Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Damit ist endlich das Phänomen der MoralAn dieser Stelle ist ausschließlich von der bewußten, religiös-philosophischen Moral die Rede, die erkannt, gelehrt und befolgt wird, und nicht vom rassehaften Takt des Lebens, der »Sitte«, die unbewußt da ist. Jene bewegt sich um die geistigen Begriffe Tugend und Sünde, gut und böse, diese um die Ideale des Blutes: Ehre, Treue, Tapferkeit, und die Entscheidungen des Taktgefühls über vornehm und gemein. Vgl. dazu Bd. II, S. 980 ff. – als geistige Interpretation des Lebens durch sich selbst – verständlich geworden. Hier ist die Höhe erreicht, von der aus ein freier Umblick über dies weiteste und bedenklichste aller Gebiete menschlichen Nachdenkens möglich ist. Aber gerade hier tut eine Objektivität not, zu der sich bisher niemand ernstlich verstanden hat. Mag Moral zunächst sein, was sie will; ihre Analyse darf nicht selbst der Teil einer Moral sein. Nicht was wir tun, was wir erstreben, wie wir werten sollen, führt auf das Problem, sondern die Einsicht, daß diese Fragestellung ihrer Form nach bereits ein Symptom ausschließlich des abendländischen Weltgefühls ist.

Der westeuropäische Mensch steht hier unter dem Einfluß einer ungeheuren optischen Täuschung, jeder ohne Ausnahme. Alle fordern etwas von den andern. Ein »Du sollst« wird ausgesprochen in der Überzeugung, daß hier wirklich etwas in einheitlichem Sinne verändert, gestaltet, geordnet werden könne und müsse. Der Glaube daran und an das Recht dazu ist unerschütterlich. Hier wird befohlen und Gehorsam verlangt. Das erst heißt uns Moral. Im Ethischen des Abendlandes ist alles Richtung, Machtanspruch, gewollte Wirkung in die Ferne. In diesem Punkte sind Luther und Nietzsche, Päpste und Darwinisten, Sozialisten und Jesuiten einander völlig gleich. Ihre Moral tritt mit dem Anspruch auf allgemeine und dauernde Gültigkeit auf. Das gehört zu den Notwendigkeiten faustischen Seins. Wer anders denkt, lehrt, will, ist sündhaft, abtrünnig, ein Feind. Man bekämpft ihn ohne Gnade. Der Mensch soll. Der Staat soll. Die Gesellschaft soll. Diese Form der Moral ist uns selbstverständlich; sie repräsentiert uns den eigentlichen und einzigen Sinn aller Moral. Aber das ist weder in Indien noch in China noch in der Antike so gewesen. Buddha gab ein freies Vorbild, Epikur erteilte einen guten Rat. Auch das sind Formen hoher – willensfreier – Moralen.

Wir haben das Einzigartige einer moralischen Dynamik gar nicht bemerkt. Gesetzt, daß der Sozialismus, ethisch, nicht wirtschaftlich verstanden, das Weltgefühl ist, welches die eigne Meinung im Namen aller verfolgt, so sind wir ohne Ausnahme Sozialisten, ob wir es wissen und wollen oder nicht. Selbst der leidenschaftlichste Gegner aller »Herdenmoral«, Nietzsche, ist gar nicht fähig, in antikem Sinne seinen Eifer auf sich selbst zu beschränken. Er denkt nur an »die Menschheit«. Er greift jeden an, der es anders meint. Aber Epikur war es herzlich gleichgültig, was andre meinten und taten. Eine Umgestaltung der Menschheit – daran hat er keinen Gedanken verschwendet. Er und seine Freunde waren zufrieden, daß sie so und nicht anders waren. Das antike Lebensideal war die Interesselosigkeit (ἀπάϑεια) am Lauf der Welt, gerade an dem, dessen Beherrschung dem faustischen Menschen der ganze Lebensinhalt ist. Der wichtige Begriff der ἀδιάφορα gehört hierher. Es gibt auch einen moralischen Polytheismus in Hellas. Das friedfertige Nebeneinander von Epikuräern, Kynikern, Stoikern beweist das. Aber der ganze Zarathustra – angeblich jenseits von Gut und Böse stehend – atmet die Pein, die Menschen so zu sehen, wie man sie nicht haben will, und die tiefe, so ganz unantike Leidenschaft, das Leben auf ihre Änderung, im eignen, einzigen Sinne natürlich, zu verwenden. Und eben das, die allgemeine Umwertung, ist ethischer Monotheismus, ist – das Wort in einem neuen, tieferen Sinne genommen – Sozialismus. Alle Weltverbesserer sind Sozialisten. Folglich gibt es keine antiken Weltverbesserer.

