Herr Stolzenberg mit seinem Riesenfaß! Ich sage Ihnen – rücken Sie heran, Stolzenberg! Ein Künstler wie Sie braucht nicht so bescheiden zu sein, und dem Herrn Grafen kommt es auf ein Seidel mehr oder weniger nicht an. Und dann, Herrn Pierrot als Disloqueur! – Kommen Sie zu uns, Pierrot – Künstler müssen zusammenhalten. – Ich sage Ihnen, Herr Graf, Ihr Taschenmesser ist ein Ladestock gegen Herrn Pierrot. Ich habe schon oft gesagt: Pierrot, wenn wir einmal zusammen auf der Eisenbahn fahren, bezahle ich nur für mich, Sie nehme ich franko in meiner Hutschachtel mit. Ein guter Witz, Herr Graf, nicht wahr? Aber der Professor hat ein leeres Glas, und wahrhaftig ich auch! Ich glaube, der Kerl, der Stolzenberg, hat heimlich mein Seidel ausgetrunken, und weiß Gott, sein's dazu. Trinken Sie auch aus, Pierrot. Sie ersparen dem hübschen Mädchen einen Weg! Hier, mein Schatz, fünf frische Seidel; aber frisch, mein Engel, wie die Rosen auf Ihren schönen Wangen. Lieben Sie die hübschen Weiber auch, Herr Graf? So'n schönes Kind mit braunen Augen, dunklem Haar und schlankem Leibchen wie die Czika? He? Die lassen S' nur noch ein paar Jahre älter sein; da sollen Sie Ihre Freude daran erleben.«

»Haben Sie noch keine Nachricht von den beiden?« fragte Oswald.

Herr Schmenckel, der keine Ahnung davon hatte, wo die Zigeunerinnen möglicherweise geblieben sein könnten, der es aber für unrecht hielt, die Hoffnung des reichen Liebhabers schöner Zigeunerkinder auf ein baldiges Wiedersehen des jüngsten Gegenstandes seiner Narretei ganz zu vernichten, zwinkerte schlau mit den verschwollenen Äuglein, legte den Zeigefinger nachdenklich an die Nase und sagte: »Sind nicht weit von hier – im Walde. – Habe sichere Kundschaft – könnte sie haben, wenn ich wollte – will nicht – Weiber müssen sich ausschmollen – kommen dann ganz von selbst wieder und sind auf lange Zeit von ihren Mucken kuriert. Ja, das muß man kennen! Die Weiber sind ein schwieriges Kapitel. Sie sind sich alle gleich und doch ist keine wie die andere. Was sagt Ihr dazu, alter Knabe?«

»Ich glaube, daß Sie ein großer Philosoph sind, von dem noch mancher manches lernen könnte«, erwiderte Berger, Herrn Schmenckel mit einem seltsamen Lächeln in das Gesicht blickend.

»Ja, das wollte ich meinen«, sagte der Direktor, seine breite Brust hervordrängend und die Fäuste in die Seite stemmend. »Der Schmenckel weiß, wie der Hase läuft, und wer ihm ein X für ein U machen will, der muß früh aufstehen. Aber es ist auch kein Wunder, wenn ich ein bißchen auf der Welt Bescheid weiß; bin ich doch darin herumgeschüttelt worden, von oben nach unten, von unten nach oben, wie ein Stöpsel in einer leeren Flasche.«

»Eine leere Flasche!«, sagte Berger, »der Vergleich ist sehr wahr, sehr treffend, wie kommen Sie darauf?«

»Wie ich darauf komme?« erwiderte der Direktor mit verwunderter Miene. »Wie ich darauf komme? Vermutlich, weil ich ein leeres Glas vor mir habe.«

»Es scheint, als ob Ihnen der Trank des Lebens bis jetzt gemundet hätte«, sagte Berger, während Herr Schmenckel die Zeit, bis das frische Glas kam, dazu benutzte, sich eine kurze Tonpfeife zu stopfen.

