Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

9

Dieser Gedankengang erschließt endlich den Blick auf einen Gegensatz, der den Schlüssel zu einem der ältesten und mächtigsten Menschheitsprobleme bildet, das erst durch ihn zugänglich und – soweit das Wort überhaupt einen Sinn hat – lösbar erscheint: den Gegensatz von Schicksalsidee und Kausalitätsprinzip, der wohl niemals bisher als solcher, in seiner tiefen, weltgestaltenden Notwendigkeit erkannt worden ist.

Wer überhaupt versteht, inwiefern man die Seele als Idee eines Daseins bezeichnen kann, der wird auch ahnen, wie nahe verwandt ihr die Gewißheit eines Schicksals ist und inwiefern das Leben selbst, das ich die Gestalt nannte, in welcher die Verwirklichung des Möglichen sich vollzieht, als gerichtet, als unwiderruflich in jedem Zuge, als schicksalhaft hingenommen werden muß – dumpf und ängstigend vom Urmenschen, klar und in der Fassung einer Weltanschauung, die allerdings nur durch die Mittel der Religion und Kunst, nicht durch Begriffe und Beweise mitgeteilt werden kann, vom Menschen hoher Kulturen.

Jede höhere Sprache besitzt eine Anzahl Worte, die wie von einem tiefen Geheimnis umgeben sind: Geschick, Verhängnis, Zufall, Fügung, Bestimmung. Keine Hypothese, keine Wissenschaft kann je an das rühren, was man fühlt, wenn man sich in den Sinn und Klang dieser Worte versenkt. Es sind Symbole, nicht Begriffe. Hier ist der Schwerpunkt des Weltbildes, das ich die Welt als Geschichte im Unterschiede von der Welt als Natur genannt habe. Die Schicksalsidee verlangt Lebenserfahrung, nicht wissenschaftliche Erfahrung, die Kraft des Schauens, nicht Berechnung, Tiefe, nicht Geist. Es gibt eine organische Logik, eine instinkthafte, traumsichere Logik allen Daseins im Gegensatz zu einer Logik des Anorganischen, des Verstehens, des Verstandenen. Es gibt eine Logik der Richtung gegenüber einer Logik des Ausgedehnten. Kein Systematiker, kein Aristoteles oder Kant hat mit ihr etwas anzufangen gewußt. Sie verstehen von Urteil, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Erinnerung zu reden, aber sie schweigen von dem, was in den Worten Hoffnung, Glück, Verzweiflung, Reue, Ergebenheit, Trotz liegt. Wer hier, im Lebendigen, Gründe und Folgen sucht und wer da glaubt, daß eine tiefinnere Gewißheit über den Sinn des Lebens gleichbedeutend mit Fatalismus und Prädestination sei, der weiß gar nicht, wovon die Rede ist, der hat schon das Erlebnis mit dem Erkannten und Erkennbaren verwechselt. Kausalität ist das Verstandesmäßige, Gesetzhafte, Aussprechbare, das Merkmal unsres gesamten verstehenden Wachseins. Schicksal ist das Wort für eine nicht zu beschreibende innere Gewißheit. Man macht das Wesen des Kausalen deutlich durch ein physikalisches oder erkenntniskritisches System, durch Zahlen, durch begriffliche Zergliederung. Man teilt die Idee eines Schicksals nur als Künstler mit, durch ein Bildnis, durch eine Tragödie, durch Musik. Das eine fordert eine Unterscheidung, also Zerstörung, das andre ist durch und durch Schöpfung. Darin liegt die Beziehung des Schicksals zum Leben, der Kausalität zum Tode.

In der Schicksalsidee offenbart sich die Weltsehnsucht einer Seele, ihr Wunsch nach dem Licht, dem Aufstieg, nach Vollendung und Verwirklichung ihrer Bestimmung. Sie ist keinem Menschen ganz fremd, und erst der späte, wurzellose Mensch der großen Städte mit seinem Tatsachensinn und der Macht seines mechanisierenden Denkens über das ursprüngliche Schauen verliert sie aus den Augen, bis sie in einer tiefen Stunde mit furchtbarer, alle Kausalität der Weltoberfläche zermalmender Deutlichkeit vor ihm steht. Denn die Welt als System kausaler Zusammenhänge ist spät, selten und nur dem energischen Intellekt hoher Kulturen ein sichrer, gewissermaßen künstlicher Besitz. Kausalität deckt sich mit dem Begriff des Gesetzes. Es gibt nur Kausalgesetze. Aber wie im Kausalen nach Kants Feststellung eine Notwendigkeit des denkenden Wachseins liegt, die Grundform seiner Beziehung zur Welt der Dinge, so bezeichnen die Worte Schicksal, Fügung, Bestimmung eine unentrinnbare Notwendigkeit des Lebens. Wirkliche Geschichte ist schicksalsschwer, aber frei von Gesetzen. Man kann die Zukunft ahnen, und es gibt einen Blick, der tief in ihre Geheimnisse dringt, aber man berechnet sie nicht. Der physiognomische Takt, mit dem man aus einem Antlitz ein ganzes Leben, aus dem Bild einer Epoche den Ausgang ganzer Völker abliest, und zwar unwillkürlich und ohne »System«, bleibt weltenfern von aller »Ursache« und »Wirkung«.

