Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Aus dieser großartigen Intuition symbolischer Raumwelten folgt die letzte und abschließende Fassung der gesamten abendländischen Mathematik, die Erweiterung und Vergeistigung der Funktionentheorie zur Gruppentheorie. Gruppen sind Mengen oder Inbegriffe gleichartiger mathematischer Gebilde, also z. B. die Gesamtheit aller Differentialgleichungen von einem gewissen Typus, Mengen, die dem Dedekindschen Zahlenkörper analog gebaut und geordnet sind. Es handelt sich, wie man fühlt, um Welten ganz neuer Zahlen, die für das innere Auge des Eingeweihten doch nicht ganz ohne eine gewisse Sinnlichkeit sind. Es werden nun Untersuchungen gewisser Elemente dieser ungeheuer abstrakten Formsysteme notwendig, welche in bezug auf eine einzelne Gruppe von Operationen – von Transformationen des Systems – von deren Wirkungen unabhängig bleiben, Invarianz besitzen. Die allgemeine Aufgabe dieser Mathematik erhält also (nach Klein) die Form: »Es ist eine n-dimensionale Mannigfaltigkeit (»Raum«) und eine Gruppe von Transformationen gegeben. Die der Mannigfaltigkeit angehörigen Gebilde sollen hinsichtlich solcher Eigenschaften untersucht werden, die durch Transformationen der Gruppe nicht geändert werden.«

Auf diesem höchsten Gipfel schließt nunmehr – nach Erschöpfung ihrer sämtlichen inneren Möglichkeiten und nachdem sie ihre Bestimmung, Abbild und reinster Ausdruck der Idee des faustischen Seelentums zu sein, erfüllt hat – die Mathematik des Abendlandes ihre Entwicklung ab, in demselben Sinne, wie es die Mathematik der antiken Kultur im 3. Jahrhundert tat. Beide Wissenschaften – es sind die einzigen, deren organische Struktur sich heute schon geschichtlich durchschauen läßt – sind aus der Konzeption einer völlig neuen Zahl durch Pythagoras und Descartes entstanden; beide haben in prachtvollem Aufstieg ein Jahrhundert später ihre Reife erlangt, und beide vollendeten nach einer Blüte von drei Jahrhunderten das Gebäude ihrer Ideen, in derselben Zeit, als die Kultur, der sie angehören, in eine weltstädtische Zivilisation überging. Dieser tiefbedeutsame Zusammenhang wird später aufgeklärt werden. Sicher ist, daß für uns die Zeit der großen Mathematiker vorüber ist. Es ist heute dieselbe Arbeit des Erhaltens, Abrundens, Verfeinerns, Auswählens, die talentvolle Kleinarbeit an Stelle der großen Schöpfungen im Gange, wie sie auch die alexandrinische Mathematik des späteren Hellenismus kennzeichnet.

Das historische Schema auf der folgenden Seite wird dies deutlicher machen.

   
Antike Abendland
1. Konzeption einer neuen Zahl
Um 540
Die Zahl als Größe
Die Pythagoräer

(Um 470 Sieg der Plastiküber die Ölmalerei)
Um 1630
Die Zahl als Beziehung
Descartes, Fermat, Pascal;
Newton, Leibniz (1670)
(Um 1670 Sieg der Musik über die Freskomalerei)
 
2. Höhepunkt der systematischen Entwicklung
450-350
Plato, Archytas, Eudoxos
(Phidias, Praxiteles)
1750-1800
Euler, Lagrange, Laplace
(Gluck, Haydn, Mozart)
3. Innerer Abschluß der Zahlenwelt
300-250
Euklid, Apollonios, Archimedes
(Lysippos, Leochares)
Nach 1800
Gauß, Cauchy, Riemann
(Beethoven)

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