»Ja, und warum denn nicht?« erwiderte der Direktor, die Pfeife an der Flamme des auf dem Tisch stehenden Talglichtes anzündend und für einige Momente den Blicken der Anwesenden hinter blauen Wolken verschwindend. »Das Leben ist ein kreuzlustiges, pudelnärrisches Ding für den, der, wie Kaspar Schmenckel, das Herz auf dem rechten Flecke hat. – Danke, mein Schatz!«

»Ich bin nicht Ihr Schatz, Herr Direktor«, sagte das Mädchen schnippisch, indem es den Arm, den Herr Schmenckel um ihre Taille geschlungen hatte, unsanft zurückstieß und einen verstohlenen Blick auf Oswald warf.

Herr Schmenckel erwiderte diese beleidigende Zurückweisung dadurch, daß er die fünf Fingerspitzen der rechten Hand gegen seine dicken Lippen drückte und der Enteilenden einen Kuß nachwarf, sodann das linke Auge schloß und mit dem rechten den ihm gegenübersitzenden Oswald listig anzwinkerte.

»Schmuckes Ding, Euer Gnaden, he? Tut, als ob es mich fressen wollte und ist bis über die Ohren in mich verliebt.«

»Sie scheinen viel Glück bei den Frauen zu haben«, erwiderte Oswald, um doch etwas zu sagen.

»Ja, wie man's nehmen will, Euer Gnaden«, sagte Herr Schmenckel, wohlgefällig lächelnd.

»Die Weiber sind wie das Wetter. Heute zu heiß und morgen zu kalt; heute scheint die Sonne, morgen regnet's. Man muß sich eben halt alles von ihnen gefallen lassen, wie vom lieben Herrgott selber.«

»Das käme doch im Grunde nur auf Sie an«, sagte Berger, dessen Blick unverwandt nur auf dem jovialen Gesellen weilte, als könnte sein Geist ein so wunderliches Phänomen nicht fassen.

»Wie das, alter Knabe? Ihr meint, man solle sie alle zusammen laufen lassen? Na, alter Herr, das mag für Euch ganz gut sein, aber Kaspar Schmenckel müßt Ihr so etwas nicht zumuten. Der Tausend auch! Die Weiber laufen lassen? Lieber tot und begraben sein.«

»Das wäre allerdings das beste«, sagte Berger.

»Hört, alter Herr«, erwiderte der Direktor, »versündigt Euch nicht! Ich sage noch einmal, das Leben ist ein gutes Ding und den Teufel soll man nicht an die Wand malen. Ei was! Warum laßt Ihr Euer Bier schal werden und schneidet ein Gesicht wie ein Lohgerber, dem die Felle weggeschwommen sind? Hier, stoßt an mit Kaspar Schmenckel! So, das ist recht. Der Schmenckel ist ein lustiges Haus und mag gern lustige Leute in seiner Gesellschaft sehen. He, ihr Herren, wie wär's mit einem hübschen Lied? Cotterby, Ihr habt eine Stimme wie eine Nachtigall. Kommt, stimmt mit ein! Kennen Euer Gnaden dies Lied von den Schwaben?«

»Nein, aber singen Sie es nur.«

»Na, Stolzenberg, Pierrot, singt mit!«

Und Herr Schmenckel nahm die Pfeife aus dem Mund, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und begann mit einem dröhnenden Baß, während seine drei Gesellen den Chor bildeten.

»Guten Morgen, Spielmann,
Wo bleibst du so lang?
Da drunten, da droben,
Da tanzen die Schwoben
Mit der kleinen Killekeia,
Mit der großen Kumkum.

Da kamen die Weiber
Mit Sicheln und Scheiben
Und wollten den Schwoben
Das Tanzen vertreiben
Mit der kleinen Killekeia,
Mit der großen Kumkum.«

»Gelt, ihr Herren, das ist ein schönes Lied!« rief Herr Schmenckel, nachdem er als Finale den Tisch mit seinen beiden Fäusten bearbeitet hatte, daß die Gläser zu tanzen begannen. »Es erinnert mich an eine hübsche Geschichte, die ich den Herren doch erzählen muß. Ihr könnt hernach weitersingen, Cotterby!«

Der Ägypter schien diese Unterbrechung etwas übelzunehmen; aber Herr Schmenckel bemerkte es nicht oder wollte es nicht bemerken. Er tat einen tiefen Zug aus seinem Glase und sagte zu dem Schenkmädchen, das der Gesang oder die Anwesenheit des jungen vornehmen Fremden wieder an den Tisch gelockt hatte: »Gehen Sie ein bißchen weiter weg, mein Schatz. Die Geschichte, die Direktor Schmenckel erzählen will, ist keine Geschichte für junge Mädchen.«

