Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Die Zukunft wird sich an die schwierige Aufgabe wagen müssen, in der Weltanschauung und Philosophie gotischen Stils die gleiche Sonderung der letzten Elemente vorzunehmen wie in der Ornamentik der Kathedralen und in der primitiven damaligen Malerei, die zwischen dem flachen Goldgrund und weiträumigen landschaftlichen Hintergründen – der magischen und der faustischen Art, Gott in der Natur zu sehen – noch keine Entscheidung zu treffen wagt. Es vermischen sich im frühen Seelenbilde, wie es in dieser Philosophie zum Vorschein kommt, in zaghafter Unreife die Züge christlich-arabischer Metaphysik, des Dualismus von Geist und Seele, mit nordischen Ahnungen von funktionalen Seelenkräften, die man sich noch nicht eingesteht. Dieser Zwiespalt liegt dem Streit um den Primat des Willens oder der Vernunft zugrunde, dem Grundproblem der gotischen Philosophie, das man bald im alten arabischen, bald im neuen abendländischen Sinne zu lösen sucht. Es ist derselbe begriffliche Mythos, welcher in stets sich ändernder Fassung den Gang unserer gesamten Philosophie bestimmt hat und diese von jeder anderen scharf unterscheidet. Der Rationalismus des späten Barock hat sich, mit dem ganzen Stolz des seiner selbst sicher gewordnen städtischen Geistes, für die größere Macht der Göttin Vernunft entschieden, bei Kant und bei den Jakobinern. Aber schon das 19. Jahrhundert hat, vor allem in Nietzsche, wieder die stärkere Formel gewählt: voluntas superior intellectu, die uns allen im Blute liegt.Wenn deshalb auch in diesem Buche Zeit, Richtung und Schicksal den Vorrang vor Raum und Kausalität erhalten, so sind es nicht Beweise des Verstandes, welche die Überzeugung herbeiführen, sondern – ganz unbewußt – Tendenzen des Lebensgefühls, welche sich Beweise verschafften. Eine andre Art der Entstehung philosophischer Gedanken gibt es nicht. Schopenhauer, der letzte große Systematiker, hat das auf die Formel »Die Welt als Wille und Vorstellung« gebracht, und nicht seine Metaphysik, nur seine Ethik ist es, die gegen den Willen entscheidet.

Hier tritt der geheimste Grund und Sinn allen Philosophierens innerhalb einer Kultur unmittelbar zutage. Denn es ist die faustische Seele, die in vierhundertjährigem Mühen ein Selbstbildnis zu zeichnen versucht, ein Bild, das zugleich mit dem Bilde der Welt einen tiefgefühlten Einklang aufweist. Die gotische Weltanschauung mit ihrem Ringen zwischen Vernunft und Wille ist in der Tat ein Ausdruck des Lebensgefühls jener Menschen der Kreuzzüge, der Stauferzeit und der großen Dombauten. Man sah die Seele so, weil man so war.

Wollen und Denken im Seelenbilde – das ist Richtung und Ausdehnung, Geschichte und Natur, Schicksal und Kausalität im Bilde der äußeren Welt. Daß unser Ursymbol die unendliche Ausgedehntheit ist, tritt in diesen Grundzügen beider Aspekte zutage. Der Wille knüpft die Zukunft an die Gegenwart, das Denken das Grenzenlose an das Hier. Die historische Zukunft ist die werdende, der unendliche Welthorizont die gewordene Ferne: dies ist der Sinn des faustischen Tiefenerlebnisses. Das Richtungsgefühl wird als »Wille«, das Raumgefühl als »Verstand« wesenhaft, beinahe mythisch vorgestellt: so entsteht das Bild, welches unsre Psychologen mit Notwendigkeit aus dem Innenleben abstrahieren.

