Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Die Konstruktion – die im weiteren Sinne alle Methoden der elementaren Arithmetik einschließt – ist das A und O der antiken Mathematik: die Herstellung einer einzelnen und sichtbar vorliegenden Figur. Der Zirkel ist der Meißel dieser zweiten bildenden Kunst. Die Arbeitsweise bei funktionentheoretischen Untersuchungen, deren Zweck kein Resultat vom Charakter einer Größe, sondern die Diskussion allgemeiner formaler Möglichkeiten ist, läßt sich als eine Art Kompositionslehre von naher Verwandtschaft zur musikalischen bezeichnen. Eine ganze Reihe von Begriffen der Musiktheorie ließe sich ohne weiteres auf analytische Operationen auch der Physik anwenden – Tonart, Phrasierung, Chromatik und andere – und es ist die Frage, ob nicht manche Beziehungen dadurch an Klarheit gewinnen würden.

Jede Konstruktion bejaht, jede Operation verneint den Augenschein, indem jene das optisch Gegebene herausarbeitet, diese es auflöst. So erscheint ein weiterer Gegensatz in den beiden Arten des mathematischen Verfahrens: die antike Mathematik des Kleinen betrachtet den konkreten Einzelfall, berechnet die bestimmte Aufgabe, führt die einmalige Konstruktion aus. Die Mathematik des Unendlichen behandelt ganze Klassen formaler Möglichkeiten, Gruppen von Funktionen, Operationen, Gleichungen, Kurven, und zwar überhaupt nicht hinsichtlich irgendeines Resultates, sondern hinsichtlich ihres Verlaufes. Es ist so seit zwei Jahrhunderten – was den Mathematikern der Gegenwart kaum zum Bewußtsein kommt – die Idee einer allgemeinen Morphologie mathematischer Operationen entstanden, welche man als den eigentlichen Sinn der gesamten neueren Mathematik bezeichnen darf. Es offenbart sich hier eine umfassende Tendenz abendländischer Geistigkeit überhaupt, die im folgenden immer deutlicher werden wird, eine Tendenz, die ausschließlich Eigentum des faustischen Geistes und seiner Kultur ist und in keiner andern verwandte Absichten findet. Die große Mehrzahl der Fragen, welche unsere Mathematik als deren eigenste Probleme beschäftigen – der Quadratur des Kreises bei den Griechen entsprechend –, wie die Untersuchung der Konvergenzkriterien unendlicher Reihen (Cauchy) oder die Umkehrung elliptischer und allgemein algebraischer Integrale zu mehrfach periodischen Funktionen (Abel, Gauß) wäre den »Alten«, die einfache bestimmte Größen als Resultate suchten, vermutlich als eine geistreiche, etwas abstruse Spielerei erschienen – was dem populären Urteil weiter Kreise auch heute durchaus entsprechen würde. Es gibt nichts Unpopuläreres als die moderne Mathematik, und auch darin liegt ein Stück Symbolik der unendlichen Ferne, der Distanz. Alle großen Werke des Abendlandes von Dante bis zum Parsifal sind unpopulär, alle antiken von Homer bis zum pergamenischen Altar sind populär im höchsten Grade.


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