Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Die Zeit ist ein Gegenbegriff zum Raume, so wie erst im Gegensatz zum Denken nicht die Tatsache, aber der Begriff des Lebens, und erst im Gegensatz zum Tode nicht die Tatsache, aber der Begriff des Entstehens, der Zeugung entstanden ist.Vgl. Bd. II, S. 568, 574. Das liegt tief im Wesen allen Wachseins begründet. So wie jeder Sinneseindruck erst bemerkt wird, wenn er sich von einem andern abhebt, so ist jede Art von Verstehen als eigentlich kritische TätigkeitVgl. Bd. II, S. 570f. nur dadurch möglich, daß ein neuer Begriff sich als Gegenpol eines vorhandenen bildet oder ein Begriffspaar von innerem Gegensatz gewissermaßen durch Auseinandertreten erst Wirklichkeit erhält. Es ist zweifellos und schon längst vermutet worden, daß alle Urworte, mögen sie Dinge oder Eigenschaften bezeichnen, paarweise entstanden sind. Aber ebenso empfängt später und heute noch jedes neue Wort seinen Gehalt als Widerschein eines andern. Das sprachgeleitete Verstehen, unfähig, die innere Gewißheit des Schicksals seiner Formenwelt einzugliedern, hat vom Raume aus »die Zeit« als dessen Gegenüber geschaffen. Andernfalls würden wir weder das Wort noch dessen Inhalt besitzen. Und diese Bildungsweise geht so weit, daß aus dem antiken Stil der Ausdehnung ein spezifisch antiker Zeitbegriff entsprang, der sich vom indischen, chinesischen, abendländischen genau so unterscheidet, wie es mit dem Raume der Fall ist.

Die Frage nach dem Geltungsbereich kausaler Zusammenhänge innerhalb eines Naturbildes oder, was nunmehr dasselbe ist, nach den Schicksalen dieses Naturbildes, wird aber noch viel schwieriger, wenn wir zu der Einsicht gelangen, daß es für den ursprünglichen Menschen und das Kind eine vollkommen kausal geordnete Umwelt noch gar nicht gibt, und daß wir, späte Menschen, deren Denken doch unter dem Druck eines übermächtigen, an der Sprache geschärften Denkens steht, selbst in den Augenblicken gespanntester Aufmerksamkeit – den einzigen, in welchen wir wirklich streng physikalisch »im Bilde« sind – bestenfalls behaupten können, daß diese kausale Ordnung auch abgesehen von diesen Augenblicken in der uns umgebenden Wirklichkeit enthalten sei. Wir nehmen wachend dieses Wirkliche, »der Gottheit lebendiges Kleid«, physiognomisch hin, unwillkürlich und auf Grund einer tiefen, in die Quellen des Lebens hinabreichenden Erfahrung. Die systematischen Züge sind Ausdruck eines aus dem gegenwärtigen Empfinden abgehobenen Verstehens, und mit ihnen unterwerfen wir das Vorstellungsbild aller fernen Zeiten und Menschen dem Augenblicksbilde der durch uns selbst geordneten Natur. Die Art dieser Ordnung aber, die eine Geschichte hat, in die wir nicht im geringsten eingreifen können, ist nicht die Wirkung einer Ursache, sondern ein Schicksal.

Aus diesem Grunde ist der Begriff einer Kunstform – ebenfalls ein »Gegenbegriff« – erst entstanden, als man sich eines »Gehalts« der Kunstschöpfungen bewußt wurde, das heißt, als die Ausdruckssprache der Kunst aufgehört hatte, samt ihren Wirkungen als etwas ganz Natürliches und Selbstverständliches da zu sein, wie es zur Zeit der Pyramidenbauer, der mykenischen Burgen und der frühgotischen Dome ohne Zweifel noch der Fall war. Man wird plötzlich auf das Entstehen der Werke aufmerksam. Erst jetzt trennen sich für das verstehende Auge eine kausale und eine Schicksalsseite aller lebenden Kunst.

