Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Darf man irgendeine Gruppe von Tatsachen sozialer, religiöser, physiologischer, ethischer Natur als »Ursache« einer andern setzen? Die rationalistische Geschichtsschreibung und mehr noch die heutige Soziologie kennen im Grunde nichts andres. Das heißt für sie, Geschichte begreifen, ihre Erkenntnis vertiefen. In der Tiefe aber liegt für den zivilisierten Menschen immer der vernunftgemäße Zweck. Ohne ihn wäre seine Welt sinnlos. Allerdings ist die gar nicht physikalische Freiheit in der Wahl der grundlegenden Ursachen nicht ohne Komik. Der eine wählt diese, der andre jene Gruppe als prima causa – eine unerschöpfliche Quelle wechselseitiger Polemik – und alle füllen ihre Werke mit vermeintlichen Erklärungen des Ganges der Geschichte im Stil naturhafter Zusammenhänge. Schiller hat dieser Methode durch eine seiner unsterblichen Banalitäten, den Vers vom Weltgetriebe, das sich »durch Hunger und durch Liebe« erhält, den klassischen Ausdruck gegeben. Das 19. Jahrhundert, vom Rationalismus zum Materialismus fortschreitend, hat seine Meinung zu kanonischer Geltung erhoben. Damit war der Kult des Nützlichen an die Spitze gestellt. Ihm hat Darwin im Namen des Jahrhunderts Goethes Naturlehre zum Opfer gebracht. Die organische Logik der Tatsachen des Lebens wurde durch eine mechanische – in physiologischer Einkleidung – ersetzt. Vererbung, Anpassung, Zuchtwahl sind Zweckmäßigkeitsursachen von rein mechanischem Gehalt. An Stelle geschichtlicher Fügungen tritt die naturhafte Bewegung »im Raume«. Aber gibt es historische, seelische, gibt es überhaupt lebendige » Prozesse«? Haben historische »Bewegungen«, die Zeit der Aufklärung oder die Renaissance etwa, irgend etwas mit dem Naturbegriff der Bewegung zu tun? Mit dem Worte Prozeß war das Schicksal abgetan. Das Geheimnis des Werdens war enthüllt. Es gab keine tragische, es gab nur noch eine mathematische Struktur des Weltgeschehens. Der »exakte« Historiker setzt nunmehr voraus, daß im Geschichtsbild eine Folge von Zuständen von mechanischem Typus vorliegt, daß sie verstandesmäßiger Zergliederung wie ein physikalisches Experiment oder eine chemische Reaktion zugänglich ist, und daß mithin die Gründe, Mittel, Wege, Ziele ein greifbar an der Oberfläche des Sichtbaren liegendes festes Gewebe bilden müssen. Das Bild ist überraschend vereinfacht. Und man muß zugeben, daß bei hinreichender Flachheit des Betrachters die Voraussetzung – für seine Person und für deren Weltbild – zutrifft.

Hunger und LiebeWas dem zugrunde liegt, die metaphysischen Wurzeln von Wirtschaft und Politik, ist in Bd. II, S. 961 ff., 1147f. angedeutet. – das sind nunmehr mechanische Ursachen mechanischer Prozesse im »Völkerleben«. Sozialprobleme und Sexualprobleme – beide einer Physik oder Chemie des öffentlichen, allzuöffentlichen Daseins angehörend – werden das selbstverständliche Thema utilitarischer Geschichtsbetrachtung und also auch der ihr entsprechenden Tragödie. Denn das soziale Drama steht mit Notwendigkeit neben der materialistischen Geschichtsbetrachtung. Und was in den »Wahlverwandtschaften« Schicksal im höchsten Sinne war, ist in der »Frau vom Meere« nichts als ein Sexualproblem. Ibsen und alle Verstandespoeten unsrer großen Städte dichten nicht. Sie konstruieren, und zwar einen kausalen Zusammenhang von einer ersten Ursache bis zu einer letzten Wirkung. Hebbels schwere künstlerische Kämpfe galten immer nur dem Versuch, dieses schlechthin Prosaische seiner mehr kritischen als intuitiven Anlage zu überwinden – trotz ihrer ein Dichter zu sein –, daher sein unmäßiger, ganz ungoethescher Hang zum Motivieren der Begebenheiten. Motivieren bedeutet hier, bei Hebbel wie bei Ibsen, das Tragische kausal gestalten wollen. Hebbel redet gelegentlich vom Schraubenzug in der Begründung eines Charakters; er hat die Anekdote so lange zerlegt und umgestaltet, bis sie ein System, ein Beweis für einen Fall geworden war: man verfolge seine Behandlung der Judithgeschichte. Shakespeare hätte sie genommen, wie sie war, und in dem physiognomischen Reiz einer echten Begebenheit das Weltgeheimnis geahnt. Aber was Goethe einmal aussprach: »Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre«, das war dem Jahrhundert von Marx und Darwin nicht mehr verständlich. Man war weit entfernt, in der Physiognomie des Vergangenen ein Schicksal abzulesen, so wenig man in der Tragödie ein reines Schicksal gestalten wollte. Der Kult des Nützlichen hat hier wie dort ein ganz andres Ziel festgelegt. Man gestaltete, um etwas zu beweisen. »Fragen« der Zeit werden »behandelt«, soziale Probleme zweckmäßig »gelöst«. Die Szene ist wie das Geschichtswerk ein Mittel dazu. Der Darwinismus hat, so unbewußt das geschehen sein mag, die Biologie politisch wirksam gemacht. Es ist irgendwie eine demokratische Rührigkeit in den hypothetischen Urschleim gekommen, und der Kampf der Regenwürmer um ihr Dasein erteilt den zweibeinigen Schlechtweggekommenen eine gute Lehre.

