Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Erst Diophant hat, wie man immer hört, die antike Arithmetik aus ihrer sinnlichen Gebundenheit befreit, sie erweitert und fortgeführt und die Algebra als die Lehre von den unbestimmten Größen zwar nicht geschaffen, aber innerhalb der uns bekannten antiken Mathematik ganz plötzlich, zweifellos als Verarbeitung schon vorliegender Gedanken, zur Darstellung gebracht. Das ist allerdings nicht eine Bereicherung, sondern eine vollkommene Überwindung des antiken Weltgefühls, und allein dies hätte beweisen sollen, daß Diophant der antiken Kultur innerlich nicht mehr angehörte. Ein neues Zahlengefühl oder sagen wir Grenzgefühl dem Wirklichen, Gewordnen gegenüber ist in ihm tätig, nicht mehr jenes hellenische, aus dessen sinnlich-gegenwärtigen Grenzwerten sich neben der euklidischen Geometrie der greifbaren Körper auch die Plastik der nackten Statue und das Geld als Münze entwickelt hatten. Einzelheiten der Ausbildung dieser neuen Mathematik kennen wir nicht. Diophant steht so völlig einsam in der »spätantiken« Mathematik da, daß man an einen Einfluß von Indien her gedacht hat. Aber es wird wieder die Einwirkung jener früharabischen Hochschulen gewesen sein, deren Studien, abgesehen von den dogmatischen, noch so wenig erforscht sind. Bei ihm taucht unter der Absicht euklidischer Gedankengänge jenes neue Grenzgefühl auf – ich nenne es das magische –, das sich seiner Gegensätzlichkeit zu der angestrebten antiken Fassung gar nicht bewußt ist. Die Idee der Zahl als Größe wird nicht erweitert, sondern unvermerkt aufgelöst. Was eine unbestimmte Zahl a und was eine unbenannte Zahl 3 ist – beides weder Größe, noch Maß, noch Strecke – hätte ein Grieche gar nicht angeben können. Das neue, in diesen Zahlenarten versinnlichte Grenzgefühl liegt den diophantischen Betrachtungen wenigstens zugrunde; die uns geläufige Buchstabenrechnung selbst, in deren Gewande sich die inzwischen nochmals ganz umgedeutete Algebra heute darstellt, ist erst in fühlbarer, aber unbewußter Opposition gegen die antikisierende Renaissancerechnung 1591 durch Vieta eingeführt worden.

Diophant lebte um 250 n. Chr., also im dritten Jahrhundert der arabischen Kultur, deren geschichtlicher Organismus bisher unter den Oberflächenformen der römischen Kaiserzeit und des »Mittelalters« verschüttet lagVgl. Bd. II, Kap. III. und der alles angehört, was seit Beginn unserer Zeitrechnung in der Landschaft des kommenden Islam entstanden ist. Gerade damals erblich vor dem neuen Raumgefühl der Kuppelbauten, Mosaiken und Sarkophagreliefs altchristlich-syrischen Stils der letzte Schatten der attischen Statuenplastik. Damals gab es wieder eine archaische Kunst und ein streng geometrisches Ornament. Damals gerade vollendete Diokletian den Kalifat des nur noch scheinbar römischen Reiches. 500 Jahre liegen zwischen Euklid und Diophant, zwischen Plato und Plotin, zwischen dem letzten abschließenden Denker – dem Kant – einer vollendeten und dem ersten Scholastiker – dem Duns Scotus – einer eben erwachten Kultur.

Hier berühren wir zum ersten Male das bisher unbekannte Dasein jener großen Individuen, deren Werden, Wachsen und Welken unter einer tausendfarbigen, verwirrenden Oberfläche die eigentliche Substanz der Weltgeschichte bildet. Das in römischer Intelligenz sich vollendende antike Seelentum, dessen »Leib« die antike Kultur mit ihren Werken, Gedanken, Taten und Trümmern ist, war um 1100 v. Chr. aus der Landschaft des ägäischen Meeres geboren worden. Die seit Augustus im Osten unter der Decke antiker Zivilisation keimende arabische Kultur entstammt durchaus dem Schöße der Landschaft zwischen Armenien und Südarabien, Alexandria und Ktesiphon. Als Ausdruck dieser neuen Seele hat man fast die gesamte »spätantike« Kunst der Kaiserzeit, die sämtlichen, von einer jungen Glut erfüllten Kulte des Ostens, die mandäische und manichäische Religion, das Christentum und den Neuplatonismus, die kaiserlichen Fora in Rom und das dort erbaute Pantheon, die früheste aller Moscheen, zu betrachten.

Daß man in Alexandria und Antiochia noch griechisch schrieb und griechisch zu denken glaubte, wiegt nicht schwerer als die Tatsache, daß die Wissenschaft des Abendlandes bis zu Kant hinauf die lateinische Sprache vorzog und daß Karl der Große das römische Reich »erneuerte«.

