Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Es bleibt noch übrig, den Ausgang der abendländischen Wissenschaft überhaupt zu zeichnen, der heute, wo der Weg sich leise abwärts senkt, mit Sicherheit übersehen werden kann.

Auch das, die Voraussicht des unabwendbaren Schicksals, gehört zur Mitgift des historischen Blicks, den nur der faustische Geist besitzt. Auch die Antike starb, aber sie wußte nichts davon. Sie glaubte an ein ewiges Sein. Sie hat noch ihre letzten Tage mit rückhaltlosem Glück, jeden für sich, als Geschenk der Götter durchlebt. Wir kennen unsere Geschichte. Es steht uns noch eine letzte geistige Krisis bevor, welche die ganze europäisch-amerikanische Welt ergreifen wird. Ihren Verlauf erzählt der späte Hellenismus. Die Tyrannei des Verstandes, die wir nicht empfinden, weil wir selbst ihren Gipfel darstellen, ist in jeder Kultur eine Epoche zwischen Mann und Greis, nicht mehr. Ihr deutlichster Ausdruck ist der Kultus der exakten Wissenschaften, der Dialektik, des Beweises, der Erfahrung, der Kausalität. Die Ionik und das Barock zeigen seinen Aufschwung; es fragt sich, in welcher Gestalt er zu Ende geht.

Ich sage es voraus: Noch in diesem Jahrhundert, dem des wissenschaftlich-kritischen Alexandrinismus, der großen Ernten, der endgültigen Fassungen, wird ein neuer Zug von Innerlichkeit den Willen zum Siege der Wissenschaft überwinden. Die exakte Wissenschaft geht der Selbstvernichtung durch Verfeinerung ihrer Fragestellungen und Methoden entgegen. Man hatte zuerst ihre Mittel geprüft – im 18. Jahrhundert, dann ihre Macht – im 19.; man durchschaut endlich ihre geschichtliche Rolle. Von der Skepsis aber führt ein Weg zur »zweiten Religiosität«,Vgl. Bd. II, s. 941 f. die nicht vor, sondern nach einer Kultur kommt. Man verzichtet auf Beweise; man will glauben, nicht zergliedern. Die kritische Forschung hört auf, ein geistiges Ideal zu sein.

Der Einzelne leistet Verzicht, indem er die Bücher weglegt. Eine Kultur verzichtet, indem sie aufhört, sich in hohen wissenschaftlichen Intelligenzen zu offenbaren; aber Wissenschaft existiert nur im lebendigen Denken großer Gelehrtengenerationen, und Bücher sind nichts, wenn sie nicht in Menschen, die ihnen gewachsen sind, lebendig und wirksam werden. Wissenschaftliche Resultate sind lediglich Elemente einer geistigen Tradition. Der Tod einer Wissenschaft besteht darin, daß sie niemandem mehr Ereignis wird. Aber zweihundert Jahre Orgien der Wissenschaftlichkeit – dann hat man es satt. Nicht der Einzelne, die Seele der Kultur hat es satt. Sie drückt das aus, indem sie ihre Forscher, die sie in die geschichtliche Welt des Tages hinaufsendet, immer kleiner, enger, unfruchtbarer wählt. Das große Jahrhundert der antiken Wissenschaft war das dritte, nach dem Tode des Aristoteles. Als die Römer kamen, als Archimedes starb, war es fast schon zu Ende. Unser großes Jahrhundert ist das neunzehnte gewesen. Gelehrte im Stile von Gauß, Humboldt, Helmholtz waren schon um 1900 nicht mehr da; in der Physik wie in der Chemie, der Biologie wie der Mathematik sind die großen Meister tot, und wir erleben heute das Decrescendo der glänzenden Nachzügler, die ordnen, sammeln und abschließen wie die Alexandriner der Römerzeit. Es ist das allgemeine Symptom für alles, was nicht zur Tatsachenseite des Lebens, zu Politik, Technik und Wirtschaft gehört. Nach Lysipp ist kein großer Plastiker mehr gekommen, dessen Erscheinung ein Schicksal gewesen wäre, nach den Impressionisten kein Maler, nach Wagner kein Musiker mehr. Das Zeitalter des Cäsarismus bedarf keiner Kunst und Philosophie. Auf Eratosthenes und Archimedes, die eigentlichen Schöpfer, folgen Poseidonios und Plinius, die mit Geschmack sammeln, und endlich Ptolemäus und Galen, die nur noch abschreiben. Wie die Ölmalerei und die kontrapunktische Musik ihre Möglichkeiten in einer kleinen Zahl von Jahrhunderten einer organischen Entwicklung erschöpft haben, so ist die Dynamik, deren Formenwelt um 1600 aufblüht, ein Gebilde, das heute im Zerfall begriffen ist.

