Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Die antike Mathematik als Lehre von anschaulichen Größen will ausschließlich die Tatsachen des Greifbar-Gegenwärtigen deuten, und sie beschränkt also ihre Forschung wie ihren Geltungsbereich auf Beispiele der Nähe und des Kleinen. Dieser Folgerichtigkeit gegenüber ergibt sich etwas Unlogisches im praktischen Verhalten der abendländischen Mathematik, was eigentlich erst seit Entdeckung der nichteuklidischen Geometrien recht erkannt worden ist. Zahlen sind Gebilde des vom Sinnesempfinden abgelösten Verstehens, des reinen Denkens.Vgl. Bd. II, S. 565 f. Sie tragen ihre abstrakte Gültigkeit in sich selbst. Ihre genaue Anwendbarkeit auf das Wirkliche des verstehenden Empfindens ist dagegen ein Problem für sich, und zwar eines, das immer wieder gestellt und nie befriedigend gelöst worden ist. Die Kongruenz mathematischer Systeme mit den Tatsachen der täglichen Erfahrung ist zunächst nichts weniger als selbstverständlich. Trotz des Laienvorurteils von der unmittelbaren mathematischen Evidenz der Anschauung, wie es sich bei Schopenhauer findet, stimmt die euklidische Geometrie, welche mit der populären Geometrie aller Zeiten eine oberflächliche Identität besitzt, nur in sehr engen Grenzen (»auf dem Papier«) mit der Anschauung annähernd überein. Wie es bei großen Entfernungen steht, lehrt die einfache Tatsache, daß für unser Auge Parallelen sich am Horizont berühren. Die gesamte malerische Perspektive beruht auf ihr. Trotzdem berief sich Kant, der für einen abendländischen Denker in unverzeihlicher Weise vor der »Mathematik der Ferne« auswich, auf Beispiele von Figuren, an denen gerade ihrer Kleinheit wegen das spezifisch abendländische, das infinitesimale Raumproblem gar nicht in Erscheinung treten konnte. Euklid hatte es zwar ebenfalls vermieden, sich für die anschauliche Gewißheit seiner Axiome etwa auf ein Dreieck zu berufen, dessen Punkte durch den Standort des Beobachters und zwei Fixsterne gebildet werden, das also weder gezeichnet noch »angeschaut« werden konnte, aber für einen antiken Denker mit Recht. Es war hier dasselbe Gefühl wirksam, das vor dem Irrationalen zurückschreckte und das Nichts nicht als Null, als Zahl, zu begreifen wagte, das also auch im Anschauen kosmischer Verhältnisse dem Unermeßlichen aus dem Wege ging, um das Symbol des Maßes zu bewahren.

