Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Jede überhaupt denkbare antike Ethik gestaltet den einzelnen ruhenden Menschen, als Körper unter Körpern. Alle Wertungen des Abendlandes beziehen sich auf den Menschen, sofern er Wirkungszentrum einer unendlichen Allgemeinheit ist. Ethischer Sozialismus das ist die Gesinnung der Tat, welche durch den Raum in die Ferne wirkt, das moralische Pathos der dritten Dimension, als deren Zeichen das Urgefühl der Sorge, für die Mitlebenden wie für die Kommenden, über dieser ganzen Kultur schwebt. So kommt es, daß im Anblick der ägyptischen Kultur für uns etwas Sozialistisches liegt. Auf der andern Seite erinnert die Tendenz auf ruhevolle Haltung, Wunschlosigkeit, statische Abgeschlossenheit des einzelnen für sich an die indische Ethik und den von ihr gestalteten Menschen. Man denke an die sitzenden, »ihren Nabel beschauenden« Buddhastatuen, denen Zenons Ataraxia nicht ganz fremd ist. Das ethische Ideal des antiken Menschen war das, zu welchem die Tragödie hinleitete. Die Katharsis, die Entladung der apollinischen Seele von dem, was nicht apollinisch, nicht frei von »Ferne« und Richtung war, offenbart hier ihren tiefsten Sinn. Man versteht sie nur, wenn man den Stoizismus als ihre reife Form erkennt. Was das Drama in einer feierlichen Stunde bewirkte, wünschte die Stoa über das ganze Leben zu verbreiten: die statuenhafte Ruhe, das willensfreie Ethos. Und weiter: Eben jenes buddhistische Ideal des Nirwana, eine sehr späte Formel, aber ganz indisch und schon von den vedischen Zeiten an zu verfolgen: ist das nicht der Katharsis nahe verwandt? Rücken vor diesem Begriff der ideale antike und der ideale indische Mensch nicht eng zusammen, sobald man sie mit dem faustischen Menschen vergleicht, dessen Ethik sich ebenso deutlich aus der Tragödie Shakespeares und ihrer dynamischen Entwicklung und Katastrophe begreifen läßt? In der Tat: Sokrates, Epikur und vor allem Diogenes am Ganges – das wäre sehr wohl vorzustellen. Diogenes in einer der westeuropäischen Weltstädte wäre ein bedeutungsloser Narr. Und andrerseits, Friedrich Wilhelm I., das Urbild eines Sozialisten in großem Sinne, ist in dem Staatswesen am Nil immerhin denkbar. Im perikleischen Athen ist er es nicht.

Hätte Nietzsche vorurteilsfreier und weniger von einer romantischen Schwärmerei für gewisse ethische Schöpfungen bestimmt seine Zeit beobachtet, so würde er bemerkt haben, daß eine vermeintlich spezifisch christliche Mitleidsmoral in seinem Sinne auf dem Boden Westeuropas gar nicht besteht. Man muß sich durch den Wortlaut humaner Formeln nicht über ihre tatsächliche Bedeutung täuschen lassen. Zwischen der Moral, die man hat, und derjenigen, die man zu haben glaubt, besteht ein sehr schwer aufzufindendes und sehr schwankendes Verhältnis. Eben hier wäre eine unbestechliche Psychologie am Platze gewesen. Mitleid ist ein gefährliches Wort. Es fehlt, trotz der Meisterschaft gerade Nietzsches, noch an einer Untersuchung darüber, was man zu verschiedenen Zeiten darunter verstanden und darunter gelebt hat. Die christliche Moral zur Zeit des Origenes ist etwas ganz anderes als die zur Zeit des Franz von Assisi. Es ist hier nicht der Ort zu untersuchen, was faustisches Mitleid als Opfer oder als Haltlosigkeit und dann wieder als Rassegefühl einer ritterlichen GesellschaftVgl. Bd. II, S. 891 f. im Unterschiede von magisch-christlichem, fatalistischem Mitleid bedeutet, inwiefern es als Wirkung in die Ferne, als praktische