Daß die faustische Kultur Willenskultur ist, ist nur ein andrer Ausdruck für die eminent historische Veranlagung ihrer Seele. Das »Ich« im Sprachgebrauch – ego habeo factum –, der dynamische Satzbau also gibt durchaus den Stil des Handelns wieder, welcher aus dieser Anlage folgt und mit seiner Richtungsenergie nicht nur das Bild der »Welt als Geschichte«, sondern unsere Geschichte selbst beherrscht. Dieses »Ich« steigt in der gotischen Architektur empor; die Turmspitzen und Strebepfeiler sind »Ich«, und deshalb ist die gesamte faustische Ethik ein »Empor«: Vervollkommnung des Ich, sittliche Arbeit am Ich, Rechtfertigung des Ich durch Glauben und gute Werke, Achtung des Du im Nächsten um des eignen Ich und seiner Seligkeit willen, von Thomas von Aquino bis zu Kant, und endlich das Höchste: Unsterblichkeit des Ich.

Es ist genau das, was der echte Russe als eitel empfindet und verachtet. Die russische, willenlose Seele, deren Ursymbol die unendliche Ebene ist, sucht in der Brüderwelt, der horizontalen, dienend, namenlos, sich verlierend aufzugeben. Von sich aus an den Nächsten denken, sich durch Nächstenliebe sittlich zu heben, für sich büßen wollen, ist ihr ein Zeichen westlicher Eitelkeit und frevelhaft wie das In-den-Himmel-dringen-Wollen unsrer Dome im Gegensatz zur kuppelbesetzten Dach ebene russischer Kirchen. Tolstois Held Nechludow pflegt sein sittliches Ich wie seine Nägel; eben deshalb gehört Tolstoi der Pseudomorphose des Petrinismus an. Raskolnikow dagegen ist nur irgend etwas in einem »Wir«. Seine Schuld ist die Schuld aller.Vgl. Bd. II, S. 921, Anm. 1. Auch nur seine Sünde als etwas Eignes zu betrachten ist Hochmut und Eitelkeit. Etwas davon liegt auch dem magischen Seelenbild zugrunde. »Wenn jemand zu mir kommt«, sagt Jesus (Luk. 14, 26), »und haßt nicht Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, vor allem aber sein eignes Ich (την εαυτου ψυχην), so kann er nicht mein Jünger sein.« Aus diesem Gefühl heraus nennt er sich ein Menschenkind.»Des Menschen Sohn« ist eine irreführende Übersetzung von barnasha; nicht das Sohnesverhältnis, sondern das unpersönliche Aufgehen in der Menschenebene liegt zugrunde. Auch der consensus der Rechtgläubigen ist unpersönlich und verdammt das »Ich« als Sünde, und ebenso der – echt russische – Begriff der Wahrheit als der namenlosen Übereinstimmung der Berufenen.

Der antike Mensch, ganz der Gegenwart gehörend, ist ebenfalls ohne die unser Welt- und Seelenbild beherrschende, alle Sinneseindrücke im Zug zur Ferne, alle innern Erlebnisse im Sinn der Zukunft sammelnde Richtungsenergie. Er ist »willenlos«. Darüber läßt die antike Schicksalsidee keinen Zweifel, noch weniger das Symbol der dorischen Säule. Wenn der Widerstreit zwischen Denken und Wollen das geheime Thema aller bedeutenden Bildnisse von Jan van Eyck bis zu Marées ist, so kann das antike Bildnis nichts davon enthalten, denn im antiken Seelenbilde stehen neben dem Denken (νουσ), dem inneren Zeus, die ahistorischen Einheiten der animalischen und vegetativen Triebe (θυμοσ und επιθυμια), ganz somatisch, ganz ohne bewußten Zug und Drang zu einem Ziel.