Zuvor aber erwächst dem faustischen, eminent historischen Geist eine noch nie gestellte, noch nie als möglich geahnte Aufgabe. Es wird noch eine Morphologie der exakten Wissenschaften geschrieben werden, die untersucht, wie alle Gesetze, Begriffe und Theorien als Formen innerlich zusammenhängen und was sie als solche im Lebenslauf der faustischen Kultur bedeuten. Die theoretische Physik, die Chemie, die Mathematik als Inbegriff von Symbolen betrachtet – das ist die endgültige Überwindung des mechanischen Weltaspekts durch die intuitive, wiederum religiöse Weltansicht. Es ist das letzte Meisterstück einer Physiognomik, welche auch noch die Systematik als Ausdruck und Symbol in sich auflöst. Wir werden künftig nicht mehr fragen, welche allgemein gültigen Gesetze der chemischen Affinität oder dem Diamagnetismus zugrunde liegen – eine Dogmatik, die das 19. Jahrhundert ausschließlich beschäftigt hat –, wir werden sogar erstaunt sein, daß Fragen wie diese einst Köpfe von solchem Range völlig beherrschen konnten. Wir werden untersuchen, woher diese dem faustischen Geiste vorbestimmten Formen kommen, warum sie uns Menschen einer einzelnen Kultur im Unterschiede von jeder andern kommen mußten, welcher tiefere Sinn darin liegt, daß die gewonnenen Zahlen gerade in dieser bildhaften Verkleidung in Erscheinung traten. Und dabei ahnen wir heute kaum, was alles von den vermeintlich objektiven Werten und Erfahrungen nur Verkleidung, nur Bild und Ausdruck ist.

Die einzelnen Wissenschaften, Erkenntnistheorie, Physik, Chemie, Mathematik, Astronomie, nähern sich einander mit wachsender Geschwindigkeit. Wir gehen einer vollkommenen Identität der Ergebnisse und damit einer Verschmelzung der Formenwelten entgegen, die einerseits ein auf wenige Grundformeln zurückgeführtes System von Zahlen funktionaler Natur darstellt, andrerseits als deren Benennung eine kleine Gruppe von Theorien bringt, die endlich als verschleierter Mythos der Frühzeit wiedererkannt und ebenfalls auf einige bildhafte Grundzüge, aber von physiognomischer Bedeutung zurückgeführt werden können und müssen. Man hat diese Konvergenz nicht bemerkt, weil seit Kant und eigentlich schon seit Leibniz kein Gelehrter mehr die Problematik aller exakten Wissenschaften beherrschte.