Der moralische Imperativ als Form der Moral ist faustisch und nur faustisch. Es ist völlig belanglos, ob Schopenhauer theoretisch den Willen zum Leben verneint oder ob Nietzsche ihn bejaht sehen will. Diese Unterscheidungen liegen an der Oberfläche. Sie bezeichnen einen persönlichen Geschmack, ein Temperament. Wesentlich ist, daß auch Schopenhauer die ganze Welt als Willen fühlt, als Bewegung, Kraft, Richtung; darin ist er der Ahnherr der gesamten ethischen Modernität. Dies Grundgefühl ist bereits unsre ganze Ethik. Alles andre sind Abarten. Was wir Tat, nicht nur Tätigkeit nennen,Nach dem, was über das Fehlen prägnanter Worte für »Wille« und »Raum« in den antiken Sprachen und über die tiefere Bedeutung dieser Lücken bemerkt worden ist, wird es nicht auffallen, daß auch der Unterschied von Tat und Tätigkeit sich weder im Griechischen noch im Lateinischen exakt wiedergeben läßt. ist ein durch und durch historischer, von Richtungsenergie gesättigter Begriff. Es ist die Daseinsbestätigung, die Daseinsweihe einer Art Mensch, dessen Ich die Tendenz auf Zukünftiges besitzt, der die Gegenwart nicht als gesättigtes Sein, sondern stets als Epoche in einem großen Zusammenhang des Werdens empfindet, und zwar sowohl im persönlichen Leben als im Leben der gesamten Geschichte. Die Stärke und Deutlichkeit dieses Bewußtseins bestimmt den Rang eines faustischen Menschen, aber selbst der unbedeutendste besitzt etwas davon, das seine geringsten Lebensakte nach Art und Gehalt von denen jedes antiken Menschen unterscheidet. Es ist der Unterschied von Charakter und Haltung, von bewußtem Werden und einfach hingenommenem statuenhaften Gewordensein, von tragischem Wollen und tragischem Dulden.

Vor den Augen des faustischen Menschen, in seiner Welt ist alles Bewegtheit einem Ziele zu. Er selbst lebt unter dieser Bedingung. Leben heißt für ihn kämpfen, überwinden, sich durchsetzen. Der Kampf ums Dasein als ideale Form des Daseins gehört schon der gotischen Zeit an und liegt ihrer Architektur deutlich genug zugrunde. Das 19. Jahrhundert hat ihm nur eine mechanistisch-utilitarische Fassung gegeben. In der Welt des apollinischen Menschen gibt es keine zielvolle »Bewegung« – das Werden Heraklits, ein absicht- und zielloses Spiel, ἠ ὀδός ἄνω κάτω, kommt hier nicht in Frage –, keinen »Protestantismus«, keinen »Sturm und Drang«, keine ethische, geistige, künstlerische »Umwälzung«, die das Bestehende bekämpfen und vernichten will. Der ionische und korinthische Stil treten ohne den Anspruch auf Alleingeltung neben den dorischen. Aber die Renaissance hat den gotischen, der Klassizismus den Barockstil verworfen, und alle Literaturgeschichten des Abendlandes sind voll von wilden Kämpfen um die Probleme der Form. Selbst das Mönchtum, wie es Ritterorden, Franziskaner und Dominikaner darstellen, erscheint in Gestalt einer Ordens bewegung, sehr im Gegensatz zur frühchristlichen, einsiedlerischen Form der Askese.

Es ist dem faustischen Menschen gar nicht möglich, diese Grundgestalt seines Daseins zu verleugnen, geschweige zu ändern. Jede Auflehnung dagegen setzt sie schon voraus. Wer den »Fortschritt« bekämpft, hält diese Wirksamkeit doch selbst für einen Fortschritt. Wer für eine »Umkehr« agitiert, meint damit eine Weiterentwicklung. »Immoral« – das ist nur eine neue Art von Moral, und zwar mit dem gleichen Anspruch des Vorrangs vor allen andern. Der Wille zur Macht ist intolerant. Alles Faustische will Alleinherrschaft. Für das apollinische Weltgefühl – das Nebeneinander vieler Einzeldinge – ist Toleranz selbstverständlich. Sie gehört zum Stil der willensfremden Ataraxia. Für die abendländische Welt – den einen grenzenlosen Seelenraum, den Raum als Spannung – ist sie Selbsttäuschung oder ein Zeichen des Erlöschens. Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts war tolerant, das heißt gleichgültig gegen die Unterschiede der christlichen Bekenntnisse; für sich selbst im Verhältnis zur Kirche überhaupt war sie es, sobald sie zur Macht gelangt war, durchaus nicht mehr. Der faustische Instinkt, tätig, willensstark, mit der Vertikaltendenz gotischer Dome und jener bedeutsamen Umprägung des feci zu ego habeo factum, in die Ferne und Zukunft gerichtet, fordert Duldung, das heißt Raum für die eigne Wirksamkeit, aber nur für sie. Man bedenke etwa, welches Maß davon die großstädtische Demokratie der Kirche gegenüber in deren Handhabung religiöser Machtmittel anzuwenden willens ist, während sie für sich selbst schrankenlose Anwendung der eignen fordert und, wenn sie kann, die »allgemeine« Gesetzgebung daraufhin stimmt. Jede »Bewegung« will siegen; jede antike »Haltung« will nur da sein und kümmert sich wenig um das Ethos der andern. Für oder gegen die Zeitströmung kämpfen, Reform oder Umkehr betreiben, aufbauen, umwerten oder zertrümmern – das ist gleichmäßig unantik und unindisch. Und gerade das ist der Unterschied zwischen sophokleischer und shakespearescher Tragik, der Tragik des Menschen, der nur da sein, und des Menschen, der siegen will.