Wie man das faustische Prinzip bezeichnen will, das uns und nur uns angehört, ist gleichgültig. Name ist Schall und Rauch. Auch Raum ist ein Wort, das in tausend Spielarten im Munde des Mathematikers, Denkers, Dichters, Malers ein und dasselbe Unbeschreibliche ausdrücken möchte, das anscheinend der ganzen Menschheit angehört und doch mit diesem metaphysischen Hintersinn nur innerhalb der abendländischen Kultur die Geltung hat, die wir ihm mit innerer Notwendigkeit zuschreiben. Nicht der Begriff »Wille«, sondern der Umstand, daß es ihn für uns überhaupt gibt, während die Griechen ihn gar nicht kannten, hat die Bedeutung eines großen Symbols. Im letzten Grunde besteht zwischen Tiefenraum und Wille kein Unterschied. Den antiken Sprachen fehlt die Bezeichnung für das eine und also auch für das andere.εθελω und βουλομαι heißen, die Absicht, den Wunsch haben, geneigt sein; βουλη heißt Rat, Plan; zu εθελω gibt es überhaupt kein Hauptwort. Voluntas ist kein psychologischer Begriff, sondern in echt römischem Tatsachensinne wie potestas und virtus eine Bezeichnung für praktische, äußere, sichtbare Begabung, für die Wucht eines menschlichen Einzelseins. Wir gebrauchen in diesem Falle das Fremdwort Energie. Der »Wille« Napoleons und die Energie Napoleons: das ist etwas sehr Verschiedenes, wie etwa Flugkraft und Gewicht. Man verwechsle die nach außen gerichtete Intelligenz, die den Römer als zivilisierten Menschen vor dem hellenischen Kulturmenschen auszeichnet, nicht mit dem, was hier Wille genannt ist. Cäsar ist nicht Willensmensch im Sinne Napoleons. Bezeichnend ist der Sprachgebrauch im römischen Recht, das der Poesie gegenüber das Grundgefühl der römischen Seele viel ursprünglicher darstellt. Die Absicht heißt hier animus (animus occidendi), der Wunsch, der sich auf Strafbares richtet, dolus im Gegensatz zur ungewollten Rechtsverletzung ( culpa). Voluntas kommt als technischer Ausdruck gar nicht vor. Der reine Raum des faustischen Weltbildes ist nicht bloße Dehnung, sondern Ausdehnung in die Ferne als Wirksamkeit, als Überwindung des Nur-Sinnlichen, als Spannung und Tendenz, als geistiger Wille zur Macht. Ich weiß wohl, wie unzulänglich diese Umschreibungen sind. Es ist vollständig unmöglich, durch exakte Begriffe den Unterschied anzugeben zwischen dem, was wir und was die Menschen der arabischen oder indischen Kultur Raum nennen und bei diesem Worte denken, empfinden und vorstellen. Daß es etwas durchaus Verschiedenes ist, beweisen die sehr verschiedenen Grundanschauungen der jeweiligen Mathematik und bildenden Kunst, vor allem die unmittelbaren Äußerungen des Lebens. Wir werden sehen, wie die Identität von Raum und Wille in den Taten des Kopernikus und Kolumbus so gut wie in denen der Hohenstaufen und Napoleons zum Ausdruck kommt – Beherrschung des Weltraums –, aber sie liegt in andrer Weise auch in den physikalischen Begriffen des Kraftfeldes und Potentials, die man keinem Griechen hätte verständlich machen können. Raum als die Form a priori der Anschauung, die Formel, in welcher Kant endgültig aussprach, was die Barockphilosophie unablässig gesucht hatte – das bedeutet einen Herrschaftsanspruch der Seele über das Fremde. Das Ich regiert vermittelst der Form die Welt.Die chinesische Seele »wandelt in der Welt«: dies ist der Sinn der ostasiatischen Malerperspektive, deren Konvergenzpunkt in der Bildmitte, nicht in der Tiefe liegt. Durch die Perspektive werden die Dinge dem Ich, das sie ordnend auffaßt, unterworfen, und die antike Verneinung des perspektivischen Hintergrundes bedeutet also auch den Mangel an »Willen«, an Herrschaftsanspruch über die Welt. Der chinesischen Perspektive fehlt wie der chinesischen Technik (Bd. II, S. 1186, Anm. 2) die Richtungsenergie, und deshalb möchte ich, gegenüber dem mächtigen Zug in die Tiefe, der unsere Landschaftsmalerei auszeichnet, von einer Perspektive des tao der Ostasiaten reden, womit ein im Bilde wirkendes, nicht mißzuverstehendes Weltgefühl angedeutet ist.