Noch vor hundert Jahren waren Physik und Chemie einander fremd; heute sind sie einzeln nicht mehr zu behandeln. Man denke an die Gebiete der Spektralanalyse, Radioaktivität und Wärmestrahlung. Vor fünfzig Jahren war das Wesentliche der Chemie noch fast ohne Mathematik darstellbar; heute sind die chemischen Elemente im Begriff, sich in mathematische Konstanten variabler Beziehungskomplexe zu verflüchtigen. Die Elemente aber waren in ihrer sinnlichen Faßlichkeit die letzte antik-plastisch anmutende Größe der Naturwissenschaft gewesen. Die Physiologie steht im Begriff, ein Kapitel der organischen Chemie zu werden und sich der Mittel der Infinitesimalrechnung zu bedienen. Die nach Sinnesorganen wohlunterschiedenen Teile der älteren Physik, Akustik, Optik, Wärmelehre sind aufgelöst und zu einer Dynamik der Materie und einer Dynamik des Äthers verschmolzen, deren rein mathematische Grenze sich bereits nicht mehr aufrechterhalten läßt. Heute vereinigen sich die letzten Betrachtungen der Erkenntnistheorie mit solchen der höheren Analysis und theoretischen Physik zu einem sehr schwer zugänglichen Gebiete, dem z. B. die Relativitätstheorie angehört oder angehören sollte. Die Emanationstheorie der radioaktiven Strahlenarten wird durch eine Zeichensprache dargestellt, der nichts Anschauliches mehr anhaftet.

Die Chemie ist im Begriff, statt der schärfsten anschaulichen Bestimmung der Qualitäten von Elementen (Wertigkeit, Gewicht, Affinität, Reagibilität) diese sinnlichen Züge vielmehr zu beseitigen. Daß die Elemente je nach ihrer »Abstammung« aus Verbindungen verschieden charakterisiert sind; daß sie Komplexe verschiedenartiger Einheiten darstellen, die zwar experimentell (»wirklich«) als Einheit höherer Ordnung wirken und mithin praktisch nicht trennbar sind, hinsichtlich ihrer Radioaktivität aber tiefe Verschiedenheiten aufweisen; daß durch die Emanation von strahlender Energie ein Abbau stattfindet und man also von einer Lebensdauer der Elemente reden darf, was offenbar dem ursprünglichen Begriff des Elements und damit dem Geiste der von Lavoisier geschaffenen modernen Chemie völlig widerspricht – alles das rückt diese Vorstellungen in die Nähe der Entropielehre mit ihrem bedenklichen Gegensatz von Kausalität und Schicksal, Natur und Geschichte, und kennzeichnet den Weg unsrer Wissenschaft einerseits zur Aufdeckung der Identität ihrer logischen oder zahlenmäßigen Befunde mit der Struktur des Verstandes selbst, andrerseits zu der Einsicht, daß die gesamte, diese Zahlen einkleidende Theorie lediglich den symbolischen Ausdruck des faustischen Lebens darstellt.

An dieser Stelle ist endlich als eines der wichtigsten Fermente der gesamten Formenwelt die echt faustische Mengenlehre zu nennen, die im schärfsten Gegensatz zur älteren Mathematik nicht mehr die singulären Größen, sondern den Inbegriff morphologisch irgendwie gleichartiger Größen, etwa die Gesamtheit aller Quadratzahlen oder aller Differentialgleichungen von bestimmtem Typus, als neue Einheit, als neue Zahl höherer Ordnung auffaßt und neuartigen, früher ganz unbekannten Überlegungen bezüglich ihrer Mächtigkeit, Ordnung, Gleichwertigkeit, AbzählbarkeitDie »Menge« der rationalen Zahlen ist abzählbar, die der reellen nicht. Die Menge der komplexen Zahlen ist zweidimensional; daraus folgt der Begriff der n-dimensionalen Menge, welcher auch die geometrischen Gebiete in die Mengenlehre einordnet. unterwirft. Man charakterisiert die endlichen (abzählbaren, begrenzten) Mengen hinsichtlich ihrer Mächtigkeit als »Kardinalzahlen«, hinsichtlich ihrer Ordnung als »Ordinalzahlen« und stellt die Gesetze und Rechnungsarten derselben auf. So ist eine letzte Erweiterung der Funktionentheorie, die ihrer Formensprache nach und nach die gesamte Mathematik einverleibt hatte, in Verwirklichung begriffen, wonach sie in bezug auf den Charakter der Funktionen nach Prinzipien der Gruppentheorie, in bezug auf den Wert der Variablen nach mengentheoretischen Grundsätzen verfährt. Die Mathematik ist sich dabei der Tatsache vollkommen bewußt, daß hier die letzten Erwägungen über das Wesen der Zahl mit denen der reinen Logik zusammenfließen, und man spricht von einer Algebra der Logik. Die moderne geometrische Axiomatik ist vollkommen ein Kapitel der Erkenntnistheorie geworden.

