Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Ich will von nun an die Seele der antiken Kultur, welche den sinnlich-gegenwärtigen Einzelkörper zum Idealtypus des Ausgedehnten wählte, die apollinische nennen. Seit Nietzsche ist diese Bezeichnung jedem verständlich. Ihr gegenüber stelle ich die faustische Seele, deren Ursymbol der reine grenzenlose Raum und deren »Leib« die abendländische Kultur ist, wie sie mit der Geburt des romanischen Stils im 10. Jahrhundert in den nordischen Ebenen zwischen Elbe und Tajo aufblühte. Apollinisch ist die Bildsäule des nackten Menschen, faustisch die Kunst der Fuge. Apollinisch sind die mechanische Statik, die sinnlichen Kulte der olympischen Götter, die politisch vereinzelten Griechenstädte, das Verhängnis des Ödipus und das Symbol des Phallus; faustisch die Dynamik Galileis, die katholisch-protestantische Dogmatik, die großen Dynastien der Barockzeit mit ihrer Kabinettspolitik, das Schicksal Lears und das Ideal der Madonna von Dantes Beatrice bis zum Schlusse des zweiten Faust. Apollinisch ist die Malerei, welche einzelne Körper durch Konturen begrenzt, faustisch ist die, welche durch Licht und Schatten Räume bildet: so unterscheidet sich das Fresko Polygnots vom Ölgemälde Rembrandts. Apollinisch ist das Dasein des Griechen, der sein Ich als soma bezeichnet, dem die Idee einer innern Entwicklung und damit eine wirkliche innere oder äußere Geschichte fehlt; faustisch ist ein Dasein, das mit tiefster Bewußtheit geführt wird, das sich selbst zusieht, eine entschlossen persönliche Kultur der Memoiren, Reflexionen, der Rück- und Ausblicke und des Gewissens. Und fernab, obwohl vermittelnd, Formen entlehnend, umdeutend, vererbend, erscheint die magische Seele der arabischen Kultur, zur Zeit des Augustus in der Landschaft zwischen Tigris und Nil, dem Schwarzen Meer und Südarabien erwachend, mit ihrer Algebra, Astrologie und Alchymie, ihren Mosaiken und Arabesken, ihren Kalifaten und Moscheen, den Sakramenten und heiligen Büchern der persischen, jüdischen, christlichen, »spätantiken« und manichäischen Religion.

»Der Raum« ist, ich darf jetzt sagen im faustischen Sprachgebrauch, ein von der augenblicklichen sinnlichen Gegenwart streng gesondertes geistiges Etwas, das in einer apollinischen Sprache, im Griechischen und Latein nicht vertreten sein durfte. Aber ebenso fremd ist der gestaltete Ausdrucksraum allen apollinischen Künsten. Die winzige Cella frühantiker Tempel ist ein verschwiegenes, dunkles Nichts, ursprünglich aus vergänglichsten Stoffen gefertigt, eine Hülle des Augenblicks im Gegensatz zu den ewigen Gewölben magischer Kuppeln und gotischer Kirchenschiffe. Und die geschlossene Säulenreihe soll nachdrücklich betonen, daß es für das Auge wenigstens in diesem Körper kein Drinnen gibt. In keiner andern Kultur wird das Feststehen, der Sockel so betont. Die dorische Säule bohrt sich in die Erde; die Gefäße sind stets von unten herauf empfunden, während die der Renaissance über dem Sockel schweben; das Grundproblem der Bildhauerschulen ist die innere Festigung der Gestalt. Deshalb werden bei archaischen Werken die Gelenke übermäßig betont, der Fuß mit voller Sohle aufgesetzt, und von lang herabfallenden Gewändern ein Teil des Saums fortgelassen, um das »Stehen« des Fußes zu zeigen. Das antike Relief ist streng stereometrisch einer Fläche aufgesetzt. Es gibt ein »zwischen« den Figuren, aber keine Tiefe. Eine Landschaft von Lorrain dagegen ist nur Raum. Alle Einzelheiten sollen hier seiner Verdeutlichung dienen. Alle Körper besitzen nur als Träger von Licht und Schatten einen atmosphärischen und perspektivischen Sinn. Der Impressionismus ist die zu Ende geführte Entkörperung der Welt im Dienste des Raumes. Die faustische Seele mußte aus diesem Weltgefühl in ihrer Frühzeit zu einem Architekturproblem gelangen, dessen Schwergewicht in der räumlichen Wölbung mächtiger, vom Portal zur Tiefe des Chors strebender Dome lag. Das war der Ausdruck ihres Tiefenerlebnisses. Aber dazu gesellt sich, im Widerspruch zum höhlenhaften magischen Ausdrucksraum,Das Wort Höhlengefühl ist von L. Frobenius, Paideuma S. 92. das Hinaufstreben in die Weiten des Alls. Magische Wölbungen, seien es Kuppeln oder Tonnen oder selbst das wagerechte Gebälk einer Basilika, decken zu. Strzygowski hat den Baugedanken der Hagia Sophia ganz richtig eine nach innen verlegte gotische Verstrebung mit geschlossenem Außenmantel genannt.Ursprung der christlichen Kirchenkunst (1920), S. 80. Dagegen ist die Kuppel des Florentiner Doms nach dem gotischen Entwurf von 1367 dem Langhause aufgesetzt, und das steigert sich in dem Entwurf Bramantes für St. Peter zu einem Auftürmen, dessen prachtvolles »Excelsior!« Michelangelo zur Vollendung führte, so daß die Kuppel nun über den weiten Wölbungen hoch im Lichte schwebt. Diesem Raumgefühl stellt die Antike das Symbol des ganz körperhaften, mit einem Blick zu umfassenden dorischen Peripteros entgegen.