Und doch hätten die Historiker gerade von den Vertretern unsrer reifsten und strengsten Wissenschaft, der Physik, Vorsicht lernen sollen. Die kausale Methode zugegeben, so ist es die Flachheit ihrer Anwendung, die beleidigt. Hier fehlt es an geistiger Disziplin, an Tiefe des Blicks, von der Skepsis, welche der Art des Gebrauchs physikalischer Hypothesen innewohnt, ganz zu schweigen.Die Hypothesenbildung erfolgt schon in der Chemie viel unbedenklicher, und zwar infolge ihrer geringeren Verwandtschaft zur Mathematik. Ein Kartenhaus von Vorstellungen, wie es die augenblicklichen Forschungen über Atomstruktur zeigen (vgl. z. B. M. Born, Der Aufbau der Materie, 1920), wäre in der Nähe der elektromagnetischen Lichttheorie unmöglich, deren Urheber sich über die Grenze zwischen mathematischer Einsicht und deren Veranschaulichung durch ein Bild – nicht mehr! – beständig klar blieben. Denn der Physiker betrachtet seine Atome und Elektronen, Ströme und Kraftfelder, den Äther und die Masse weitab vom Köhlerglauben des Laien und Monisten als Bilder, die er den abstrakten Beziehungen seiner Differentialgleichungen unterlegt, in die er unanschauliche Zahlen kleidet, und zwar mit einer gewissen Freiheit der Wahl zwischen mehreren Theorien, ohne in ihnen eine andre Wirklichkeit als die konventioneller ZeichenZwischen diesen Bildern und den Bezeichnungen einer Schalttafel besteht dem Wesen nach kein Unterschied. zu suchen. Und er weiß, daß auf diesem, der Naturwissenschaft allein möglichen Wege außer Erfahrungen über die technische Struktur der Umwelt nur deren symbolische Deutung – nicht mehr – erreicht werden kann, sicherlich keine »Erkenntnis« im hoffnungsvoll populären Sinne. Das Bild der Natur – Schöpfung und Abbild des Geistes, sein alter ego im Bereich des Ausgedehnten – erkennen, bedeutet sich selbst erkennen.

Wie die Physik unsre reifste, so ist die Biologie, welche das Bild des organischen Lebens durchforscht, nach Gehalt und Methode unsre schwächste Wissenschaft. Was wirklich Geschichtsforschung sei, reine Physiognomik nämlich, ist durch nichts deutlicher zu machen als durch den Verlauf von Goethes Naturstudien. Er treibt Mineralogie: sogleich fügen sich ihm die Einsichten zum Bilde einer Erdgeschichte zusammen, in dem sein geliebter Granit beinahe das bedeutet, was ich innerhalb der Menschengeschichte das Urmenschliche nenne. Er untersucht bekannte Pflanzen, und das Urphänomen der Metamorphose erschließt sich ihm, die Urgestalt der Geschichte alles Pflanzendaseins, und er gelangt weiterhin zu jenen seltsam tiefen Einsichten über die Vertikal- und Spiraltendenz der Vegetation, die noch heute nicht recht begriffen worden sind. Seine Knochenstudien, durchaus auf Anschauen des Lebendigen gerichtet, führen ihn zur Entdeckung des os intermaxillare beim Menschen und der Einsicht, daß das Schädelgerüst der Wirbeltiere sich aus sechs Wirbelknochen entwickelt hat. Nirgends ist von Kausalität die Rede. Er empfand die Notwendigkeit des Schicksals so, wie er sie in seinen orphischen Urworten ausgedrückt hat:

So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen.
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.