Die hübsche Kleine wurde bis über die Ohren rot und entfernte sich schleunig mit einem Blick auf Oswald. Herr Schmenckel räusperte sich, lehnte sich vornüber auf den Tisch und begann mit einer Stimme, die in diesem gedämpften Ton noch heiserer klang als gewöhnlich:

»Meine Herren, Sie wissen, es gibt für den denkenden Menschen zwei Arten von Frauenzimmern, solche, die dienen, und solche, die sich bedienen lassen. Aber für die Liebe existiert dieser Unterschied nicht, denn die Liebe beherrscht sie beide. Diese Erfahrung habe ich nun zwar des öfteren in meinem Leben gemacht, niemals aber ist es mir so deutlich demonstriert worden als vor einigen – hier sah sich Herr Schmenckel scheu um, ob auch kein unberufenes, besonders weibliches Ohr die chronologische Notiz, die er zu geben im Begriffe war, auffangen könnte – zwanzig Jahren in Petersburg. Ist einer von den Herren je in Petersburg gewesen?«

Man verneinte die Frage.

»Wie kamen Sie nach Petersburg, Herr Direktor?« sagte ein Lichtenauer Bürgerssohn, der sich mittlerweile der Gesellschaft angeschlossen hatte.

»Beim Schmenckel«, erwiderte der Direktor im Ton der Belehrung, »darf man sich nimmer wundern, wenn er an einem Orte gewesen ist. – Petersburg, meine Herren, ist eine schöne Stadt, was Sie schon daraus ersehen können, daß die Paläste des Kaisers und aller Großen aus blitzblankem, blauem und weißem Eis erbaut sind.«

»Wie ist denn das möglich?« fragte der Bürgerssohn, »die müssen doch im Sommer schmelzen?«

»Im Sommer«, sagte Herr Schmenckel, ohne sich einschüchtern zu lassen, »im Sommer? Ja, da kommen Sie schön an! Ich sage Ihnen, Herr, es gibt in Petersburg keinen Sommer. Schnee und Eis und Eis und Schnee das liebe lange Jahr hindurch von Silvester bis wieder Silvester.

Also: wir waren in Petersburg und es gefiel uns da sehr gut – uns, das heißt, der berühmten Kunstreiter-Gesellschaft meines Onkels und damaligen Direktors Franz Schmenckel, in der ich als Herkules engagiert zu sein die Ehre hatte. Ich kann wohl sagen, daß wir Furore machten, besonders unsere Pferde; denn die Russen kennen Pferde nur von Hörensagen; höchstens daß der Kaiser vielleicht zwei oder drei zottige, wie große Hunde aussehende Tiere in seinen Ställen hat. Alle übrigen fahren, wie ich schon bemerkte, nur mit Rentieren, selbst die Kavallerie ist darauf angewiesen, und ich versichere Sie, meine Herren, daß so ein russischer Garde-Kürassier-Leutnant auf seinem Rentierhengst sich gar nicht so übel ausnimmt.

Wir hatten ganz ungeheuren Zulauf. Der Kaiser und der ganze Hof waren jeden Abend in unserm Zirkus. Se. Majestät applaudierte so wütend, daß er alle fünf Minuten ein neues Paar weißer Glacéhandschuhe anziehen mußte, weil sie die andern zerklatscht hatte. In den Zwischenakten hatte ich an der Tür der kaiserlichen Loge zu stehen, um Se. Majestät hinter die Kulissen und in die Pferdeställe zu führen, wo Allerhöchstdieselbe den besten Pferden huldvoll auf den Hals zu patschen und den hübschesten Damen der Gesellschaft in die Wangen zu kneifen geruhte.