Dynamik aufzufassen ist, und andrerseits als Selbstbezwingung einer stolzen Seele oder wieder als Äußerung eines überlegenen Distanzgefühls. Der unveränderliche Schatz ethischer Wendungen, wie ihn das Abendland seit der Renaissance besitzt, hat eine unermeßliche Fülle verschiedener Gesinnungen von sehr verschiedenem Gehalt zu decken. Der Oberflächensinn, an den man glaubt, das bloße Wissen um Ideale ist unter so historisch und zurückschauend angelegten Menschen, wie wir es sind, ein Ausdruck der Ehrfurcht vor Vergangenem, in diesem Falle der religiösen Tradition. Aber der Wortlaut von Überzeugungen ist nie der Maßstab für ein wirkliches Überzeugtsein. Es ist selten, daß ein Mensch weiß, was er eigentlich glaubt. Schlagworte und Lehren sind immer etwas Volkstümliches und bleiben weit hinter der Tiefe jeder geistigen Wirklichkeit zurück. Die theoretische Verehrung neutestamentlicher Satzungen steht in der Tat mit der theoretischen Hochschätzung der antiken Kunst durch Renaissance und Klassizismus auf einer Stufe. Die eine hat so wenig den Menschen wie die andre den Geist der Werke umgewandelt. Die stets genannten Beispiele der Bettelorden, der Herrnhuter, der Heilsarmee beweisen schon durch ihre geringe Zahl, mehr noch durch ihr geringes Gewicht, daß sie den Ausnahmefall von etwas ganz anderem, der eigentlich faustisch-christlichen Moral nämlich, darstellen. Man wird ihre Formulierung allerdings bei Luther und im Tridentinum vergeblich suchen, aber alle Christen großen Stils, Innocenz III. und Calvin, Loyola und Savonarola, Pascal und die heilige Teresia, trugen sie im Widerspruch zu ihren Lehrmeinungen in sich, ohne daß sie das je bemerkt hätten.

Man braucht nur den rein abendländischen Begriff jener männlichen Tugend, der durch Nietzsches »moralinfreie« virtù bezeichnet ist, die grandezza des spanischen, die grandeur des französischen Barock, mit jener sehr weiblichen αρετή des hellenischen Ideals zu vergleichen, als deren Praxis immer die Genußfähigkeit (ηδονή), Gemütsruhe (γαλήνη, απάθεια), Bedürfnislosigkeit und vor allem immer wieder die αταραξία zum Vorschein kommt. Was Nietzsche die blonde Bestie nannte und was er in dem von ihm überschätzten Typus des Renaissancemenschen verkörpert fand (der nur ein raubkatzenhafter Nachschlag der großen Deutschen der Stauferzeit war), ist das strengste Gegenteil des Typus, den ohne Ausnahme alle antiken Ethiken gewünscht und alle antiken Menschen von Bedeutung verkörpert haben. Dahin gehören die Menschen von Granit, von denen die faustische Kultur eine lange Reihe vorüberziehen sah, die antike nicht einen einzigen. Denn Perikles und Themistokles waren weiche Naturen im Sinne attischer Kalokagathie, Alexander war ein Schwärmer, der nie aufgewacht ist, Cäsar ein kluger Rechner; Hannibal, der Fremde, war der einzige »Mann« unter ihnen. Die Menschen der Frühzeit, auf die man aus Homer schließen darf, diese Odysseus und Ajax hätten sich neben der Ritterschaft der Kreuzzüge merkwürdig ausgenommen. Es gibt auch eine Brutalität als Rückschlag sehr weiblicher Naturen, und dahin gehört die hellenische Grausamkeit. Hier im Norden aber erscheinen an der Schwelle der Frühzeit die großen Sachsen-, Franken- und Staufenkaiser, umgeben von einer Schar riesenhafter Menschen wie Heinrich dem Löwen und Gregor VII. Es folgen die Menschen der Renaissance, der Kämpfe der weißen und roten Rose, der Hugenottenkriege; die spanischen Konquistadoren, die preußischen Kurfürsten und Könige, Napoleon, Bismarck, Cecil