Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Erstes Kapitel: Vom Sinn der Zahlen

1.

Es ist zunächst notwendig, einige im Verlauf der Betrachtung in einem strengen und teilweise neuen Sinn gebrauchte GrundbegriffeVgl. hierzu Bd. II, Kap. I Anfang. zu kennzeichnen, deren metaphysischer Gehalt sich im Laufe der Darstellung von selbst ergeben wird, die aber schon am Anfang unzweideutig bestimmt sein müssen.

Der volkstümliche, auch der Philosophie geläufige Unterschied von Sein und Werden erscheint ungeeignet, das Wesentliche des mit ihm bezweckten Gegensatzes wirklich zu treffen. Ein unendliches Werden – Wirken, »Wirklichkeit« – wird man immer, wofür etwa die physikalischen Begriffe der gleichförmigen Geschwindigkeit und des Bewegungszustandes oder die Grundvorstellung der kinetischen Gas-Theorie als Beispiele dienen können, auch als Zustand auffassen und also dem Sein zuordnen dürfen. Dagegen lassen sich – mit Goethe – als letzte Elemente des in und mit dem Wachsein (»Bewußtsein«) schlechthin Gegebenen das Werden und das Gewordene unterscheiden. Jedenfalls ist, wenn man an der Möglichkeit zweifelt, durch abstrakte Begriffsbildungen den letzten Gründen des Menschlichen nahe zu kommen, das sehr klare und bestimmte Gefühl, aus welchem dieser fundamentale, die äußersten Grenzen des Wachseins berührende Gegensatz hervorgeht, das ursprünglichste Etwas, bis zu dem man überhaupt gelangen kann.

Es folgt daraus mit Notwendigkeit, daß immer ein Werden dem Gewordenen zugrunde liegt, nicht umgekehrt.

Ich unterscheide ferner mit den Bezeichnungen »das Eigne« und »das Fremde« zwei Urtatsachen des Wachseins, deren Sinn für jeden wachen Menschen – also nicht für den träumenden – mit unmittelbarer innerer Gewißheit feststeht, ohne durch eine Definition näher bestimmt werden zu können. Zu der durch das Wort Empfinden (»Sinnenweit«) bezeichneten ursprünglichen Tatsache steht das Element des Fremden immer auf irgend eine Weise in Beziehung. Die philosophische Gestaltungskraft großer Denker hat durch halbanschauliche schematische Teilungen wie Erscheinung und Ding an sich, Welt als Wille und Vorstellung, Ich und Nicht-Ich diese Beziehung immer wieder schärfer zu fassen versucht, obwohl diese Absicht sicherlich die Möglichkeiten exakter menschlicher Erkenntnis überschreitet. Ebenso birgt sich in der als Fühlen (»Innenwelt«) bezeichneten ursprünglichen Tatsache das Element des Eignen in einer Weise, deren strenge Fassung den Methoden des abstrakten Denkens ebenfalls entzogen bleibt.

Ich bezeichne weiterhin mit den Worten Seele und Welt denjenigen Gegensatz, dessen Vorhandensein mit der Tatsache des rein menschlichen Wachseins selbst identisch ist. Es gibt Grade der Klarheit und Schärfe dieses Gegensatzes, Grade der Geistigkeit des Wachseins also, von dem dumpfen und doch zuweilen bis in die Tiefe erleuchteten verstehenden Empfinden des primitiven Menschen und des Kindes – hierher gehören die in Spätzeiten immer seltneren Augenblicke der religiösen und künstlerischen Inspiration – bis zur äußersten Schärfe des rein verstehenden Wachseins etwa in den Zuständen des kantischen und des napoleonischen Denkens. Hier ist aus dem Gegensatz von Seele und Welt der von Subjekt und Objekt geworden. Diese elementare Struktur des Wachseins ist als eine Tatsache von unmittelbarer innerer Gewißheit der begrifflichen Zergliederung nicht weiter zugänglich, und ebenso gewiß ist es, daß jene beiden nur sprachlich und gewissermaßen künstlich abteilbaren Elemente stets miteinander und durcheinander da sind und durchaus als Einheit, als Totalität hervortreten, ohne daß das erkenntniskritische Vorurteil des geborenen Idealisten und Realisten, wonach entweder die Seele der Welt oder die Welt der Seele als das Primäre – sie sagen »als Ursache« – zugrunde liegt, in der Tatsache des Wachseins an sich irgendwie begründet wäre. Ob in einem philosophischen System der Akzent auf dem einen oder andern liegt, ist lediglich ein Kennzeichen der Persönlichkeit und von rein biographischer Bedeutung.