Wer die Lichtwelt seiner Augen nicht physiognomisch, sondern systematisch erfaßt, sie durch das Mittel kausaler Erfahrungen sich geistig aneignet, wird zuletzt mit Notwendigkeit alles Lebendige aus der Perspektive von Ursache und Wirkung zu verstehen glauben, ohne Geheimnis, ohne inneres Gerichtetsein. Wer aber wie Goethe, wie jeder Mensch in weitaus den meisten Augenblicken seines wachen Daseins, die Umwelt nur auf seine Sinne eindringen läßt und die Gesamtheit dieses Eindrucks hinnimmt, das Gewordne als werdend fühlt, die starre Weltmaske der Kausalität lüftet, indem er einmal nicht nach-denkt, für den ist die Zeit plötzlich kein Rätsel mehr, kein Begriff, keine »Form«, keine Dimension, sondern etwas innerlich Gewisses, das Schicksal selbst; ihr Gerichtetsein, ihre Nichtumkehrbarkeit, ihre Lebendigkeit erscheint als der Sinn des historischen Weltaspekts. Schicksal und Kausalität verhalten sich wie Zeit und Raum.

In beiden möglichen Weltbildungen, in Geschichte und Natur, der Physiognomie alles Werdens und dem System alles Gewordenen, herrschen also Schicksal oder Kausalität. Zwischen ihnen besteht der Unterschied eines Lebensgefühls und einer Erkenntnisweise. Jedes von ihnen ist der Ausgangspunkt einer vollkommenen und in sich geschlossenen, nur nicht der einzigen Welt.

Aber das Werden liegt dem Gewordenen, das innere und gewisse Fühlen eines Schicksals mithin dem Erkennen von Ursache und Wirkung zugrunde. Kausalität ist – wenn man sich so ausdrücken darf – gewordenes, entorganisiertes, in Formen des Verstandes erstarrtes Schicksal. Das Schicksal selbst, an dem alle Erbauer verstandesmäßiger Weltsysteme wie Kant schweigend vorübergegangen sind, weil sie das Leben mit ihren vom Leben abgezogenen Grundbegriffen nicht zu berühren vermochten, steht jenseits und außerhalb aller begriffenen Natur. Als das Ursprüngliche aber gibt es dem toten und starren Prinzip von Ursache und Wirkung erst die – geschichtlichlebendige – Möglichkeit, innerhalb hochentwickelter Kulturen als Form und Verfassung eines tyrannischen Denkens aufzutreten. Das Dasein der antiken Seele ist die Bedingung für die Entstehung der Methode Demokrits und das der faustischen für diejenige Newtons. Man kann sich sehr wohl denken, daß beide Kulturen ohne eine Naturwissenschaft eignen Stils geblieben wären, aber man kann sich beide Systeme nicht ohne den Untergrund jener Kulturen denken.

Wir erfahren hier wieder, in welchem Sinne Werden und Gewordnes, Richtung und Ausdehnung einander einschließen und

unterordnen, je nachdem wir geschichtlich oder naturhaft »im Bilde sind«. Ist »Geschichte« diejenige Art der Weltfassung, in welcher alles Gewordne dem Werden eingefügt wird, so müßte das auch mit den Ergebnissen der Naturforschung der Fall sein. Und in der Tat, für den Blick des Historikers gibt es nur eine Geschichte der Physik. Es war Schicksal, daß die Entdeckung des Sauerstoffs, des Neptun, der Gravitation, der Spektralanalyse gerade so und damals erfolgte. Es war Schicksal, daß die Phlogistontheorie, die Wellentheorie des Lichts, die kinetische Gastheorie als Deutung gewisser Befunde überhaupt entstanden sind, nämlich als persönlichste Überzeugung einzelner Geister, obwohl andre Theorien – »richtige« oder »falsche« – ebensogut entstehen konnten. Und daß diese Ansicht verschwand und jene das ganze Weltbild der Physik in eine gewisse Richtung lenkte, war wiederum Schicksal und das Ergebnis des Eindrucks einer starken Persönlichkeit. Selbst der geborne Physiker redet vom Schicksal eines Problems und von der Geschichte einer Entdeckung. Umgekehrt: Ist »Natur« die Fassung, welche verstandesmäßig das Werden dem Gewordenen einverleiben möchte, die lebendige Richtung also der starren Ausdehnung, so darf die Geschichte bestenfalls in einem Kapitel der Erkenntnistheorie erscheinen und wirklich, so hätte Kant sie aufgefaßt, wenn er nicht, was noch bezeichnender ist, sie in seinem Erkenntnissystem vollständig vergessen hätte. Für ihn wie für jeden geborenen Systematiker war die Natur die Welt; indem er von der Zeit redete, ohne deren Richtung und Nichtumkehrbarkeit zu bemerken, verriet er, daß er von der Natur sprach, ohne die Möglichkeit einer andern Welt, der historischen – die für ihn vielleicht wirklich unmöglich war –, zu ahnen.

