Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Der Untergang des Abendlandes, so betrachtet, bedeutet nichts Geringeres als das Problem der Zivilisation. Eine der Grundfragen aller höheren Geschichte liegt hier vor. Was ist Zivilisation, als organisch-logische Folge, als Vollendung und Ausgang einer Kultur begriffen?

Denn jede Kultur hat ihre eigne Zivilisation. Zum ersten Male werden hier die beiden Worte, die bis jetzt einen unbestimmten Unterschied ethischer Art zu bezeichnen hatten, in periodischem Sinne, als Ausdrücke für ein strenges und notwendiges organisches Nacheinander gefaßt. Die Zivilisation ist das unausweichliche Schicksal einer Kultur. Hier ist der Gipfel erreicht, von dem aus die letzten und schwersten Fragen der historischen Morphologie lösbar werden. Zivilisationen sind die äußersten und künstlichsten Zustände, deren eine höhere Art von Menschen fähig ist. Sie sind ein Abschluß; sie folgen dem Werden als das Gewordene, dem Leben als der Tod, der Entwicklung als die Starrheit, dem Lande und der seelischen Kindheit, wie sie Dorik und Gotik zeigen, als das geistige Greisentum und die steinerne, versteinernde Weltstadt. Sie sind ein Ende, unwiderruflich, aber sie sind mit innerster Notwendigkeit immer wieder erreicht worden.

Damit erst wird man den Römer als den Nachfolger des Hellenen verstehen. Erst so rückt die späte Antike in das Licht, das ihre tiefsten Geheimnisse preisgibt. Denn was hat es zu bedeuten – was man nur mit leeren Worten bestreiten kann –, daß die Römer Barbaren gewesen sind, Barbaren, die einem großen Aufschwung nicht vorangehen, sondern ihn beschließen? Seelenlos, unphilosophisch, ohne Kunst, rassehaft bis zum Brutalen, rücksichtslos auf reale Erfolge haltend, stehen sie zwischen der hellenischen Kultur und dem Nichts. Ihre nur auf das Praktische gerichtete Einbildungskraft – sie besaßen ein sakrales Recht, das die Beziehungen zwischen Göttern und Menschen wie zwischen Privatpersonen regelte, aber keine einzige echt römische Göttersage – ist ein Zug, den man in Athen überhaupt nicht antrifft. Griechische Seele und römischer Intellekt – das ist es. So unterscheiden sich Kultur und Zivilisation. Und das gilt nicht nur von der Antike. Immer wieder taucht dieser Typus starkgeistiger, vollkommen unmetaphysischer Menschen auf. In ihren Händen liegt das geistige und materielle Geschick einer jeden Spätzeit. Sie haben den babylonischen, ägyptischen, indischen, chinesischen, römischen Imperialismus durchgeführt. In solchen Zeiten sind der Buddhismus, Stoizismus und Sozialismus zu endgültigen Weltstimmungen herangereift, die ein erlöschendes Menschentum in seiner ganzen Substanz noch einmal zu ergreifen und umzugestalten vermögen. Die reine Zivilisation als historischer Vorgang besteht in einem stufenweisen Abbau anorganisch gewordener, erstorbener Formen.

Der Übergang von der Kultur zur Zivilisation vollzieht sich in der Antike im 4., im Abendland im 19. Jahrhundert. Von da an fallen die großen geistigen Entscheidungen nicht mehr wie zur Zeit der orphischen Bewegung und der Reformation in der »ganzen Welt«, in der schließlich kein Dorf ganz unwichtig ist, sondern in drei oder vier Weltstädten, die allen Gehalt der Geschichte in sich aufgesogen haben und denen gegenüber die gesamte Landschaft einer Kultur zum Range der Provinz herabsinkt, die ihrerseits nur noch die Weltstädte mit den Resten ihres höheren Menschentums zu nähren hat. Weltstadt und ProvinzVgl. Bd. II, S. 673 ff. – mit diesen Grundbegriffen jeder Zivilisation tritt ein ganz neues Formproblem der Geschichte hervor, das wir Heutigen gerade durchleben, ohne es in seiner ganzen Tragweite auch nur entfernt begriffen zu haben. Statt einer Welt eine Stadt, ein Punkt, in dem sich das ganze Leben weiter Länder sammelt, während der Rest verdorrt; statt eines formvollen, mit der Erde verwachsenen Volkes ein neuer Nomade, ein Parasit, der Großstadtbewohner, der reine, traditionslose, in formlos fluktuierender Masse auftretende Tatsachenmensch, irreligiös, intelligent, unfruchtbar, mit einer tiefen Abneigung gegen das Bauerntum (und dessen höchste Form, den Landadel), also ein ungeheurer Schritt zum Anorganischen, zum Ende – was bedeutet das? Frankreich und England haben diesen Schritt vollzogen und Deutschland ist im Begriff, ihn zu tun. Auf Syrakus, Athen, Alexandria folgt Rom. Auf Madrid, Paris, London folgen Berlin und New York. Provinz zu werden ist das Schicksal ganzer Länder, die nicht im Strahlenkreis einer dieser Städte liegen wie damals Kreta und Makedonien, heute der skandinavische Norden.Was man in der Entwicklung Strindbergs und vor allem Ibsens, der in der zivilisierten Atmosphäre seiner Probleme immer nur Gast gewesen ist, nicht übersehen wird. Die Motive von »Brand« und »Rosmersholm« sind eine merkwürdige Mischung von angeborenem Provinzialismus und theoretisch erworbenem Weltstadthorizont. Nora ist das Urbild einer durch Lektüre aus der Bahn geratenen Provinzlerin.