Vor allem aber hatte ich mich der Gunst des Kaisers zu erfreuen. Warum, weiß ich selbst nicht; aber so viel ist gewiß, daß der Kaiser mich gleich am ersten Abend in seine Loge rufen ließ und vor dem ganzen Hofe zu mir sagte: ›Herr Schmenckel‹, sagte er, ›Sie sind nicht nur der stärkste, sondern auch der schönste Mann, den ich je gesehen habe. Bitten Sie sich eine Gnade aus.‹ – ›Eure Majestät‹, erwiderte ich, mich anmutig verbeugend, ›ich bitte um Ihr ferneres geschätztes Wohlwollen.‹ ›Das sollen Sie haben, und den Adel dazu‹, rief Se. Majestät im höchsten Enthusiasmus, ›geben Sie mir Ihre starke Hand, Herr von Schmenckel! Mit einer Kompagnie solcher Männer wie Sie diktiere ich die Gesetze für die Welt.‹

Seit diesem Augenblicke waren wir geschworene Freunde. ›Von Schmenckel, kommen Sie heute abend zu einer Tasse Karawanentee zu mir! – Wollen Sie heute abend nach der Vorstellung ein Glas Wutkipunsch mit mir trinken, lieber von Schmenckel! – Sie wissen, ganz unter uns, vielleicht ein paar Herren und Damen vom Hofe? – Wollen Sie?‹ – so ging es einen Tag wie alle Tage.

Nun, meine Herren, der Schmenckel aus Wien ist nicht stolz, aber er bewegt sich gern in guter Gesellschaft –«

Hier machte Herr Schmenckel eine verbindliche Verbeugung gegen seine Zuhörer –

»Und ein Kaiser ist und bleibt am Ende immer ein Kaiser und man freut sich doch, wenn man mit ihm sozusagen auf Du und Du steht.

Es waren famose Abende, die ich so im Schoße der kaiserlichen Familie zubrachte. Die Herren vom Hofe waren sehr liebenswürdig und die Frauen –« Herr Schmenckel drückte die Augen zu und warf eine Kußhand gegen die Decke des Zimmers.

»Die Frauen! Ich sage Ihnen, meine Herren, wer die russischen Frauen nicht gesehen hat, hat gar keine Frauen gesehen. Diese Haare, diese Augen, dieser Wuchs, dieses Feuer – und wenn der Schmenckel viertausend Jahre alt werden sollte, er wird den Winter in Petersburg nicht vergessen.

Die russischen Frauen sind schön, und Sie werden einen Anflug von Neid empfinden, meine Herren, wenn ich Ihnen sage, daß ich unter den schönsten der schönen die Auswahl hatte. Das klingt wie Aufschneiderei, meine Herren; aber, ich kann Ihnen nicht helfen, es war so. Ich bekam ganze Wagenladungen voll Locken, Blumensträußen und Billets, die alle anfingen: ›Göttlicher Schmenckel‹ oder ›Apollo Schmenckel‹, und alle endigten: ›Ich erwarte Sie da und da zu der und der Stunde.‹

Aber, wie das so zu gehen pflegt, diejenige, um deren Gunst es mir am meisten zu tun war, gehörte nicht zu meinen Verehrerinnen. Es war eine junge, sehr schöne Dame, die ich Abend für Abend im Zirkus sah. Aber sie tat immer entsetzlich vornehm und kalt, obgleich ich mich immer nur vor ihr verbeugte, wenn ich beklatscht wurde.

›Wie gefallen Ihnen unsere Damen, Schmenckel?‹ fragte mich der Kaiser eines Abends, als wir Arm in Arm in seinem Salon auf und ab spazierten.

›So, so, la, la, Euer Majestät!‹ erwiderte ich; denn Verschwiegenheit war immer Kaspar Schmenckels Stärke.

›Sie sind schwer zu befriedigen‹, sagte der Kaiser, ›wie finden Sie die kleine Malikowsky?‹«

»Wie war der Name?« fragte plötzlich Berger, der, die Stirn in die Hand gestützt, dagesessen hatte, den Kopf emporhebend.

»Malikowsky, alter Herr!« wiederholte Herr Schmenckel. »Noch ein Seidel, Herr Wirt! Erlauben die Herren, daß ich mir meine Pfeife stopfe.«

Oswald blickte auf Berger. Es war ihm, als ob ein seltsames Zucken in den stillen ernsten Zügen wühlte und die Augen eine ungewöhnliche Erregung verrieten; aber schon im nächsten Moment hatte Berger den Kopf wieder in die Hand gestützt, und Herr Schmenckel fuhr in seiner Erzählung fort.