Aber Kausalität hat mit Zeit gar nichts zu tun. Das wirkt heute als Paradoxon ohnegleichen, vor einer Welt von Kantianern, die gar nicht wissen, wie sehr sie es sind. Indessen läßt sich in jeder Formel der abendländischen Physik das Wie dem Wesen nach von dem Wann und Wielange unterscheiden. Der kausale Zusammenhang beschränkt sich, sobald man in die Tiefe dringt, streng darauf, daß etwas geschieht, nicht wann es geschieht. Die »Wirkung« muß mit der »Ursache« notwendig gesetzt sein. Ihr Abstand gehört einer andern Ordnung an. Er liegt im Verstehen selbst als einem Zuge des Lebens, nicht im Verstandenen. Im Wesen des Ausgedehnten ist eine Überwindung des Gerichtetseins enthalten. Der Raum widerspricht der Zeit, obwohl sie ihm als das Tiefere voraufgeht und zugrunde liegt. Denselben Vorrang nimmt das Schicksal in Anspruch. Wir haben zunächst die Idee des Schicksals und erst im Widerspruch zu ihr, aus der Angst geboren, als Versuch des Wachseins, das unentrinnbare Ende, den Tod innerhalb der Sinnenwelt zu bannen, zu überwinden, das Kausalitätsprinzip, durch das die Lebensangst sich des Schicksals zu erwehren sucht, indem sie ihm zum Trotz eine andere Welt begründet. Indem sie das Gespinst von Ursache und Wirkung über deren sinnliche Oberfläche breitet, hat sie ein überzeugendes Bild zeitloser Dauer geschaffen, ein Sein, das mit dem vollen Pathos des reinen Denkens umkleidet wird. Diese Tendenz liegt in dem Gefühl: Wissen ist Macht, das allen reifen Kulturen wohlbekannt ist. Damit ist Macht über das Schicksal gemeint. Der abstrakte Gelehrte, der Naturforscher, der Denker in Systemen, dessen ganze geistige Existenz sich auf das Kausalitätsprinzip gründet, ist eine späte Erscheinung unbewußten Hasses gegen die Mächte des Schicksals, des Unbegreiflichen. Die »reine Vernunft« leugnet alle Möglichkeiten außer sich. Hier liegt das strenge Denken mit der großen Kunst ewig im Streite. Das eine lehnt sich auf, die andre gibt sich hin. Ein Mann wie Kant wird sich Beethoven immer überlegen fühlen wie der Mann dem Kinde, aber er wird Beethoven nicht hindern, die »Kritik der reinen Vernunft« als eine armselige Art von Weltbetrachtung abzulehnen. Der Mißbegriff der Teleologie, dieser Unsinn allen Unsinns innerhalb der reinen Wissenschaft, bedeutet nichts anderes als den Versuch, den lebendigen Gehalt aller naturhaften Erkenntnis – denn zum Erkennen gehört auch ein Erkennender; und ist der Inhalt dieses Denkens »Natur«, so ist der Akt des Denkens Geschichte – und mit ihm das Leben selbst durch das mechanistische Prinzip einer umgekehrten Kausalität sich anzugleichen. Die Teleologie ist eine Karikatur der Schicksalsidee. Was Dante als Bestimmung fühlt, verwandelt der Gelehrte in einen Zweck des Lebens. Dies ist die eigentliche und tiefste Tendenz des Darwinismus, einer großstädtisch-intellektuellen Weltfassung in der abstraktesten aller Zivilisationen, und der aus einer Wurzel mit ihm entspringenden, ebenfalls alles Organische und Schicksalhafte tötenden materialistischen Geschichtsauffassung. Deshalb ist das morphologische Element des Kausalen ein Prinzip, das des Schicksals aber eine Idee – die sich nicht »erkennen«, beschreiben, definieren, die sich nur fühlen und innerlich erleben läßt, die man entweder niemals begreift oder deren man völlig gewiß ist, wie der frühe Mensch und unter den späten alle wahrhaft bedeutenden, der Gläubige, der Liebende, der Künstler, der Dichter.

Und so erscheint das Schicksal als die eigentliche Daseinsart des Urphänomens, in welchem vor dem Schauenden sich die lebendige Idee des Werdens unmittelbar entfaltet. So beherrscht die Schicksalsidee das gesamte Weltbild der Geschichte, während alle Kausalität, welche die Daseinsart von Gegenständen ist und die Welt des Empfindens zu wohlunterschiedenen und abgegrenzten Dingen, Eigenschaften, Verhältnissen prägt, als Form des Verstehens dessen alter ego, die Welt als Natur, beherrscht und durchdringt.


 << zurück weiter >>