Die antike Kultur beginnt darum mit einem großartigen Verzicht auf eine schon vorhandene reiche, malerische, fast überreife Kunst, die nicht der Ausdruck ihrer neuen Seele sein durfte. Herb und eng, für unser Auge dürftig und ein Rückfall ins Barbarische, steht die frühdorische Kunst des geometrischen Stils seit 1100 der minoischen gegenüber.Vgl. Bd. II, S. 656ff. Aus drei Jahrhunderten, die der gotischen Blüte entsprechen, besitzen wir keine Andeutung von Architektur. Erst um 650, »gleichzeitig« mit Michelangelos Übergang zum Barock, erscheint der dorische und etruskische Tempeltypus. Alle Frühkunst ist religiös, und dies symbolische Nein ist es nicht minder als das gotische und ägyptische Ja. Die Idee der Toten verbrennung verträgt sich mit einer Kultstätte, nicht mit einem Kultbau. Daher besaß die antike Frühreligion, die sich für uns hinter den schwerwiegenden Namen des Kalchas, Teiresias, Orpheus, vielleicht auch des Numa verbirgt,Vgl. Bd. II, S. 902f. für ihre Bräuche das, was übrig bleibt, wenn man von einem Baugedanken den Bau abzieht: die heilige Umgrenzung. Die ursprüngliche Kultanlage ist deshalb das etruskische templum, ein von den Augurn lediglich auf dem Boden abgesteckter heiliger Bezirk mit einer unüberschreitbaren Bannmeile und dem glückbringenden Eingang im Osten.Müller Deecke, Die Etrusker (1877) II, S. 128 ff. Wissowa, Religion und Kultus der Römer (1912), S. 527. Ein templum war die älteste Stadtanlage der Roma quadrata, deren Umriß sicherlich nicht mit der Bebauung, sondern nur mit sakralen Regeln zusammenhing, wie es die Bedeutung des pomerium, eben dieser Grenze, in späterer Zeit beweist. Ein templum ist auch das römische Lager, dessen Rechteck noch heute in der Anlage vieler Römerstädte erkennbar ist: es ist der geweihte Bezirk, in dem sich das Heer unter dem Schutz der Götter befindet, und hat mit der aus hellenistischer Zeit stammenden Befestigung ursprünglich gar nichts zu tun. Die meisten römischen Steintempel ( aedes) waren keine templa; dagegen muß der urgriechische temenos in homerischer Zeit ähnliches bedeutet haben. Ein templum wird geschaffen, wo eine Kulthandlung vorgenommen werden soll oder die Träger der staatlichen Autorität, Senat und Heer, sich befinden. Es besteht nur für die flüchtige Dauer des Gebrauches, dann wird der Bann aufgehoben. Vielleicht erst gegen 700 überwand sich die antike Seele dahin, die Liniensymbolik dieses architektonischen Nichts in einem Baukörper zu versinnlichen. Das euklidische Gefühl war stärker als die Abneigung gegen die Dauer.