Gibt man den Begriffen des Werdens und des Gewordnen eine Anwendung auf diese Struktur des Wachseins als der Spannung von Gegensätzen, so erhält das Wort Leben einen ganz bestimmten, dem des Werdens nahe verwandten Sinn. Man darf Werden und Gewordnes als die Gestalt bezeichnen, in welcher die Tatsache und das Ergebnis des Lebens für das Wachsein vorhanden sind. Das eigne, fortschreitende, ständig sich erfüllende Leben wird, solange der Mensch wach ist, durch das Element des Werdens in seinem Wachsein dargestellt – diese Tatsache heißt Gegenwart – und es besitzt wie alles Werden das geheimnisvolle Merkmal der Richtung, das der Mensch in allen höheren Sprachen durch das Wort Zeit und die daran sich knüpfenden Probleme geistig zu bannen und – vergeblich – zu deuten versucht hat. Es folgt daraus eine tiefe Beziehung des Gewordenen (Starren) zum Tode.

Nennt man die Seele – und zwar ihre erfühlte Art, nicht ihr gedachtes und vorgestelltes Bild – das Mögliche, die Welt dagegen das Wirkliche, Ausdrücke, über deren Bedeutung ein inneres Gefühl keinen Zweifel läßt, so erscheint das Leben als die Gestalt, in welcher sich die Verwirklichung des Möglichen vollzieht. Im Hinblick auf das Merkmal der Richtung heißt das Mögliche Zukunft, das Verwirklichte Vergangenheit. Die Verwirklichung selbst, die Mitte und den Sinn des Lebens, nennen wir Gegenwart. »Seele« ist das zu Vollendende, »Welt« das Vollendete, »Leben« die Vollendung. Die Ausdrücke Augenblick, Dauer, Entwicklung, Lebensinhalt, Bestimmung, Umfang, Ziel, Fülle und Leere des Lebens erhalten damit eine bestimmte, für alles Folgende, namentlich für das Verständnis historischer Phänomene wesentliche Bedeutung.

Endlich sollen die Worte Geschichte und Natur, wie schon erwähnt, in einem ganz bestimmten, bisher nicht üblichen Sinne angewandt werden. Es sind darunter mögliche Arten zu verstehen, die Gesamtheit des Bewußten, Werden und Gewordenes, Leben und Erlebtes, in einem einheitlichen, durchgeistigten, wohlgeordneten Weltbilde aufzufassen, je nachdem das Werden oder das Gewordne, die Richtung oder die Ausdehnung (»Zeit« und »Raum«) den unteilbaren Eindruck gestaltend beherrschen. Es handelt sich hier nicht um eine Alternative, sondern um eine Reihe von unendlich vielen und sehr verschiedenartigen Möglichkeiten, eine »Außenwelt« als Abglanz und Zeugnis des eignen Daseins zu besitzen, eine Reihe, deren äußerste Glieder eine rein organische und eine rein mechanische Weltanschauung (im wörtlichen Sinne: Anschauung der Welt) sind. Der Urmensch (so wie wir sein Wachsein uns vorstellen) und das Kind (wie wir uns erinnern) besitzen noch keine dieser Möglichkeiten mit hinreichender Klarheit der Durchbildung. Als Bedingung dieses höheren Weltbewußtseins hat man den Besitz der Sprache anzusehen, und zwar nicht den einer menschlichen Sprache überhaupt, sondern den einer Kultursprache, die für den ersten noch nicht vorhanden und für das andere, obwohl vorhanden, noch nicht zugänglich ist. Beide besitzen, um dasselbe mit anderen Worten zu sagen, noch kein klares und deutliches Weltdenken, zwar eine Ahnung, aber noch kein wirkliches Wissen von Geschichte und Natur, in deren Zusammenhang ihr eigenes Dasein eingegliedert erscheint: Sie haben keine Kultur.