Aristarch von Samos, der 288-277 zu Alexandria in einem Kreise von Astronomen weilte, die ohne Zweifel mit chaldäisch-persischen Schulen in Verbindung standen, und dort jenes heliozentrischeIn der einzigen von ihm erhaltenen Schrift vertritt er übrigens die geozentrische Ansicht, so daß man vermuten könnte, er habe sich nur zeitweise von einer chaldäischen Gelehrtenhypothese fesseln lassen. Weltsystem entwarf, welches bei seiner Wiederentdeckung durch Kopernikus die metaphysische Leidenschaft des Abendlandes im tiefsten erregte – man denke an Giordano Bruno –, das eine Erfüllung gewaltiger Ahnungen und eine Bestätigung jenes faustischen, gotischen Weltgefühls war, das schon in der Architektur seiner Kathedralen der Idee des unendlichen Raumes ein Opfer dargebracht hatte, wurde mit seinem Gedanken von der Antike völlig gleichgültig aufgenommen und bald – man möchte sagen absichtlich – wieder vergessen. Seine Anhängerschaft bestand aus einigen Gelehrten, die fast ausnahmslos aus Vorderasien stammten. Sein bekanntester Verteidiger Seleukos (um 150) war aus dem persischen Seleucia am Tigris. In der Tat ist das aristarchische Weltsystem für diese Kultur seelisch belanglos. Es wäre ihrem Weltgefühl sogar gefährlich geworden. Und doch war es im Unterschiede von dem des Kopernikus – diese entscheidende Tatsache ist immer unbeachtet geblieben – durch eine besondere Fassung dem antiken Weltgefühl genau angepaßt. Aristarch nahm als Abschluß des Kosmos eine körperlich durchaus begrenzte, optisch zu beherrschende Hohlkugel an, in deren Mitte das kopernikanisch gedachte Planetensystem sich befand. Die antike Astronomie hat Erde und Himmelskörper stets für zweierlei gehalten, wie man auch die Bewegungen im einzelnen auffassen mochte. Der schon von Nicolaus Cusanus und Lionardo vorbereitete Gedanke, daß die Erde nur ein Stern unter Sternen sei,F. Strunz, Gesch. d. Naturwiss. im Mittelalter (1910), S. 90. verträgt sich mit dem ptolemäischen System so gut wie mit dem kopernikanischen. Aber mit der Annahme einer Himmelskugel war das Prinzip des Unendlichen, das den sinnlich-antiken Grenzbegriff gefährdet hätte, umgangen. Kein Gedanke an einen grenzenlosen Weltraum taucht auf, der hier schon unvermeidlich erscheint und dessen Vorstellung dem babylonischen Denken längst gelungen war. Im Gegenteil. Archimedes beweist in seiner berühmten Schrift von der »Sandzahl« – wie schon das Wort verrät, der Widerlegung aller infinitesimalen Tendenzen, obwohl sie immer wieder als erster Schritt auf dem Wege zur modernen Integrationsmethode betrachtet wird –, daß dieser stereometrische Körper, denn etwas anderes ist der aristarchische Kosmos nicht, mit Atomen (Sand) erfüllt, zu sehr großen, aber nicht zu unendlichen Resultaten führe. Das heißt aber gerade alles, was uns die Analysis bedeutet, verneinen. Das Weltall unsrer Physik ist, wie die immer wieder scheiternden und sich dem Geiste von neuem aufdrängenden Hypothesen über den stofflich, d. h. mittelbar anschaulich gedachten Weltäther beweisen, die strengste Verleugnung aller materiellen Begrenztheit. Eudoxos, Apollonios und Archimedes, sicherlich die feinsten und kühnsten Mathematiker der Antike, haben eine rein optische Analysis des Gewordnen auf der Grundlage des plastisch-antiken Grenzwertes unter hauptsächlicher Verwendung von Zirkel und Lineal vollkommen durchgeführt. Sie gebrauchen tiefdurchdachte und uns schwer zugängliche Methoden einer Integralrechnung, die selbst mit der Methode des bestimmten Integrals von Leibniz nur scheinbare Ähnlichkeit besitzt, und sie wenden geometrische Örter und Koordinaten an, die durchaus benannte Maßzahlen und Strecken sind und nicht wie bei Fermat und vor allem Descartes unbenannte räumliche Beziehungen, Werte von Punkten in bezug auf ihre Lage im Raum. Hierher gehört vor allem die Exhaustionsmethode des ArchimedesDie Exhaustionsmethode des Archimedes ist von Eudoxos vorbereitet und zur Berechnung des Inhalts von Pyramide und Kegel benützt worden – »das Mittel der Griechen, den verpönten Begriff des Unendlichen zu umgehen« (Heiberg, Naturwiss. u. Math, im klass. Alt. (1912), S. 27). in seiner kürzlich entdeckten Schrift an Eratosthenes, wo er z. B. die Quadratur des Parabelsegments auf die Berechnung eingeschriebener Rechtecke (nicht mehr ähnlicher Polygone) begründet. Aber gerade die geistreiche, unendlich verwickelte Art, wie er in Anlehnung an gewisse geometrische Ideen Platos zum Resultat kommt, macht den ungeheuren Gegensatz zwischen dieser Intuition und der oberflächlich ähnlichen Pascals etwa fühlbar. Es gibt keinen schärferen Gegensatz hierzu – wenn man vom Riemannschen Integralbegriff ganz absieht – als die leider heute noch sogenannten Quadraturen, bei denen die »Fläche« als durch eine Funktion begrenzt bezeichnet wird und von einer zeichnerischen Handhabe keine Rede mehr ist. Nirgends kommen beide Mathematiken einander so nahe und nirgends läßt sich die unüberschreitbare Kluft zweier Seelen, deren Ausdruck sie sind, deutlicher fühlen.