Dagegen beginnt die faustische Baukunst großen Stils mit den ersten Regungen einer neuen Frömmigkeit – der cluniazensischen Reform um 1000 – und eines neuen Denkens – im Abendmahlsstreit zwischen Berengar von Tours und Lanfranc (1050) –, und dann gleich mit Entwürfen von einem so riesenhaften Wollen, daß die Dome oft von der ganzen Gemeinde nicht gefüllt werden konnten, wie der von Speyer, oder nie vollendet wurden. Die leidenschaftliche Sprache dieser Architektur wiederholt sich in der Dichtung.Vgl. mein Vorwort zu Ernst Droem, Gesänge, S. IX, jetzt Reden u. Aufsätze (1937), S. 54 ff. So fern sich die lateinische Hymnik im christlichen Süden und die Edda im heidnisch gebliebenen Norden stehen, in der inneren räumlichen Unendlichkeit von Versbau, Satzrhythmik und Bildersprache sind sie sich gleich. Man lese das Dies irae neben der nicht viel früher entstandenen Völuspa: es ist derselbe eherne Wille, der alle Widerstände des Sichtbaren überwindet und bricht. Es gab nie einen Rhythmus, der so ungeheure Räume und Fernen um sich breitet wie der altnordische:

Zum Unheil werden – noch allzulange
Männer und Weiber – zur Welt geboren
Aber wir beide – bleiben zusammen
Ich und Sigurd.

Die Akzente des homerischen Verses sind das leise Zittern eines Blattes in der Mittagssonne, Rhythmus der Materie; der Stabreim – wie die potentielle Energie im Weltbilde der modernen Physik – schafft eine verhaltene Spannung im Leeren, Grenzenlosen, ferne Gewitter in Nächten über den höchsten Gipfeln. In seiner wogenden Unbestimmtheit lösen sich alle Worte und Dinge: das ist sprachliche Dynamik, nicht Statik. Und das gleiche gilt von den schwermütigen Rhythmen des »Media vita in morte sumus«. Hier kündigen sich die Farben Rembrandts und die Instrumentation Beethovens an. Hier wird die grenzenlose Einsamkeit als die Heimat der faustischen Seele empfunden. Was ist Walhall? Es wurde, den Germanen der Völkerwanderung und selbst noch der Merowingerzeit unbekannt, von der erwachenden faustischen Seele erdacht, sicherlich unter Eindrücken des antik-heidnischen und das arabisch-christlichen Mythos der beiden älteren südlichen Kulturen, die mit ihren klassischen oder heiligen Schriften, ihren Ruinen, Mosaiken, Miniaturen, ihren Kulten, Riten und Dogmen überall in das neue Leben hereinragten. Und trotzdem schwebt Walhall jenseits aller fühlbaren Wirklichkeiten, dunklen, faustischen Regionen. Der Olymp ruht auf der nahen griechischen Erde; das Paradies der Kirchenväter ist ein Zaubergarten irgendwo im magischen Weltall. Walhall ist nirgends. Es erscheint, im Grenzenlosen verloren, mit seinen ungeselligen Göttern und Recken, als das ungeheure Symbol der Einsamkeit. Siegfried, Parzival, Tristan, Hamlet, Faust sind die einsamsten Helden aller Kulturen. Man lese in Wolframs Parzival die wundervolle Erzählung vom Erwachen des Innenlebens. Die Waldsehnsucht, das rätselhafte Mitleid, die unnennbare Verlassenheit: das ist faustisch und nur faustisch. Jeder von uns kennt das. In Goethes Faust kehrt das Motiv in seiner ganzen Tiefe wieder:

Ein unbegreiflich holdes Sehnen
Trieb mich durch Wald und Wiesen hinzugehn,
Und unter tausend heißen Tränen
Fühlt' ich mir eine Welt erstehn.

Von diesem Welterlebnis weiß der apollinische und magische Mensch nichts, weder Homer noch die Evangelien. Der Höhepunkt der Dichtung Wolframs ist jener wunderbare Karfreitagmorgen, wo der mit Gott und sich zerfallene Held den edlen Gawan trifft. »Wie, wenn bei Gott ich Hilfe fände?« Und er pilgert zu Tevrezent. Hier liegt die Wurzel der faustischen Religion. Hier begreift man das Wunder der Eucharistie, das die Teilnehmenden zu einer mystischen Gemeinschaft, zur alleinseligmachenden Kirche verbindet. Man begreift aus dem Mythos vom heiligen Gral und seiner Ritterschaft die innere Notwendigkeit des germanisch-nordischen Katholizismus. Gegenüber den antiken Opfern, die jeder Einzelgottheit in ihrem Tempel gebracht wurden, erscheint hier das eine, unendliche Opfer, das sich überall und täglich wiederholt. Das ist eine faustische Idee des 9.-12. Jahrhunderts, der Eddazeit, von den angelsächsischen Missionaren wie Winfried vorgeahnt, aber erst damals zur Reife gediehen. Der Dom, dessen Hochaltar das vollzogene Wunder umschließt, ist ihr steingewordener Ausdruck.Vgl. Bd. II, S. 917.