Rhodes. Wo gab es eine zweite Kultur, die dem etwas an die Seite zu setzen hätte? Wo besitzt die ganze hellenische Geschichte eine Szene von der Mächtigkeit jener von Legnano, damals als der Zwist zwischen Staufen und Welfen zum Ausbruch kam? Die Recken der Völkerwanderung, spanische Ritterlichkeit, preußische Disziplin, napoleonische Energie – das alles hat wenig Antikes. Und wo findet sich auf den Höhen faustischen Menschentums von den Kreuzzügen bis zum Weltkrieg jene »Sklavenmoral«, jene weiche Entsagung, jene Caritas im Betschwesternsinne? In den Worten, die man achtet, nirgends sonst. Ich denke da auch an die Typen des faustischen Priestertums, an jene prachtvollen Bischöfe der deutschen Kaiserzeit, die hoch zu Roß in wilden Schlachten ihre Leute anführten, an die Päpste, denen Heinrich IV. und Friedrich II. unterlagen, an den Deutschritterorden in den Ostmarken, an den Luthertrotz, in dem sich altnordisches Heidentum gegen altrömisches aufbäumte, an die großen Kardinäle Richelieu, Mazarin und Fleury, die Frankreich geschaffen haben. Das ist faustische Moral. Man muß blind sein, um diese unbändige Lebenskraft nicht im gesamten Bilde der westeuropäischen Geschichte wirksam zu finden. Und erst aus diesen großen Fällen weltlicher Leidenschaft, in denen das Bewußtsein einer Sendung zum Ausdruck kommt, begreift man die einer geistlichen von großem Stil, einer erhabenen Caritas, der nichts widersteht, und die in ihrer Dynamik so ganz anders erscheint als antike Gemessenheit und frühchristliche Milde. Es liegt Härte in der Art des Mit-Leidens, das deutsche Mystiker, deutsche und spanische Ordensritter, französische und englische Calvinisten gepflegt haben. Mit einem russischen Mitleiden wie dem Raskolnikows verschwindet ein Geist in der Brüdermenge; mit dem faustischen hebt er sich ab von ihr. »Ego habeo factum« – das ist auch die Formel dieser persönlichen Caritas, welche den einzelnen vor Gott rechtfertigt.

Das ist der Grund, weshalb die »Mitleidsmoral« im Alltagssinne unter uns immer mit Achtung genannt, zuweilen von Denkern angefochten, zuweilen gewünscht, aber niemals verwirklicht worden ist. Kant hat sie mit Entschiedenheit abgelehnt. In der Tat steht sie im innersten Widerspruch zum kategorischen Imperativ, der den Sinn des Lebens in der Tat, nicht im Nachgeben weichen Stimmungen gegenüber sieht. Nietzsches »Sklavenmoral« ist ein Phantom. Seine Herrenmoral ist eine Realität. Sie brauchte nicht erst entworfen zu werden; sie war längst vorhanden. Nimmt man die romantische Borgiamaske hinweg und jene nebelhaften Visionen vom Übermenschen, so bleibt der faustische Mensch selbst übrig, wie er heute da ist und zur Zeit der isländischen Sagas bereits da war, als Typus einer energischen, imperativischen, dynamischen Kultur. Mag es in der Antike gewesen sein wie es will; unsere großen Wohltäter sind die großen Täter, deren Vor- und Fürsorge Millionen gilt, die großen Staatsmänner und Organisatoren. »Eine höhere Art Menschen, welche sich, dank ihrem Übergewicht von Wollen, Wissen, Reichtum und Einfluß, des demokratischen Europas bedienen als ihres gefügigsten und beweglichsten Werkzeuges, um die Schicksale der Erde in die Hand zu bekommen, um am ¸Menschen' selbst als Künstler zu gestalten. Genug, die Zeit kommt, da man über Politik umlernen wird.