Die bloße Chemie der Gestirne, die mathematische Seite physikalischer Beobachtungen, die eigentliche Physiologie kümmern ihn, den großen Historiker der Natur, sehr wenig, weil sie Systematik, Erfahrung von Gewordnem, Totem, Starrem sind, und dies liegt seiner Polemik gegen Newton zugrunde – ein Fall, in dem beide recht haben: der eine erkannte in der toten Farbe den gesetzlichen Naturprozeß, der andre, der Künstler, hatte das intuitiv-sinnliche Erlebnis; hier liegt der Gegensatz beider Welten zutage und ich fasse ihn jetzt in seiner ganzen Schärfe zusammen.

Die Geschichte trägt das Merkmal des Einmalig-tatsächlichen, die Natur das des Ständig-möglichen. Solange ich das Bild der Umwelt daraufhin beobachte, nach welchen Gesetzen es sich verwirklichen muß, ohne Rücksicht darauf, ob es geschieht oder nur geschehen könnte, zeitlos also, bin ich Naturforscher, treibe ich eine echte Wissenschaft. Es macht für die Notwendigkeit eines Naturgesetzes – und andere Gesetze gibt es nicht – nicht das geringste aus, ob es unendlich oft oder nie in Erscheinung tritt, d. h. es ist vom Schicksal unabhängig. Tausende von chemischen Verbindungen kommen nie vor und werden nie hergestellt werden, aber sie sind als möglich bewiesen und also sind sie da – für das feste System der Natur, nicht für die Physiognomie des kreisenden Weltalls. Ein System besteht aus Wahrheiten, eine Geschichte beruht auf Tatsachen. Tatsachen folgen aufeinander, Wahrheiten auseinander: das ist der Unterschied zwischen dem Wann und dem Wie. Es hat geblitzt – das ist eine Tatsache, auf die schweigend mit dem Finger gedeutet werden kann. Wenn es blitzt, so donnert es – das verlangt zur Mitteilung einen Satz. Das Erleben kann wortlos sein; systematisches Erkennen gibt es nur durch Worte. »Definierbar ist nur, was keine Geschichte hat«, sagt Nietzsche einmal. Geschichte aber ist gegenwärtiges Geschehen mit dem Zug in die Zukunft und einem Blick auf die Vergangenheit. Die Natur steht jenseits aller Zeit, mit dem Merkmal der Ausdehnung, aber ohne Richtung. In dieser liegt die Notwendigkeit des Mathematischen, in jener die des Tragischen.

In der Wirklichkeit des wachen Daseins verweben sich beide Welten, die der Beobachtung und die der Hingebung, wie in einem Brabanter Wandteppich Kette und Einschlag das Bild »wirken«. Jedes Gesetz muß, um für das Verstehen überhaupt vorhanden zu sein, einmal durch eine Schicksalsfügung innerhalb der Geistesgeschichte entdeckt, d. h. erlebt worden sein; jedes Schicksal erscheint in einer sinnlichen Verkleidung – Personen, Taten, Szenen, Gebärden –, in welcher Naturgesetze am Werke sind. Das urmenschliche Leben war der dämonischen Einheit des Schicksalhaften hingegeben; im Bewußtsein reifer Kulturmenschen kommt der Widerspruch jenes frühen und dieses späten Weltbildes niemals zum Schweigen; im zivilisierten Menschen erliegt das tragische Weltgefühl dem mechanisierenden Intellekt. Geschichte und Natur stehen in uns einander gegenüber wie Leben und Tod, wie die ewig werdende Zeit und der ewig gewordene Raum. Im Wachsein ringen Werden und Gewordnes um den Vorrang im Weltbilde. Die höchste und reifste Form beider Arten der Betrachtung, wie sie nur großen Kulturen möglich ist, erscheint für die antike Seele im Gegensatz von Plato und Aristoteles, für die abendländische in dem von Goethe und Kant: die reine Physiognomie der Welt, erschaut von der Seele eines ewigen Kindes, und die reine Systematik, erkannt vom Verstand eines ewigen Greises.


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