Das bringt die Tiefenperspektive der Ölmalerei zum Ausdruck, die den unendlich gedachten Bildraum vom Betrachter abhängig macht, der ihn von der gewählten Entfernung aus im wörtlichen Sinne beherrscht. Es ist jener Zug in die Ferne, der zum Typus der heroischen, historisch empfundenen Landschaft im Gemälde wie im Park der Barockzeit führt, dasselbe, was der mathematisch-physikalische Begriff des Vektors zum Ausdruck bringt. Jahrhunderte hindurch hat die Malerei leidenschaftlich nach diesem großen Symbol gestrebt, in dem alles liegt, was die Worte Raum, Wille, Kraft ausdrücken möchten. Ihm entspricht die ständige Tendenz der Metaphysik, durch Begriffspaare wie Erscheinung und Ding an sich, Wille und Vorstellung, Ich und Nicht-Ich, die sämtlich von rein dynamischem Gehalte sind, sehr im Gegensatz zur Lehre des Protagoras vom Menschen als dem Maß, also nicht dem Schöpfer aller Dinge, die funktionelle Abhängigkeit der Dinge vom Geist zu formulieren. Der antiken Metaphysik gilt der Mensch als Körper unter Körpern, und Erkennen ist hier eine Art von Berührung, die vom Erkannten zum Erkennenden hinüberging, nicht umgekehrt. Die optischen Theorien des Anaxagoras und Demokrit sind weit entfernt, dem Menschen eine Aktivität in der Sinneswahrnehmung zuzugestehen. Plato empfindet das Ich niemals als Mittelpunkt einer transzendenten Wirkungssphäre, wie es Kant ein inneres Bedürfnis war. Die Gefangenen in seiner berühmten Höhle sind wirklich Gefangene, Sklaven äußerer Eindrücke, nicht ihre Herren, von der allgemeinen Sonne beschienen, nicht selbst Sonnen, die das All durchleuchten.

Der physikalische Begriff der Raumenergie – die gänzlich unantike Vorstellung, daß bereits die räumliche Distanz eine Energieform, sogar die Urform aller Energie ist, denn das ist die Grundlage der Begriffe Kapazität und Intensität – beleuchtet auch das Verhältnis des Willens zum imaginären Seelenraum. Wir fühlen, daß beides, das dynamische Weltbild Galileis und Newtons und das dynamische Seelenbild mit dem Willen als Schwerpunkt und Beziehungszentrum, ein und dasselbe bedeuten. Sie sind beide Barockgebilde, Symbole der zur vollen Reife gelangten faustischen Kultur.

Man tut unrecht, wie es oft geschieht, den Kult des »Willens«, wenn nicht für allgemein menschlich, so doch für allgemein christlich zu halten und aus dem Ethos der früharabischen Religionen abzuleiten. Dieser Zusammenhang gehört lediglich der historischen Oberfläche an und man verwechselt die Schicksale von Worten wie voluntas, deren tiefsymbolischen Bedeutungswandel man nicht bemerkt, mit der Geschichte von Wortbedeutungen und Ideen. Wenn arabische Psychologen, Murtada z. B., von der Möglichkeit mehrerer »Willen« reden, von einem »Willen«, der mit dem Tun zusammenhängt, von einem andern, der ihm selbständig voraufgeht, von einem »Willen«, der überhaupt keine Beziehung zur Tat hat, der das »Wollen« erst erzeugt usw., wobei es auf die tiefere Bedeutung des arabischen Wortes ankommt, so haben wir offenbar ein Seelenbild vor uns, das der Struktur nach von dem faustischen gänzlich verschieden ist.