›Die kleine Malikowsky?‹ fragte ich, ›wer ist das?‹

›Haben Sie denn die Dame in Schwarz nicht bemerkt, gleich links neben der kaiserlichen Loge? Blasses Gesicht, großes Auge, etwas langes Kinn.‹

›Doch, Majestät! Aber die scheint mir ein scheuer Vogel.‹

›Possen, lieber Schmenckel, alles Possen! Im Vertrauen, die Dame stand in etwas näherer Beziehung zu unserm Hause, als mir lieb war. Wir haben ihr einen Mann verschafft, einen heruntergekommenen polnischen Edelmann; ihr Ruf ist nicht gut, seiner ist schlecht; er hat nichts; sie hat eine halbe Million Seelen –‹«

»Wieviel ist das in Preußisch-Kurant, Herr Direktor?« fragte der dicke Stammgast, ein Viktualienhändler seines Zeichens.

»Fünf Millionen Taler, sechsundzwanzig Silbergroschen, vier Pfennig –, so passen sie sehr gut zusammen. Wenn sie ihn einmal los sein will, schickt sie ihn auf ihre Güter in Polen – eben jetzt ist er wieder unterwegs. Die erobern Sie sich und ich will sagen, der Schmenckel ist nicht nur der stärkste und schönste, er ist auch der glücklichste Mann auf der Welt.‹

›Euer Majestät Wunsch ist für mich Befehl‹, erwiderte ich, ging nach Hause und überlegte, wie ich das Herz der Schönen gewinnen könnte. Nur dadurch, daß du etwas tust, was vor dir noch kein Mann getan hat, sagte ich zu mir, und da, meine Herren, erfand ich das berühmte Schmenckelspiel mit den drei vierundachtzigpfündigen Kanonenkugeln. Am ersten Abend spielte ich mit einer Fangball – sie lächelte; am folgenden mit zweien – sie klatschte in die Händchen; am dritten mit allen dreien – sie warf mir einen Blumenstrauß zu. Jetzt war ich meiner Sache gewiß. Hier aber, meine Herren, muß ich Sie um Entschuldigung bitten, wenn ich meiner Gewohnheit gemäß, sooft eine Dame ins Spiel kommt, von dem Verlauf der Geschichte nur andeutungsweise so viel sage, daß noch an demselben Abend ein allerliebstes Kammerkätzchen bei mir erschien und mich bat, sie zu ihrer Gebieterin zu begleiten, die vor Liebe zu mir sterbe; daß der Schmenckel aus Wien ein viel zu gutes Herz hat, als daß er jemand sollte sterben lassen; und daß die folgenden vier Wochen zu den schönsten seines Lebens gehören.«

»Ihr seid ein glücklicher Mensch, Direktor!« sagte der Fichtenauer Bürgerssohn, der seit vier Jahren die Tochter eines Ratsherrn heimlich liebte und schon so weit mit ihr gekommen war, daß sie ihm einmal beinahe einen Kuß gegeben hätte.

»Wie man's nehmen will, junger Mann«, erwiderte Herr Schmenckel mit väterlichem Wohlwollen, »wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten. Ich wollte hier eigentlich meine Geschichte zu Ende sein lassen; aber zu Nutz und Frommen solcher jungen heißblütigen Gesellen, wie Ihr, Herr Kanzleischreiber Müller, und Ihr Cotterby, Ihr Tausendsakramenter, und Ihr Pierrot, Windbeutel, der Ihr seid, muß ich selbige halt schon auserzählen. Na, merken Sie auf, ihr Herren! Das Kammerkätzchen war nicht weniger in mich verliebt als ihre Herrin, denn, wie ich schon vorher bemerkte, vor der Liebe sind alle Weiber gleich. Was geschieht also? Eines schönen Abends, als ich – in allen Züchten und Ehren, ihr Herren, so wahr ich Kaspar Schmenckel heiße – bei der Dame, wie gewöhnlich meinen Tee trinke, klopft es plötzlich sehr heftig an die Tür, die in die Zimmer des Grafen führte und die von innen verschlossen war. ›Aufgemacht! Aufgemacht!‹ – ›Um Gott, der Graf!‹ flüsterte die Gräfin schreckensbleich, ›die Nadeska hat uns verraten!‹ – ›Aufgemacht, Himmelelement, aufgemacht!‹ – ›Na, das ist eine schöne Bescherung‹, sage ich, ›was wird denn nun?‹ – ›Schmenckel, retten Sie mich!‹ – ›Mit Pläsier, aber wie?‹ – ›Ich eile in meine Schlafstube und schließe hinter mir ab.‹ – ›Sehr schön, aber ich?‹ – ›Sie sind hier eingebrochen, durch das Fenster‹ – dabei riß sie die Fensterflügel auf, nahm den Armleuchter – verschwand durch die zweite Tür, schloß ab und fing an, aus Leibeskräften: ›Hilfe! Hilfe!‹ zu schreien. Na, meine Herren, stellen Sie sich meine Situation vor. Ehe ich mich noch besinnen konnte, was ich tun sollte, brachen die Türflügel auseinander und der Graf mit zwei Pistolen in der Hand stürzte herein und vier bis fünf Kerle mit Lichtern und Knütteln hinterher.«