« So heißt es in einer der Nachlaßaufzeichnungen Nietzsches, die viel konkreter sind als die ausgeführten Werke. »Wir müssen entweder politische Fähigkeiten züchten oder durch die Demokratie zugrunde gehen, die uns die mißglückten älteren Alternativen aufgezwungen haben«, heißt es bei Shaw (»Mensch und Übermensch«). Shaw, der vor Nietzsche die praktische Schulung und den geringeren Grad von Ideologie voraus hat, so beschränkt sein philosophischer Horizont sonst erscheint, hat in »Major Barbara« in der Gestalt des Milliardärs Undershaft das Übermenschenideal in die unromantische Sprache der neuern Zeit übertragen, aus der es, auf dem Umweg über Malthus und Darwin, auch bei Nietzsche wirklich stammt. Diese Tatsachenmenschen großen Stils sind es, welche heute den Willen zur Macht über das Los der andern und damit die faustische Ethik überhaupt repräsentieren. Menschen dieser Art werfen ihre Millionen nicht zur Befriedigung eines uferlosen Wohltuns hinaus für die Träumer, »Künstler«, Schwachen, Schlechtweggekommenen; sie verwenden sie für die, welche als Material für die Zukunft mitzählen. Sie verfolgen mit ihnen ein Ziel. Sie schaffen eine Kraftmitte für das Dasein von Generationen, welche die Grenzen des persönlichen Daseins überdauert. Auch das Geld kann Ideen entwickeln und Geschichte machen. So hat Rhodes, in dem sich ein sehr bedeutungsvoller Typus des 21. Jahrhunderts ankündigt, sein Vermögen testamentarisch angelegt. Es ist flach und beweist die Unfähigkeit, Geschichte innerlich zu begreifen, wenn man das literarische Geschwätz populärer Sozialethiker und Humanitätsapostel nicht von den tiefen ethischen Instinkten der westeuropäischen Zivilisation zu unterscheiden weiß.

Der Sozialismus – in seinem höchsten Sinne, nicht in dem der Gasse – ist wie alles Faustische ein exklusives Ideal, das seine Volkstümlichkeit nur einem vollkommenen Mißverständnis auch unter den Wortführern verdankt, daß er nämlich ein Inbegriff von Rechten, nicht von Pflichten, daß er eine Beseitigung, nicht eine Verschärfung des kantischen Imperativs, ein Nachlassen, nicht ein Höherspannen der Richtungsenergie sei. Jene triviale Oberflächentendenz auf Wohlfahrt, »Freiheit«, Humanität, das Glück der Meisten enthält nur das Negative der faustischen Ethik, sehr im Gegensatz zum antiken Epikuräismus, dem der glückselige Zustand wirklich Kern und Summe alles Ethischen war. Gerade hier liegen äußerlich sehr verwandte Stimmungen vor, die im einen Falle nichts, im andern alles bedeuten. Man kann aus diesem Gesichtspunkt den Inhalt der antiken Ethik ebenfalls als Philanthropie bezeichnen, die der einzelne sich selbst, seinem soma, angedeihen läßt. Hier hat man die Autorität des Aristoteles auf seiner Seite, der genau in diesem Sinne das Wort φιλάνθρωπος gebraucht, an dem sich die besten Köpfe der klassizistischen Zeit, Lessing vor allem, abgemüht haben. Aristoteles bezeichnet die Wirkung der attischen Tragödie auf den attischen Zuschauer als philantropisch. Ihre Peripetie erlöst ihn vom Mitleid mit sich selbst. Eine Art Theorie von Herren- und Sklavenmoral gab es auch im frühen Hellenismus, bei Kallikles z. B., wie sich versteht in streng leiblich-euklidischem Sinne. Das Ideal der ersten ist Alkibiades, der genau das tat, was ihm augenblicklich für seine Person zweckmäßig erschien. Man hat ihn als Typus antiker Kalokagathie empfunden und bewundert. Protagoras ist noch deutlicher in seinem berühmten, ganz ethisch gemeinten Satze, daß der Mensch – jeder einzelne für sich – das Maß der Dinge sei. Das ist die Herrenmoral einer statuenhaften Seele.


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