Damit erhält dieses wichtige Wort einen bestimmten, sehr bedeutsamen Sinn, der in allem Folgenden vorausgesetzt wird. Ich unterscheide im Hinblick auf die oben gewählten Bezeichnungen der Seele als des Möglichen und der Welt als des Wirklichen mögliche und wirkliche Kultur, das heißt Kultur als Idee des – allgemeinen oder einzelnen – Daseins und Kultur als Körper dieser Idee, als die Summe ihres versinnlichten, räumlich und faßlich gewordenen Ausdrucks: Taten und Gesinnungen, Religion und Staat, Künste und Wissenschaften, Völker und Städte, wirtschaftliche und gesellschaftliche Formen, Sprachen, Rechte, Sitten, Charaktere, Gesichtszüge und Trachten. Höhere Geschichte ist, mit dem Leben, dem Werden eng verwandt, die Verwirklichung möglicher Kultur.Über den Begriff des geschichtslosen Menschen vgl. Bd. II, S. 613f.

Es muß hinzugefügt werden, daß diese grundlegenden Bestimmungen zum großen Teil nicht mehr im Bereich der Mitteilbarkeit durch Begriff, Definition und Beweis liegen, daß sie vielmehr ihrer tiefsten Bedeutung nach gefühlt, erlebt, erschaut werden müssen. Es besteht ein selten recht gewürdigter Unterschied zwischen Erleben und Erkennen, zwischen der unmittelbaren Gewißheit, wie sie die Arten der Intuition (Erleuchtung, Eingebung, künstlerisches Schauen, Lebenserfahrung, der Blick des Menschenkenners, Goethes »exakte sinnliche Phantasie«) gewähren, und den Ergebnissen verstandesmäßiger Erfahrung und experimenteller Technik. Der Mitteilung dienen dort der Vergleich, das Bild, das Symbol, hier die Formel, das Gesetz, das Schema. Gewordenes wird erkannt, oder vielmehr, wie sich zeigen wird, das Gewordensein für den menschlichen Geist ist mit dem vollzogenen Erkenntnisakt identisch. Ein Werden kann nur erlebt, mit tiefem wortlosen Verstehen gefühlt werden. Hierauf beruht das, was man Menschenkenntnis nennt. Geschichte verstehen heißt Menschenkenner im höchsten Sinne sein. Je reiner ein Geschichtsbild, desto ausschließlicher ist es diesem bis in das Innere fremder Seelen dringenden Blick zugänglich, der mit den Erkenntnismitteln, welche die »Kritik der reinen Vernunft« untersucht, nichts zu schaffen hat. Der Mechanismus eines reinen Naturbildes, etwa der Welt Newtons und Kants, wird erkannt, begriffen, zergliedert, in Gesetze und Gleichungen, zuletzt in ein System gebracht. Der Organismus eines reinen Geschichtsbildes, wie es die Person Plotins, Dantes und Brunos war, wird angeschaut, innerlich erlebt, als Gestalt und Sinnbild aufgefaßt, zuletzt in dichterischen und künstlerischen Konzeptionen wiedergegeben. Goethes »lebendige Natur« ist ein historisches Weltbild.Und zwar mit » biologischem Horizont«, vgl. Bd. II, S. 588f.


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