Die Seelenelemente sind für jeden Menschen, welcher Kultur er auch angehört, die Gottheiten einer inneren Mythologie. Was Zeus für den äußeren Olymp ist, das ist für den der inneren Welt, für jeden Griechen mit vollkommener Deutlichkeit vorhanden, der νουσ, welcher über den andern Seelenteilen thront. Was für uns »Gott« ist, Gott als Weltatem, als die Allkraft, als die allgegenwärtige Wirkung und Vorsehung, das ist, aus dem Weltraum in den imaginären Seelenraum zurückgespiegelt und von uns mit Notwendigkeit als wirklich vorhanden empfunden, »Wille«. Zum mikrokosmischen Dualismus der magischen Kultur, zu ruach und nephesch, pneumaund psyche gehört mit Notwendigkeit der makrokosmische Gegensatz von Gott und Teufel, persisch Ormuzd und Ahriman, jüdisch Jahwe und Beelzebub, islamisch Allah und Iblis, dem absolut Guten und dem absolut Bösen, und man wird bemerken, daß im abendländischen Weltgefühl beide Gegensätze zugleich verblassen. In demselben Grade wie aus dem gotischen Streit um den Vorrang von intellectus oder voluntas sich der Wille als Mittelpunkt eines seelischen Monotheismus herausbildet, entschwindet die Gestalt des Teufels aus der wirklichen Welt. Zur Barockzeit hat der Pantheismus der Außenwelt einen inneren unmittelbar zur Folge, und was – in welcher Bedeutung auch – der Gegensatz Gott und Welt bezeichnen soll, das bezeichnet jedesmal das Wort Wille gegenüber der Seele überhaupt: die allbewegende Kraft in ihrem Reich.Es versteht sich, daß der Atheismus keine Ausnahme bildet. Wenn der Materialist oder Darwinist von »der Natur« redet, die etwas zweckmäßig anordnet, die eine Auslese trifft, die etwas hervorbringt oder vernichtet, so hat er dem Deismus des 18. Jahrhunderts gegenüber nur ein Wort verändert und das Weltgefühl unverändert bewahrt. Sobald das religiöse Denken in ein streng wissenschaftliches übergeht, besteht auch ein doppelter Begriffsmythos in Physik und Psychologie. Der Ursprung der Begriffe Kraft, Masse, Wille, Leidenschaft beruht nicht auf objektiver Erfahrung, sondern auf einem Lebensgefühl. Der Darwinismus ist nichts anderes als eine außergewöhnlich flache Fassung dieses Gefühls. Kein Grieche würde das Wort Natur im Sinne einer absoluten und planmäßigen Aktivität so gebraucht haben, wie die moderne Biologie es tut. Der »Wille Gottes« ist für uns ein Pleonasmus. Gott (oder »die Natur«) ist nichts als Wille. So gut der Gottesbegriff seit der Renaissance unmerklich mit dem Begriff des unendlichen Weltraums identisch wird und die sinnlichen, persönlichen Züge verliert – Allgegenwart und Allmacht sind beinahe mathematische Begriffe geworden –, so gut wird er zum unanschaulichen Weltwillen. Die reine Instrumentalmusik überwindet deshalb um 1700 die Malerei als das einzige und letzte Mittel, dies Gefühl von Gott zu verdeutlichen. Demgegenüber denke man an die Götter Homers. Zeus besitzt durchaus nicht die volle Macht über die Welt; selbst auf dem Olymp ist er – wie es das apollinische Weltgefühl fordert – primus inter pares, Körper unter Körpern. Die blinde Notwendigkeit, die Ananke, welche das antike Wachsein im Kosmos erblickt, ist keineswegs von ihm abhängig. Im Gegenteil: die Götter sind ihr unterworfen. Das wird von Aischylos an einer gewaltigen Stelle des »Prometheus« laut ausgesprochen, aber man fühlt es schon bei Homer im Streit der Götter und an jener entscheidenden Stelle, wo Zeus die Schicksalswaage hebt, um das Los Hektors nicht zu fällen, sondern zu erfahren. Also stellt sich die antike Seele mit ihren Teilen und Eigenschaften als ein Olymp kleiner Götter dar, die in friedlichem Einvernehmen zu halten das Ideal hellenischer Lebensführung, der Sophrosyne und Ataraxia ist. Mehr als ein Philosoph verrät den Zusammenhang, indem er den höchsten Seelenteil, den νουσ, als Zeus bezeichnet. Aristoteles schreibt seiner Gottheit als einzige Funktion die θεωρια, die Beschaulichkeit zu; es ist das Ideal des Diogenes: eine zur Vollkommenheit gereifte Statik des Lebens gegenüber der ebenso vollkommenen Dynamik im Lebensideal des 18. Jahrhunderts.