Ehemals spielte sich der Kampf um die Fassung der Idee einer Epoche auf dem Boden metaphysischer, kultisch oder dogmatisch geprägter Weltprobleme zwischen dem erdhaften Geiste des Bauerntums (Adel und Priestertum) und dem »weltlichen« patrizischen Geiste der alten, kleinen, berühmten Städte der dorischen und gotischen Frühzeit ab. Dergestalt waren die Kämpfe um die Dionysosreligion – z. B. unter dem Tyrannen Kleisthenes von SikyonDer den Kult des Stadtheros Adrastos und den Vortrag der homerischen Gesänge verbot, um dem dorischen Adel die Wurzeln seines Seelentums zu nehmen (um 560). – und um die Reformation in den deutschen Reichsstädten und den Hugenottenkriegen. Aber wie diese Städte zuletzt das Land überwanden – ein rein städtisches Weltbewußtsein begegnet schon bei Parmenides und Descartes –, so überwindet die Weltstadt sie. Das ist der geistige Prozeß aller Spätzeiten, der Ionik wie des Barock. Heute wie zur Zeit des Hellenismus, an dessen Schwelle die Gründung einer künstlichen, also landfremden Großstadt, Alexandrias, steht, sind diese Kulturstädte – Florenz, Nürnberg, Salamanca, Brügge, Prag – Provinzstädte geworden, die gegen den Geist der Weltstädte einen hoffnungslosen inneren Widerstand leisten. Die Weltstadt bedeutet den Kosmopolitismus an Stelle der »Heimat«,Ein tiefes Wort, das seinen Sinn erhält, sobald der Barbar zum Kulturmenschen wird, und ihn wieder verliert, sobald der zivilisierte Mensch das » ubi bene, ibi patria« zum Wahlspruch erhebt. den kühlen Tatsachensinn an Stelle der Ehrfurcht vor dem Überlieferten und Gewachsenen, die wissenschaftliche Irreligion als Petrefakt der voraufgegangenen Religion des Herzens, die »Gesellschaft« an Stelle des Staates, die natürlichen statt der erworbenen Rechte. Das Geld als anorganische, abstrakte Größe, von allen Beziehungen zum Sinn des fruchtbaren Bodens, zu den Werten einer ursprünglichen Lebenshaltung gelöst – das haben die Römer vor den Griechen voraus. Von hier an ist eine vornehme Weltanschauung auch eine Geldfrage. Nicht der griechische Stoizismus des Chrysipp, aber der spätrömische des Cato und Seneca setzt als Grundlage ein Vermögen voraus,Deshalb verfielen dem Christentum zuerst die Römer, die es sich nicht leisten konnten, Stoiker zu sein. Vgl. Bd. II, S. 1165 f. und nicht die sozialethische Gesinnung des 18. Jahrhunderts, aber die des 20. ist, wenn sie über eine berufsmäßige – einträgliche – Agitation hinaus Tat werden will, eine Sache für Millionäre. Zur Weltstadt gehört nicht ein Volk, sondern eine Masse. Ihr Unverständnis für alles Überlieferte, in dem man die Kultur bekämpft (den Adel, die Kirche, die Privilegien, die Dynastie, in der Kunst die Konventionen, in der Wissenschaft die Grenzen der Erkenntnismöglichkeit), ihre der bäuerlichen Klugheit überlegene scharfe und kühle Intelligenz, ihr Naturalismus in einem ganz neuen Sinne, der über Sokrates und Rousseau weit zurück in bezug auf alles Sexuelle und Soziale an urmenschliche Instinkte und Zustände anknüpft, das panem et circenses, das heute wieder in der Verkleidung von Lohnkampf und Sportplatz erscheint – alles das bezeichnet der endgültig abgeschlossenen Kultur, der Provinz gegenüber eine ganz neue, späte und zukunftslose, aber unvermeidliche Form menschlicher Existenz.