»Wie sah der Graf aus?« fragte Berger dumpf, ohne den in die Hände gestützten Kopf zu erheben.

»Ja, alter Herr, viel Zeit, ihn mir zu besehen, hatte ich nicht. Ich weiß nur, daß es ein schöner langer Kerl war mit vor Wut blitzenden Augen. ›Habe ich dich, Schurke?‹ brüllte er. – Puff, simm! sauste mir die Kugel am linken; puff, simm! eine andere am rechten Ohr vorbei. Na, ihr Herren, das war doch am Ende auch nicht die rechte Art und Weise, sich bei Kaspar Schmenckel zu introduzieren. Was werde ich also tun? Ich packte meinen Herrn Grafen um den Leib und warf ihn zum Fenster hinaus, und damit, im Fall er sich etwas zerbrochen hätte, gleich Hilfe zur Hand wäre, einen seiner Bedienten hinterher. Die andern ergriffen das Hasenpanier und liefen, was sie laufen konnten; ich ihnen nach durch die Zimmer auf den Vorsaal, die Treppe hinunter; und, meine Herren, als ich erst so weit war – den Weg durch die Haustür auf die Straße fand ich ganz allein. Wie findet Ihr die Geschichte, Professor?« und Herr Schmenckel legte seine breite Hand auf Bergers Schulter.

Berger hob den Kopf in die Höhe. Sein Gesicht war totenbleich; seine Augen rollten; das graue Haar hing ihm über die Stirn.

»Wenn du die Wahrheit sprechen kannst, Mensch!« sagte er mit einer hohlen, unheimlichen Stimme, »antworte mir: Hast du die Wahrheit gesprochen?«

»Ich glaub', der alte Herr hat ein wenig zuviel getrunken«, sagte Herr Schmenckel.

»Ja, ich habe zuviel getrunken«, rief Berger, heftig mit den Händen gestikulierend, »zu viel von dem eklen Gebräu dieses jämmerlichen, nichtsnutzigen Lebens, und der Trank ist mir zu Kopf gestiegen.«

Es war ein fürchterliches Lachen; aber den halbberauschten Zechern kam es sehr lustig vor.

»Ho, ho, nun kommt der Professor in Gang!« rief Herr Schmenckel, sich die Seiten haltend. »Rede halten, Rede halten! Der Professor soll 'ne Rede halten.«

Oswald war aufgesprungen und zu Berger getreten; er versuchte in seiner Herzensangst den Exaltierten mit freundlichen Worten zu beruhigen und zum Fortgehen zu bewegen.

Berger achtete nicht auf ihn. Er stand da, sich mit beiden Händen auf den Tisch lehnend, wie Oswald es ihn im Auditorium hatte tun sehen.