In jedem Werke, das den ganzen Menschen, den ganzen Sinn des Daseins offenbart, liegen Angst und Sehnsucht dicht beieinander, aber sie bleiben zweierlei. Zur Angst, zum Kausalen gehört die ganze »Tabuseite« der Kunst: ihr Schatz an Motiven, wie er in strengen Schulen und langer Handwerkszucht herausgebildet, sorgfältig gehütet und treu überliefert wird, alles Begreifliche, Lernbare, Zahlenmäßige, alle Logik in Farbe, Linie, Ton, Bau, Ordnung, die »Muttersprache« also jedes tüchtigen Meisters und jeder großen Epoche. Das andre, als das Gerichtete dem Ausgedehnten, als die Entwicklung und die Schicksale einer Kunst den Gründen und Folgen innerhalb ihrer Formensprache entgegengesetzt, tritt als »Genie«, nämlich in der ganz persönlichen Gestaltungskraft, der schöpferischen Leidenschaft, Tiefe und Fülle einzelner Künstler in Erscheinung im Unterschied von aller bloßen Beherrschung der Form, und noch darüber hinaus im Überschwang der Rasse, welcher den Aufstieg oder Verfall ganzer Künste bedingt; diese »Totemseite« hat bewirkt, daß es aller Ästhetik zum Trotz keine zeitlose und allein wahre Kunstweise gibt, sondern eine Kunst geschichte, an welcher wie an allem Lebendigen das Merkmal der Nichtumkehrbarkeit haftet.Vgl. Bd. II, S. 693, 716.

Die Architektur großen Stils, die allein von allen Künsten das Fremde und Angsteinflößende selbst, das unmittelbar Ausgedehnte, den Stein behandelt, ist deshalb die selbstverständliche Frühkunst aller Kulturen, die mathematischste von allen, die erst Schritt für Schritt den städtischen Sonderkünsten der Statue, des Gemäldes, der musikalischen Komposition mit ihren weltlicheren Formmitteln den Vorrang abtritt. Michelangelo, der von allen großen Künstlern des Abendlandes unter dem beständigen Alpdruck der Weltangst wohl am schwersten gelitten hat, ist darum allein von allen Meistern der Renaissance vom Architektonischen niemals freigeworden. Er malte sogar, als ob die Farbflächen Stein, Gewordnes, Starres, Gehaßtes wären. Seine Arbeitsweise war der erbitterte Kampf gegen die feindseligen Mächte des Kosmos, die in Gestalt des Materials ihm entgegentraten, während Lionardos, des Sehnsüchtigen, Farben wie eine freiwillige Verstofflichung des Seelischen wirken. In jedem Problem der großen Baukunst kommt aber eine unerbittliche kausale Logik zum Ausdruck, Mathematik sogar, sei es in den antiken Säulenordnungen das euklidische Verhältnis von Träger und Last, sei es im »analytisch« angelegten Strebesystem gotischer Wölbungen das dynamische von Kraft und Masse. Die Bauhüttentradition, die es hier wie dort gegeben hat und ohne die auch die ägyptische Architektur nicht zu denken ist – sie entwickelt sich in jeder Frühzeit und geht im Lauf der Spätzeit regelmäßig verloren –, enthält die volle Summe dieser Logik des Ausgedehnten. Die Symbolik der Richtung, des Schicksals aber steht jenseits aller »Technik« der großen Künste und ist der formalen Ästhetik kaum zugänglich. Sie liegt zum Beispiel in dem stets gefühlten, aber nie, weder von Lessing noch von Hebbel klar gedeuteten Widerspruch antiker und abendländischer Tragik, in der Szenen folge altägyptischer Reliefs, überhaupt der reihenweisen Ordnung ägyptischer Statuen, Sphinxe, Tempelsäle; nicht in der Behandlung, sondern der Wahl des Materials vom härtesten Diorit bis zum weichsten Holz, durch welche die Zukunft bejaht oder verneint wird; nicht in der Formensprache, sondern im Hervortreten und Hinschwinden der einzelnen Künste, dem Sieg der Arabeske über die Bildkunst der frühchristlichen Zeit, dem Zurückweichen der Ölmalerei des Barock vor der Kammermusik, in der ganz verschiedenen Absicht der ägyptischen, chinesischen und antiken Statuenkunst. Alles das gehört nicht zum Können, sondern zum Müssen, und deshalb geben nicht Mathematik und abstraktes Denken, sondern die großen Künste als die Geschwister der gleichzeitigen Religion den Schlüssel zum Problem der Zeit, das sich auf dem Boden der Geschichte allein kaum erschließen läßt.


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