Das ist es, was gesehen sein will, nicht mit den Augen des Parteimannes, des Ideologen, des zeitgemäßen Moralisten, aus dem Winkel irgendeines »Standpunktes« heraus, sondern aus zeitloser Höhe, den Blick auf die historische Formenwelt von Jahrtausenden gerichtet – wenn man wirklich die große Krisis der Gegenwart begreifen will.

Ich sehe Symbole ersten Ranges darin, daß in Rom, wo der Triumvir Crassus der allmächtige Bauplatzspekulant war, das auf allen Inschriften prangende römische Volk, vor dem Gallier, Griechen, Parther, Syrer in der Ferne zitterten, in ungeheurem Elend in den vielstöckigen Mietskasernen lichtloser VorstädteIn Rom und Byzanz wurden sechs- bis zehnstöckige Miethäuser – bei höchstens drei Metern Straßenbreite – errichtet, die bei dem Fehlen aller baupolizeilichen Vorschriften oft genug mit ihren Bewohnern zusammenbrachen. Ein großer Teil der cives Romani, für die » panem et circenses« den ganzen Lebensinhalt bildeten, besaß nur einen teuer bezahlten Schlafplatz in den ameisenhaft wimmelnden » insulae« (Pöhlmann, Aus Altertum u. Gegenwart (1911), S. 199 ff.). hauste und die Erfolge der militärischen Expansion mit Gleichgültigkeit oder einer Art von sportlichem Interesse aufnahm; daß manche der großen Familien des Uradels, Nachkommen der Sieger über die Kelten, Samniten und Hannibal, weil sie sich an der wüsten Spekulation nicht beteiligten, ihre Stammhäuser aufgeben und armselige Mietwohnungen beziehen mußten; daß, während sich längs der Via Appia die noch heute bewunderten Grabmäler der Finanzgrößen Roms erhoben, die Leichen des Volkes zusammen mit Tierkadavern und Großstadtkehricht in ein grauenhaftes Massengrab geworfen wurden, bis man unter Augustus, um Seuchen zu verhüten, die Stelle zuschüttete, auf der Mäcenas dann seinen berühmten Park anlegte; daß in dem entvölkerten Athen, das von Fremdenbesuch und den Stiftungen reicher Ausländer (wie des Judenkönigs Herodes) lebte, der Reisepöbel allzu rasch reich gewordener Römer die Werke der perikleischen Zeit begaffte, von denen er so wenig verstand wie die amerikanischen Besucher der Sixtinischen Kapelle von Michelangelo, nachdem man alle beweglichen Kunstwerke fortgeschleppt oder zu phantastischen Modepreisen angekauft und dafür kolossale und anmaßende Römerbauten neben die tiefen und bescheidenen Werke der alten Zeit gesetzt hatte. In diesen Dingen, die der Historiker nicht zu loben oder tadeln, sondern morphologisch abzuwägen hat, liegt für den, welcher zu sehen gelernt hat, eine Idee unmittelbar zutage.