Das rätselhafte Etwas im Seelenbild, welches das Wort Wille bezeichnet, die Leidenschaft der dritten Dimension, ist also ganz eigentlich eine Schöpfung des Barock, wie die Perspektive der Ölmalerei, wie der Kraftbegriff der neueren Physik, wie die Tonwelt der reinen Instrumentalmusik. In allen Fällen hatte die Gotik vorgedeutet, was diese Jahrhunderte der Durchgeistigung zur Reife brachten. Halten wir hier, wo es sich um den Stil des faustischen Lebens im Gegensatz zu jedem andern handelt, daran fest, daß die Urworte Wille, Kraft, Raum, Gott, vom faustischen Bedeutungsgefühl getragen und durchseelt, Sinnbilder sind, schöpferische Grundzüge großer, einander verwandter Formenwelten, in denen dieses Sein sich zum Ausdruck bringt. Man war bis jetzt des Glaubens, hier »an sich seiende«, ewige Tatsachen mit Händen zu greifen, die irgendwann einmal auf dem Wege kritischer Forschung endgültig gesichert, »erkannt«, bewiesen sein würden. Diese Illusion der Naturwissenschaft war in gleicher Weise die der Psychologie. Die Einsicht, daß diese »allgemeingültigen« Grundlagen lediglich zum Barockstil des Schauens und Verstehens gehören, als Ausdrucksformen von vorübergehender Bedeutung und »wahr« nur für die westeuropäische Geistesart, verändert den ganzen Sinn dieser Wissenschaften, die nicht allein Subjekte eines systematischen Erkennens, sondern in viel höherem Grade Objekte einer physiognomischen Betrachtung sind.

Die Architektur des Barock begann, wie wir sahen, als Michelangelo die tektonischen Elemente der Renaissance, Stütze und Last, durch die dynamischen, Kraft und Masse, ersetzte. Brunellescos Pazzikapelle drückt eine heitere Gelassenheit aus; Vignolas Fassade von Il Gesù ist steingewordner Wille. Man hat den neuen Stil in seiner kirchlichen Prägung Jesuitenstil genannt, vor allem nach der Vollendung, die er durch Vignola und Della Porta erfuhr, und in der Tat besteht ein innerer Zusammenhang zwischen ihm und der Schöpfung des Ignaz von Loyola, dessen Orden den reinen, abstrakten Willen der KircheDer große Anteil, den gelehrte Jesuiten an der Entwicklung der theoretischen Physik haben, darf nicht übersehen werden. Der Pater Boscovich war der erste, der über Newton hinausgehend ein System der Zentralkräfte schuf (1759). Im Jesuitismus ist die Gleichsetzung Gottes mit dem reinen Raum fühlbarer noch als im Kreise der Jansenisten von Port Royal, dem die Mathematiker Descartes und Pascal nahestanden. repräsentiert, dessen verborgene, ins Unendliche sich erstreckende Wirksamkeit das Seitenstück zur Analysis und zur Kunst der Fuge ist.

Es wird von nun an nicht mehr als Paradoxon empfunden werden, wenn künftig vom Barockstil, ja vom Jesuitenstil in der Psychologie, Mathematik und theoretischen Physik die Rede ist. Die Formensprache der Dynamik, welche den energischen Gegensatz von Kapazität und Intensität an Stelle des somatisch-willenlosen von Stoff und Form setzt, ist allen geistigen Schöpfungen dieser Jahrhunderte gemeinsam.


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