Die Vielheit einzelner Körper, als welche der antike Kosmos sich darstellt, fordert eine gleichartige Götterwelt: dies ist der Sinn des antiken Polytheismus. Der eine Weltraum, sei er Welthöhle oder Weltweite, fordert den einen Gott des magischen oder faustischen Christentums. Athene und Apollon können durch eine Statue dargestellt werden, aber man hat längst gefühlt, daß die Gottheit der Reformation und Gegenreformation nur im Sturm einer Orgelfuge oder dem feierlichen Schritt einer Kantate und Messe »erscheinen« kann. Von der Gestaltenfülle der Edda und der gleichzeitigen Heiligenlegende bis auf Goethe entwickelt sich der Mythos dem antiken entgegengesetzt. Hier eine immer weitergehende Zerfällung des Göttlichen bis zu der unübersehbaren Göttermenge der frühen Kaiserzeit, dort eine Vereinfachung bis zum Deismus des 18. Jahrhunderts.

Die magische, auf dem Gebiet der westlichen PseudomorphoseVgl. Bd. II, S. 800. von der Kirche mit dem vollen Gewicht ihrer Autorität gedeckte himmlische Hierarchie von den Engeln und Heiligen an bis zu den Personen der Dreifaltigkeit entkörpert sich, verblaßt mehr und mehr, und unvermerkt verschwindet auch der Teufel, der große Gegenspieler im gotischen Weltdrama,Vgl. Bd. II, S. 912ff. aus den Möglichkeiten des faustischen Weltgefühls. Er, nach dem noch Luther sein Tintenfaß warf, wird von den protestantischen Theologen längst mit verlegenem Schweigen übergangen. Die Einsamkeit der faustischen Seele verträgt sich nicht mit einem Zweierlei der Weltmächte. Gott selbst ist das All. Am Ende des 17. Jahrhunderts versagt dieser Religiosität gegenüber die Formensprache der Malerei, und die Instrumentalmusik wird das einzige und letzte Mittel religiösen Ausdrucks. Man darf sagen, daß der katholische und der protestantische Glaube sich wie ein Altargemälde und ein Oratorium verhalten. Schon um die germanischen Götter und Helden spannen sich abweisende Weiten, rätselhafte Düsternisse; sie sind in Musik getaucht, nächtlich, weil das Tageslicht Grenzen für das Auge und also leibhafte Dinge schafft. Die Nacht entkörpert; der Tag entseelt. Apollon und Athene haben keine »Seele«. Auf dem Olymp ruht das ewige Licht eines tiefklaren südlichen Tages. Die appollinische Stunde ist der hohe Mittag, wenn der große Pan schläft. Walhall ist lichtlos. In der Edda schon spürt man jene tiefen Mitternächte, in denen Faust in seinem Studierzimmer brütet, die Rembrandts Radierungen festhalten, in die Beethovens Tonfarben sich verlieren. Wotan, Baldur, Freya hatten nie eine »euklidische« Gestalt. Von ihnen wie von den vedischen Göttern Indiens läßt sich »kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen«. Diese Unmöglichkeit enthält eine Weihe des ewigen Raumes als des höchsten Symbols, im Gegensatz zum körperlichen Abbilde, das ihn zur »Umgebung« herabsetzt, entheiligt, verneint. Dies tiefgefühlte Motiv liegt dem Bildersturm im Islam und in Byzanz – beide im 7. Jahrhundert – wie später dem innerlich nahe verwandten des protestantischen Nordens zugrunde. War nicht auch die Schöpfung der antieuklidischen Analysis des Raumes durch Descartes ein Bildersturm? Die antike Geometrie behandelt eine Zahlenwelt des Tages, die Funktionentheorie ist die eigentlich nächtliche Mathematik.


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