Denn es wird sich zeigen, daß von diesem Augenblick an alle großen Konflikte der Weltanschauung, der Politik, der Kunst, des Wissens, des Gefühls im Zeichen dieses einen Gegensatzes stehen. Was ist zivilisierte Politik von morgen im Gegensatz zur kultivierten von gestern? In der Antike Rhetorik, im Abendlande Journalismus, und zwar im Dienste jenes Abstraktums, das die Macht der Zivilisation repräsentiert, des Geldes.Vgl. Bd. II, S. 1134 ff. Sein Geist ist es, der unvermerkt die geschichtlichen Formen des Völkerdaseins durchdringt, oft ohne sie im geringsten zu ändern oder zu zerstören. Der römische Staat ist der Form nach vom älteren Scipio Africanus bis auf Augustus in viel höherem Grade stationär geblieben, als dies in der Regel angenommen wird. Aber die großen Parteien sind nur noch scheinbar Mittelpunkte der entscheidenden Aktionen. Es ist eine kleine Anzahl überlegener Köpfe, deren Namen in diesem Augenblick vielleicht nicht die bekanntesten sind, die alles entscheidet, während die große Masse der Politiker zweiten Ranges, Rhetoren und Tribunen, Abgeordnete und Journalisten, eine Auswahl nach Provinzhorizonten, nach unten die Illusion einer Selbstbestimmung des Volkes aufrecht erhält. Und die Kunst? Die Philosophie? Die Ideale der platonischen und der kantischen Zeit galten einem höhern Menschentum überhaupt; die des Hellenismus und der Gegenwart, vor allem der Sozialismus, der ihm innerlich ganz nahe verwandte Darwinismus mit seinen so ganz ungoetheschen Formeln vom Kampf ums Dasein und der Zuchtwahl, die damit wiederum verwandten Frauen- und Eheprobleme bei Ibsen, Strindberg und Shaw, die impressionistischen Neigungen einer anarchischen Sinnlichkeit, das ganze Bündel moderner Sehnsüchte, Reize und Schmerzen, deren Ausdruck die Lyrik Baudelaires und die Musik Wagners ist, sind nicht für das Weltgefühl des dörflichen und überhaupt des natürlichen Menschen, sondern ausschließlich für den weltstädtischen Gehirnmenschen da.

Je kleiner die Stadt, desto sinnloser die Beschäftigung mit dieser Malerei und Musik. Zur Kultur gehört die Gymnastik, das Turnier, der Agon, zur Zivilisation der Sport. Auch das unterscheidet die hellenische Palästra vom römischen Zirkus.Die deutsche Gymnastik ist seit 1813 und den sehr provinzialen, urwüchsigen Formen, die ihr Jahn damals gab, in rascher Entwicklung zum Sportmäßigen begriffen. Der Unterschied eines Berliner Sportplatzes an einem großen Tage von einem römischen Zirkus war schon 1914 sehr gering. Die Kunst selbst wird Sport – das bedeutet l'art pour l'art – vor einem hochintelligenten Publikum von Kennern und Käufern, mag es sich um die Bewältigung absurder instrumentaler Tonmassen oder harmonischer Hindernisse, mag es sich um das »Nehmen« eines Farbenproblems handeln. Eine neue Tatsachenphilosophie erscheint, die für metaphysische Spekulationen nur ein Lächeln übrig hat, eine neue Literatur, dem Intellekt, dem Geschmack und den Nerven des Großstädters ein Bedürfnis, dem Provinzialen unverständlich und verhaßt. Weder die alexandrinische Poesie, noch die Freilichtmalerei gehen das »Volk« etwas an. Der Übergang wird damals wie heute durch eine Reihe nur in dieser Epoche anzutreffender Skandale bezeichnet. Die Entrüstung der Athener über Euripides und die revolutionären Malweisen z. B. des Apollodor wiederholt sich in der Auflehnung gegen Wagner, Manet, Ibsen und Nietzsche.

Man kann die Griechen verstehen, ohne von ihren wirtschaftlichen Verhältnissen zu reden. Die Römer versteht man nur durch sie. Bei Chäronea und bei Leipzig wurde zum letzten Male um eine Idee gekämpft. Im ersten punischen Kriege und bei Sedan sind die wirtschaftlichen Momente nicht mehr zu übersehen. Erst die Römer mit ihrer praktischen Energie haben der Sklavenhaltung jenen riesenhaften Stil gegeben, der für viele den Typus der antiken Wirtschaftsführung, Rechtsbildung und Lebensweise beherrscht und jedenfalls den Wert und die innere Würde der daneben stehenden freien Lohnarbeit gewaltig herabgesetzt hat. Erst die germanischen, nicht die romanischen Völker Westeuropas und Amerikas haben dementsprechend aus der Dampfmaschine eine das Bild der Länder verändernde Großindustrie entwickelt. Man wird die Beziehung beider zum Stoizismus und zum Sozialismus nicht übersehen. Erst der römische, durch C. Flaminius angekündigte, in Marius zum erstenmal Gestalt gewordene Cäsarismus hat innerhalb der antiken Welt die Erhabenheit des Geldes – in der Hand starkgeistiger, groß angelegter Tatsachenmenschen – kennen gelehrt. Ohne das ist weder Cäsar noch das Römertum überhaupt verständlich. Jeder Grieche hat einen Zug von Don Quijote, jeder Römer einen von Sancho Pansa – was sie sonst noch waren, tritt dahinter zurück.


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