»Schreiben Sie, meine Herren«, rief er, »es ist die Quintessenz des langen Syllogismus, dessen einzelne Teile ich Ihnen soeben analysiert habe:

›Ich stieg auf einen Birnenbaum,
Rüben wollt' ich graben,
Da hab' ich all mein Leben lang
Keine besseren Pflaumen gegessen.‹

Sie werden mir antworten, daß dies keine spekulative Idee, sondern ein altes Schlemperlied ist, aber, meine Herren, in einer Welt, wo die Guten verhöhnt und von schadenfrohen Dämonen genasführt werden; wo der Aberwitz mit der Schellenkappe auf dem Haupt regiert und seine erhabenen Gedanken von der Dummheit, der Gemeinheit, der Brutalität ausführen läßt – da ist eben die Spekulation ein Schlemperstückchen und die Idee – die glorreiche, hochherrliche Idee – das sind Sie ja eben selbst, meine Herren, gemeine, rohe Gesellen, wie Sie sind.«

»Oho, nit so grob, Alter«, rief Herr Schmenckel, der kaum noch lachen konnte.

»Ja, ja, Sie selbst«, fuhr Berger heftiger und immer heftiger werdend fort, »Sie selbst, Herr Direktor Kaspar Schmenckel aus Wien, Sie repräsentieren die Gerechtigkeit des Himmels. Die Idee kann nichts ohne Sie; Sie sind die Idee, die inkarnierte Idee! Ich sagte Ihnen, das Leben sei nichtswürdig, aber nein – das ist noch viel zu viel – es ist Ihrer würdig.«

»An mein Herz, alter Knabe«, rief Herr Schmenckel, Berger an seine breite Brust drückend, »du bist ein kreuzfideles Haus, wir müssen Brüderschaft trinken.«

Er ließ Berger aus den Armen und griff nach dem Glase.

In demselben Augenblick sank Berger, die Hand aufs Herz pressend, mit einem gellenden Schrei ohnmächtig zusammen.

Es war ein Schrei, fürchterlich, wie der Hilferuf eines Ertrinkenden in dem Augenblicke des Untersinkens; ein Schrei, der den wüsten Lärm in der Stube übertönte, das Singen und Geschnatter zum Schweigen brachte und die Zecher bestürzt von ihren Sitzen in die Höhe fahren ließ. Sie drängten sich mit verstörten Gesichtern herzu und glotzten mit den stumpfsinnigen von Bier stieren Augen auf den Unglücklichen, den Oswald vom Boden aufzurichten sich bemühte. Niemand legte Hand an, dem jungen Manne zu helfen. Der Schrecken schien die Leute paralysiert zu haben.

»Will mir denn keiner beistehen?« rief Oswald, die Last des leblosen Körpers in den Armen haltend.

Diese letzten Worte wurden an Herrn Schmenckel gerichtet, der bis jetzt mit offenem Munde und starren Augen, die Tabakspfeife in der einen, das Bierglas in der andern Hand, regungslos dagestanden hatte.

Oswalds Aufforderung brachte ihn wieder zur Besinnung.

»Habt recht, Herr Graf«, sagte er, »müssen was tun für den alten Herrn.«

Er legte seine Pfeife auf den Tisch, nahm Oswald den noch immer besinnungslosen Berger aus den Armen, hob ihn in die Höhe und trug ihn aus dem Zimmer, wie ein Löwe eine tote Gazelle wegträgt.

Oswald und der Wirt folgten.

»Hier, hier herein«, sagte der Wirt, die Tür des auf der andern Seite des Flurs liegenden Zimmers öffnend, wo die vornehmeren Reisenden abzusteigen pflegten.

Herr Schmenckel legte den Ohnmächtigen auf das Sofa.

»Der alte Herr hat nichts Ordentliches im Magen gehabt«, sagte Direktor Schmenckel im Ton der Belehrung flüsternd zu Oswald, der sich um den Kranken bemühte, »Euer Gnaden hätten ihm erst vorher ein tüchtiges Stück Schinken mit Schwarzbrot und einen Nordhäuser geben lassen sollen.«

Da begann Berger sich zu regen. Er schlug die Augen auf und blickte die um ihn Herumstehenden verwundert an, wie jemand, der aus einem schweren Traum erwacht. Dann richtete er sich mit Oswalds Hilfe vollends auf und sagte mit leiser Stimme:

»Ich danke euch, meine Freunde. Ich habe euch Mühe gemacht. Wir sind in diesem Leben einer auf den andern angewiesen. Ich denke, euch bald wiederzusehen; vielleicht, daß ich euch noch einmal eure Liebe vergelten kann. Komm, Oswald, wir wollen gehen.«

»Fühlen Sie sich kräftig genug? Soll ich nicht lieber einen Wagen kommen lassen?«

»Nicht doch; Roß und Wagen ist nicht für mich und meinesgleichen.«

Er schritt nach der Tür. Plötzlich blieb er wieder stehen.