Das unvermerkte Ziel, dem dies alles zustrebt und das insbesondere jeder echte Naturforscher als Trieb in sich empfindet, ist das Herausarbeiten einer reinen, zahlenmäßigen Transzendenz, die vollkommene und restlose Überwindung des Augenscheins und dessen Ersatz durch eine dem Laien unverständliche und unvollziehbare Bildersprache, welcher das große faustische Symbol des unendlichen Raumes innere Notwendigkeit verleiht. Der Kreislauf der Naturerkenntnis des Abendlandes vollendet sich. Mit dem tiefen Skeptizismus dieser letzten Einsichten knüpft der Geist wieder an die Formen frühgotischer Religiosität an. Die anorganische, erkannte, zergliederte Umwelt, die Welt als Natur, als System ist zu einer reinen Sphäre funktionaler Zahlen vertieft worden. Wir hatten die Zahl als eines der ursprünglichsten Symbole jeder Kultur erkannt, und so folgt, daß der Weg zur reinen Zahl die Rückkehr des Wachseins zu seinem eignen Geheimnis, die Offenbarung seiner eignen formalen Notwendigkeit ist. Am Ziele angelangt, enthüllt sich endlich das ungeheure, immer unsinnlicher, immer durchscheinender gewordene Gewebe, das die gesamte Naturwissenschaft umspinnt: es ist nichts andres als die innere Struktur des wortgebundenen Verstehens, das den Augenschein zu überwinden, von ihm »die Wahrheit« abzulösen glaubte. Darunter aber erscheint wieder das Früheste und Tiefste, der Mythos, das unmittelbare Werden, das Leben selbst. Je weniger anthropomorph die Naturforschung zu sein glaubt, desto mehr ist sie es. Sie beseitigt nach und nach die einzelnen menschlichen Züge des Naturbildes, um endlich als die vermeintlich reine Natur die Menschlichkeit selbst, rein und ganz, in Händen zu halten. Aus der gotischen Seele ging, das religiöse Weltbild überschattend, der städtische Geist hervor, das alter ego der irreligiösen Naturerkenntnis. Heute, in der Abendröte der wissenschaftlichen Epoche, im Stadium des siegenden Skeptizismus, lösen sich die Wolken, und die Landschaft des Morgens ruht wieder in vollkommener Deutlichkeit.

Der letzte Schluß faustischer Weisheit ist, wenn auch nur in ihren höchsten Momenten, die Auflösung des gesamten Wissens in ein ungeheures System morphologischer Verwandtschaften. Dynamik und Analysis sind dem Sinne, der Formensprache, der Substanz nach identisch mit der romanischen Ornamentik, den gotischen Domen, dem christlich-germanischen Dogma und dem dynastischen Staat. Ein und dasselbe Weltgefühl redet aus allen. Sie sind mit der faustischen Seele geboren und alt geworden. Sie stellen ihre Kultur als geschichtliches Schauspiel in der Welt des Tages und des Raumes dar. Die Vereinigung der einzelnen wissenschaftlichen Aspekte zum Ganzen wird alle Züge der großen Kunst des Kontrapunkts tragen. Eine infinitesimale Musik des grenzenlosen Weltraums – das ist immer die tiefe Sehnsucht dieser Seele im Gegensatz zur antiken mit ihrem plastisch-euklidischen Kosmos gewesen. Das ist, als Denknotwendigkeit des faustischen Weltverstandes auf die Formel einer dynamisch-imperativischen Kausalität gebracht, zu einer diktatorischen, arbeitenden, die Erde umgestaltenden Naturwissenschaft entwickelt, ihr großes Testament für den Geist kommender Kulturen – ein Vermächtnis von Formen gewaltigster Transzendenz, das vielleicht niemals eröffnet werden wird. Damit kehrt eines Tages die abendländische Wissenschaft, ihres Strebens müde, in ihre seelische Heimat zurück.


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