Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Zweites Kapitel: Das Problem der und Systematik

I. Physiognomik und Systematik

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Es ist jetzt endlich möglich, den entscheidenden Schritt zu tun und ein Bild der Geschichte zu entwerfen, das nicht mehr vom zufälligen Standort des Betrachters in irgendeiner – seiner – »Gegenwart« und von seiner Eigenschaft als interessiertem Gliede einer einzelnen Kultur abhängig ist, deren religiöse, geistige, politische, soziale Tendenzen ihn verführen, den historischen Stoff aus einer zeitlich und räumlich beschränkten Perspektive anzuordnen und dem Geschehen damit eine willkürliche und an der Oberfläche haftende Form aufzudrängen, die ihm innerlich fremd ist.

Was bisher fehlte, war die Distanz vom Gegenstande. Der Natur gegenüber war sie längst erreicht. Allerdings war sie hier auch leichter erreichbar. Der Physiker entwirft das mechanisch-kausale Bild seiner Welt mit Selbstverständlichkeit so, als ob er selbst gar nicht da wäre.

Aber in der Formenwelt der Geschichte ist dasselbe möglich. Wir haben das bis jetzt nicht gewußt. Es gehört zum Stolz moderner Historiker, objektiv zu sein, aber sie verraten damit, wie wenig sie sich ihrer eigenen Vorurteile bewußt sind. Man darf deshalb vielleicht sagen, und man wird es später einmal tun, daß es bis jetzt an einer wirklichen Geschichtsbetrachtung faustischen Stils überhaupt gefehlt hat, einer solchen nämlich, die Abstand genug besitzt, um im Gesamtbilde der Weltgeschichte auch die Gegenwart – die es ja nur in bezug auf eine einzige von unzähligen menschlichen Generationen ist – wie etwas unendlich Fernes und Fremdes zu betrachten, als eine Zeitspanne, die nicht schwerer wiegt als alle andern, ohne den fälschenden Maßstab irgendwelcher Ideale, ohne Bezug auf sich selbst, ohne Wunsch, Sorge und persönliche innere Beteiligung, wie sie das praktische Leben in Anspruch nimmt; einen Abstand also, der es erlaubt – mit Nietzsche zu reden, der bei weitem nicht genug von ihm besaß – die ganze Tatsache Mensch aus ungeheurer Entfernung zu überschauen; einen Blick über die Kulturen hin, auch über die eigene, wie über die Gipfelreihe eines Gebirges am Horizont.

Hier war noch einmal eine Tat wie die des Kopernikus zu vollbringen, eine Befreiung vom Augenschein im Namen des unendlichen Raumes, wie sie der abendländische Geist der Natur gegenüber längst vollzogen hatte, als er vom ptolemäischen Weltsystem zu dem für ihn heute allein gültigen überging und damit den zufälligen Standort des Betrachters auf einem einzelnen Planeten als formbestimmend ausschaltete.

Die Weltgeschichte ist derselben Ablösung von einem zufälligen Beobachtungsorte – der jeweiligen »Neuzeit« – fähig und bedürftig. Uns erscheint das 19. Jahrhundert unendlich viel reicher und wichtiger als etwa das 19. vor Christus, aber auch der Mond erscheint uns größer als Jupiter und Saturn. Der Physiker hat sich vom Vorurteil der relativen Entfernung längst befreit, der Historiker nicht. Wir erlauben uns, die Kultur der Griechen als Altertum im Verhältnis zu unserer Neuzeit zu bezeichnen. War sie das auch für die feinen, auf dem Gipfel ihrer geschichtlichen Entwicklung stehenden Ägypter am Hofe des großen Thutmosis – ein Jahrtausend vor Homer? Für uns füllen die Ereignisse, die sich 1500-1800 auf dem Boden Westeuropas abspielen, das wichtigste Drittel »der« Weltgeschichte. Für den chinesischen Historiker, der auf 4000 Jahre chinesischer Geschichte zurückblickt und von ihr aus urteilt, sind sie eine kurze und wenig bedeutende Episode, nicht entfernt so schwerwiegend wie die Jahrhunderte der Han-Dynastie (206 v. bis 220 n. Chr.), die in seiner »Weltgeschichte« Epoche machten.

Die Geschichte also vom persönlichen Vorurteil des Betrachters zu lösen, das sie in unserem Falle wesentlich zur Geschichte eines Fragments der Vergangenheit mit dem in Westeuropa festgestellten Zufällig-Gegenwärtigen als Ziel und den augenblicklich gültigen Idealen und Interessen als Maßstäbe für die Bedeutung des Erreichten und zu Erreichenden macht – das ist die Absicht alles Folgenden.


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