Bei Diophant ist die Zahl nicht mehr das Maß und Wesen von plastischen Dingen. Auf den ravennatischen Mosaiken ist der Mensch nicht mehr Körper. Unvermerkt haben die griechischen Bezeichnungen ihren ursprünglichen Gehalt verloren. Wir verlassen den Bereich der attischen καλoκάγαθία, der stoischen άταραξία und γαλήνη. Zwar kennt Diophant die Null und die negativen Zahlen noch nicht, aber die plastischen Einheiten pythagoräischer Zahlen kennt er nicht mehr. Andrerseits ist die Unbestimmtheit der unbenannten arabischen Zahlen doch auch etwas ganz andres als die gesetzmäßige Variabilität der späteren abendländischen Zahl, der Funktion.

Die magische Mathematik hat sich, ohne daß uns Einzelheiten bekannt wären, über Diophant hinaus – der schon eine gewisse Entwicklung voraussetzt – logisch und in großer Linie bis zur Vollendung in der Abbassidenzeit des 9. Jahrhunderts entwickelt, wie der Stand der Kenntnisse bei Alchwarizmi und Alsidschzi beweist. Was neben der euklidischen Geometrie die attische Plastik – die gleiche Formensprache in andrem Gewande –, was neben der Analysis des Raumes der polyphone Stil der Instrumentalmusik, das bedeutet neben dieser Algebra die magische Kunst der Mosaiken, der vom Sassanidenreich und später von Byzanz aus immer reicher entwickelten Arabesken mit ihrem sinnlich-unsinnlichen Verschweben organischer Formmotive und der Hochreliefs konstantinischen Stils mit dem ungewissen Tiefendunkel des zwischen frei herausgearbeiteten Figuren ausgesparten Hintergrundes. Wie die Algebra zur antiken Arithmetik und zur abendländischen Analysis, so verhält sich die Kuppelkirche zum dorischen Tempel und zum gotischen Dom.

Nicht als ob Diophant ein großer Mathematiker gewesen wäre. Das meiste, woran man bei seinem Namen erinnert wird, steht nicht in seinen Schriften, und was darin steht, ist sicherlich nicht ganz sein Eigentum. Seine zufällige Bedeutung liegt darin, daß – nach dem Stande unseres Wissens – bei ihm als dem ersten das neue Zahlengefühl unverkennbar vorhanden ist. Man wird Meistern gegenüber, die eine Mathematik abschließen, wie Apollonios und Archimedes die antike, und ihnen entsprechend Gauß, Cauchy, Riemann die abendländische, bei Diophant, vor allem in seiner Formelsprache, etwas Primitives finden, das bisher gern als spätantiker Verfall angesprochen wurde. Man wird es künftig – nach dem Vorbild jener Umwertung der bisher geradezu verachteten vermeintlich spätantiken Kunst zur tastenden Äußerung des eben erwachenden früharabischen Weltgefühls – begreifen und schätzen lernen. Ebenso archaisch, primitiv und suchend wirkt die Mathematik des Nicolas von Oresme, Bischofs von Lisieux (1323-1382), der zum erstenmal im Abendland eine freie Art von Koordinaten und sogar Potenzen mit gebrochenen Exponenten verwandte, die ein Zahlengefühl voraussetzen, unklar noch, aber doch unverkennbar, das gänzlich unantik, aber auch nicht arabisch ist. Man erinnere sich neben Diophant an frühchristliche Sarkophage der römischen Sammlungen und neben Oresme an gotische Gewandstatuen deutscher Dome, und man wird auch in den mathematischen Gedankengängen, die bei beiden die gleiche frühe Stufe des abstrakten Verstehens darstellen, etwas Verwandtes bemerken. Das stereometrische Grenzgefühl in der letzten Verfeinerung und Eleganz eines Archimedes, das eine weltstädtische Intelligenz voraussetzt, war längst verschwunden. Man war überall in der früharabischen Welt dumpf, sehnsüchtig, mystisch, nicht mehr attisch hell und frei gestimmt. Man war der erdgeborne Mensch einer frühen Landschaft, nicht Großstädter, wie Euklid und d'Alembert.Alexandria hört im 2. Jahrhundert n. Chr. auf, Weltstadt zu sein, und wird eine aus der Zeit antiker Zivilisation stehengebliebene Häusermasse, in der eine primitiv fühlende, seelisch anders geartete Bevölkerung haust. Vgl. Bd. II, S. 678. Man verstand die tiefen und komplizierten Gebilde des antiken Denkens nicht mehr und besaß verworrene, neue, deren klare städtisch-geistige Fassung noch lange nicht gefunden werden konnte. Dies ist der gotische Zustand aller jungen Kulturen, den die Antike selbst in ihrer frühdorischen Zeit durchschritten hatte, von welcher außer der Keramik des Dipylonstils nichts geblieben ist. Erst in Bagdad, im 9. und 10. Jahrhundert, sind die Konzeptionen der Frühzeit Diophants von reifen Meistern, die Plato und Gauß nicht nachstehen, durchgeführt und abgeschlossen worden.


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