Es ist falsch, »das« Christentum mit dem moralischen Imperativ in Verbindung zu bringen. Nicht das Christentum hat den faustischen Menschen, er hat das Christentum umgeformt, und zwar nicht nur zu einer neuen Religion, sondern auch in der Richtung einer neuen Moral. Das »es« wird zum Ich mit dem vollen Pathos eines Weltmittelpunktes, wie es die Voraussetzung des Sakraments der persönlichen Buße bildet. Der Wille zur Macht auch im Ethischen, die Leidenschaft, seine Moral zur allgemeinen Wahrheit zu erheben, sie der Menschheit aufzwingen, alle andersgearteten umdeuten, überwinden, vernichten zu wollen, ist unser eigenstes Eigentum. In diesem Sinne ist – ein tiefer und noch nie begriffener Vorgang – die Moral Jesu, ein ruhend-geistiges, aus dem magischen Weltgefühl heraus als heilkräftig empfohlenes Verhalten, dessen Kenntnis als eine besondere GnadeVgl. Bd. II, S. 851 f. verliehen wird, in der gotischen Frühzeit innerlich in eine befehlende umgeprägt worden.»Wer Ohren hat zu hören, der höre« – darin liegt kein Machtanspruch. So hat die abendländische Kirche ihre Mission nicht aufgefaßt. Die »Heilsbotschaft« Jesu, die des Zarathustra, Mani, Mohammed, der Neuplatoniker und all der benachbarten magischen Religionen sind geheimnisvolle Wohltaten, die man erweist, nicht aufdrängt. Das junge Christentum ahmte, nachdem es in die antike Welt eingeströmt war, lediglich die Mission der späten, ebenfalls längst magisch gewordenen Stoa nach. Man mag Paulus zudringlich finden und man hat die stoischen Wanderprediger so gefunden, wie die Zeitliteratur beweist; gebieterisch treten sie nicht auf. Man kann ein entlegenes Beispiel hinzufügen und die Ärzte der magischen Art, die ihre geheimnisvollen Arkana anpreisen, den abendländischen gegenüberstellen, die ihrem Wissen Gesetzeszwang verliehen sehen wollen (Impfzwang, Trichinenschau usw.). Jedes ethische System, ob religiöser oder philosophischer Herkunft, gehört damit in die Nachbarschaft der großen Künste, vor allem der Architektur. Es ist ein Bau von Sätzen kausaler Prägung. Jede Wahrheit, die zu praktischer Anwendung bestimmt ist, wird mit einem »weil« oder »damit« vorgeschrieben. Es ist mathematische Logik darin, in Buddhas vier Wahrheiten wie in Kants Kritik der praktischen Vernunft und in jedem volkstümlichen Katechismus. Nichts liegt diesen als wahr erkannten Lehren ferner als die unkritische Logik des Blutes, die aus jeder gewachsenen und nur durch Verstöße gegen sie zum Bewußtsein gelangenden Sitte von Ständen und Tatsachenmenschen redet, wie sie uns in der ritterlichen Zucht der Kreuzzugszeiten am deutlichsten vor Augen steht. Eine systematische Moral ist wie ein Ornament und offenbart sich nicht nur in Sätzen, sondern auch im tragischen Stil, selbst im künstlerischen Motiv. Der Mäander z. B. ist ein stoisches Motiv; in der dorischen Säule verkörpert sich geradezu das antike Lebensideal. Sie ist deshalb die einzige der antiken Säulenformen, welche der Barockstil unbedingt ausschließen mußte. Man wird sie aus einem sehr tief hegenden seelischen Grunde selbst in der Renaissancekunst vermieden finden. Die Umsetzung des magischen Kuppelbaues in den russischen mit dem Symbol der Dachebene,Vgl. Bd. I, S. 259f. die chinesische Landschaftsarchitektur mit ihren verschlungenen Pfaden, der gotische Turm der Kathedralen sind ebensoviele Sinnbilder der aus dem Wachsein einer und nur dieser einen Kultur entstandenen Moral.


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