Die reinen Zahlen, deren Wesen die Ägypter im kubischen Stil ihrer frühen Architektur mit einer tiefen Scheu vor dem Geheimnis gleichsam verbargen, waren auch für die Hellenen der Schlüssel zum Sinn des Gewordenen, Starren und also Vergänglichen. Das Steingebilde und das wissenschaftliche System verneinen das Leben. Die mathematische Zahl als formales Grundprinzip der ausgedehnten Welt, die nur aus dem menschlichen Wachsein und für dieses da ist, steht durch das Merkmal der kausalen Notwendigkeit zum Tode in Beziehung, wie die chronologische Zahl zum Werden, zum Leben, zur Notwendigkeit des Schicksals. Dieser Zusammenhang der strengmathematischen Form mit dem Ende des organischen Seins, mit der Erscheinung seines anorganischen Restes, des Leichnams, wird sich immer deutlicher als der Ursprung aller großen Kunst enthüllen. Wir bemerkten schon die Entwicklung der frühen Ornamentik an den Geräten und Behältern des Bestattungskultes. Zahlen sind Symbole des Vergänglichen. Starre Formen verneinen das Leben. Formeln und Gesetze breiten Starrheit über das Bild der Natur. Zahlen töten. Es sind die Mütter Fausts, die hehr in Einsamkeit thronen: »in der Gebilde losgebundnen Reichen ...

Gestaltung, Umgestaltung,
Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung,
Umschwebt von Bildern aller Kreatur.«

Hier berühren sich Goethe und Plato im Ahnen eines letzten Geheimnisses. Die Mütter, das Unzugängliche – Platos Ideen – bezeichnen die Möglichkeiten eines Seelentums, seine ungeborenen Formen, welche in der sichtbaren, aus der Idee dieses Seelentums heraus mit innerster Notwendigkeit geordneten Welt sich als tätige und geschaffene Kultur, als Kunst, Gedanke, Staat, Religion verwirklicht haben. Hierauf beruht die Verwandtschaft des Zahlendenkens einer Kultur mit deren Weltidee, eine Beziehung, die jenes über das bloße Wissen und Erkennen hinaus zur Bedeutung einer Weltanschauung erhebt und die bewirkt, daß es so viele Mathematiken – Zahlenwelten – wie hohe Kulturen gibt. So wird es begreiflich, ja notwendig, daß die größten mathematischen Denker, bildende Künstler im Reiche der Zahlen, aus tief religiöser Intuition zur Auffassung der entscheidenden mathematischen Probleme ihrer Kultur gelangt sind. So hat man sich die Schöpfung der antiken, apollinischen Zahl durch Pythagoras, den Stifter einer Religion, zu denken. Dies Urgefühl hat Nicolaus Cusanus geleitet, als er um 1450 von der Betrachtung der Unendlichkeit Gottes in der Natur ausgehend die Grundzüge der Infinitesimalrechnung fand. Leibniz, der ihre Methoden und Bezeichnungen zwei Jahrhunderte später endgültig feststellte, hat selbst aus rein metaphysischen Betrachtungen über das göttliche Prinzip und seine Beziehungen zum unendlichen Ausgedehnten den Gedanken einer analysis situs entwickelt, vielleicht der genialsten Interpretation des reinen, von allem Sinnlichen befreiten Raumes, deren reiche Möglichkeiten erst im 19. Jahrhundert durch Graßmann in seiner Ausdehnungslehre und vor allem durch Riemann, ihren eigentlichen Schöpfer, in seiner Symbolik der zweiseitigen Flächen, welche die Natur von Gleichungen repräsentieren, entfaltet worden sind. Und Kepler wie Newton, beide streng religiöse Naturen, blieben sich wie Plato durchaus bewußt, gerade durch das Medium der Zahlen das Wesen der göttlichen Weltordnung intuitiv erfaßt zu haben.


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