»Gib den Leuten, was wir schuldig sind, Oswald, wir dürfen nichts schuldig bleiben auf Erden.«

Oswald bezahlte dem Wirt die Zeche, in die, zur sichtlichen Befriedigung Herrn Schmenckels, auch was die Seiltänzer verzehrt hatten, eingerechnet wurde.

Einige Augenblicke später hatten er und Berger das Haus verlassen und schritten durch die stillen Gassen von Fichtenau zurück nach Doktor Birkenhains Anstalt.

Berger beobachtete ein Schweigen, das Oswald nicht zu unterbrechen wagte. Der junge Mann machte sich im stillen heftige Vorwürfe über seine Unbesonnenheit, Berger so lange in solcher Gesellschaft gelassen zu haben. Er glaubte, daß es vor allen Dingen die Hitze und der ungewohnte Genuß des starken Bieres gewesen sei, was Berger in den exaltierten Zustand gebracht habe. Er hatte keine Ahnung, in welch enger Beziehung die fratzenhaft abenteuerliche Geschichte des Seiltänzerdirektors, auf die er nebenbei kaum hingehört hatte, mit der Leidensgeschichte des unglücklichen Freundes stand. Er dachte an Doktor Birkenhain, und wie schlecht er den Auftrag des Arztes erfüllt habe; er überlegte bei sich, ob seine Anwesenheit nicht eher schädlich als dienlich für Berger und ob es nicht, für den Kranken sowohl als für ihn selbst, geratener sei, wenn er Fichtenau sobald als möglich wieder verließe.

So waren sie schweigend bis auf den Weg gelangt, der an der Mühle vorbei zu dem Torweg von Doktor Birkenhains Anstalt zuführte, als Berger plötzlich sagte:

»Du mußt heute noch reisen, Oswald!«

»Heute?«

»Heute lieber, als morgen. Du mußt noch einmal in die Wüste hinaus; ich kann es dir nicht ersparen. Und ich selbst, ich habe noch viel zu lernen, worin du mir nicht helfen kannst. So müssen wir uns trennen. Geh du deine Straße; ich will die meine gehen; es ist dieselbe, und ob ich dir auch ein wenig voraus bin, du lernst schnell und wirst mich bald einholen. Bis dahin, Oswald, lebe wohl!«

Berger schloß Oswald in seine Arme und küßte ihn.

Oswald war tief bewegt.

»Laß mich bei dir bleiben«, sagte er mit von Tränen halb erstickter Stimme, »laß mich bei dir bleiben, um nie wieder von dir zu gehen. Ich hasse die Welt, ich verachte die Welt wie du.«

»Ich weiß es wohl«, sagte Berger, »aber die Welt verachten ist nur das erste Stadium von den dreien bis zu dem großen Geheimnis.«

»Und welches ist das zweite Stadium? Nenne es mir, daß ich es im Fluge durchmesse!«

»Sich selbst verachten.«

»Und – das dritte?«

Sie standen an dem Torweg. Berger zog die Klingel, die Tür sprang auf.

»Und das dritte, letzte Stadium?«

»Verachten, daß man verachtet wird.«

»Und das Geheimnis selbst, das große Geheimnis?«

»Wer die drei Stadien durchgemacht hat, weiß es und versteht es, ohne daß er fragt. Wer danach fragt, weiß es nicht und würde es nicht verstehen. Oswald, lebe wohl! Auf Wiedersehen!«

Berger drückte Oswald noch einmal an sein Herz und trat durch die Pforte, die sich sofort wieder hinter ihm schloß.

Oswald blieb vor der Pforte stehen, einem Bettler gleich, dem der Trunk, um den er bat, verweigert wurde. Dann ging er gesenkten Hauptes den Weg, den er mit Berger gekommen war, zurück.

Die Nacht war dunkel; kaum ein Stern an dem trüben, wolkenbedeckten Himmel; die Pappeln am Wege raunten und zischelten und der Mühlbach unten schwatzte es nach: Die Welt verachten – sich selbst verachten – verachten, daß man verachtet wird!


 << zurück weiter >>