Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Es war bemerkt worden, daß in der Urmenschheit wie im Kinde ein inneres Erlebnis, die Geburt des Ich eintritt, mit welcher beide den Sinn der Zahl begreifen, mithin plötzlich eine auf das Ich bezogene Umwelt besitzen.

Sobald vor dem erstaunten Blick des frühen Menschen diese ertagende Welt des geordneten Ausgedehnten, des sinnvoll Gewordenen sich in großen Umrissen aus einem Chaos von Eindrücken abhebt und der tief empfundene unwiderrufliche Gegensatz dieser Außenwelt zur eignen Innenwelt dem wachen Leben Richtung und Gestalt gibt, erwacht zugleich das Urgefühl der Sehnsucht in dieser sich plötzlich ihrer Einsamkeit bewußten Seele. Es ist die Sehnsucht nach dem Ziel des Werdens, nach Vollendung und Verwirklichung alles innerlich Möglichen, nach Entfaltung der Idee des eigenen Daseins. Es ist die Sehnsucht des Kindes, die als das Gefühl einer unaufhaltsamen Richtung mit steigender Deutlichkeit ins Bewußtsein tritt und später als das Rätsel der Zeit unheimlich, verlockend, unlösbar vor dem gereiften Geiste steht. Die Worte Vergangenheit und Zukunft haben plötzlich eine schicksalsschwere Bedeutung erhalten.

Aber diese Sehnsucht aus der Überfülle und Seligkeit des innern Werdens ist in der tiefsten Tiefe einer jeden Seele zugleich Angst. Wie alles Werden sich auf ein Gewordensein richtet, mit dem es endet, so rührt das Urgefühl des Werdens, die Sehnsucht, schon an das andere des Gewordenseins, die Angst. In der Gegenwart fühlt man das Verrinnen; in der Vergangenheit liegt die Vergänglichkeit. Hier ist die Wurzel der ewigen Angst vor dem Unwiderruflichen, Erreichten, Endgültigen, vor der Vergänglichkeit, vor der Welt selbst als dem Verwirklichten, in dem mit der Grenze der Geburt zugleich die des Todes gesetzt ist, der Angst vor dem Augenblick, wo das Mögliche verwirklicht, das Leben innerlich erfüllt und vollendet ist, wo das Bewußtsein am Ziele steht. Es ist jene tiefe Weltangst der Kinderseele, welche den höheren Menschen, den Gläubigen, den Dichter, den Künstler in seiner grenzenlosen Vereinsamung niemals verläßt, die Angst vor den fremden Mächten, die groß und drohend, in sinnliche Erscheinungen verkleidet, in die ertagende Welt hineinragen. Auch die Richtung in allem Werden wird in ihrer Unerbittlichkeit – Nichtumkehrbarkeit – vom menschlichen Verstehenwollen wie etwas Fremdes und Feindliches mit Namen belegt, um das ewig Unverständliche zu bannen. Es ist etwas ganz Unfaßbares, das Zukunft in Vergangenheit verwandelt, und dies gibt der Zeit im Gegensatz zum Raume jenes widerspruchsvoll Unheimliche und drückend Zweideutige, dessen sich kein bedeutender Mensch ganz erwehren kann.

Die Weltangst ist sicherlich das schöpferischste aller Urgefühle. Ihr verdankt ein Mensch die reifsten und tiefsten aller Formen und Gestalten nicht nur seines bewußten Innenlebens, sondern auch von dessen Spiegelung in den zahllosen Bildungen äußerer Kultur. Wie eine geheime Melodie, nicht jedem vernehmbar, geht die Angst durch die Formensprache eines jeden wahren Kunstwerkes, jeder innerlichen Philosophie, jeder bedeutenden Tat und sie liegt, nur den wenigsten noch fühlbar, auch den großen Problemen jeder Mathematik zugrunde. Nur der innerlich erstorbene Mensch der späten Städte, des Babylon Hammurabis, des ptolemäischen Alexandria, des islamischen Bagdad oder des heutigen Paris und Berlin, nur der rein intellektuelle Sophist, Sensualist und Darwinist verliert oder verleugnet sie, indem er eine geheimnislose »wissenschaftliche Weltanschauung« zwischen sich und das Fremde stellt.

Knüpft sich die Sehnsucht an jenes unfaßliche Etwas, dessen tausendgestaltige ungreifbare Daseinszeichen durch das Wort Zeit mehr verdeckt als bezeichnet werden, so findet das Urgefühl der Angst seinen Ausdruck in den geistigen, faßlichen, der Gestaltung fähigen Symbolen der Ausdehnung. So finden sich im Wachsein jeder Kultur, in jeder anders geartet, die Gegenformen der Zeit und des Raumes, der Richtung und der Ausdehnung, jene dieser zugrunde liegend, wie das Werden dem Gewordnen – denn auch die Sehnsucht liegt der Angst zugrunde; sie wird zur Angst, nicht umgekehrt –, jene der geistigen Macht entzogen, diese ihr dienend, jene nur zu erleben, diese nur zu erkennen. »Gott fürchten und lieben« ist der christliche Ausdruck für den Gegensinn beider Weltgefühle.

Aus der Seele des gesamten Urmenschentums und also auch der frühesten Kindheit erhebt sich der Drang, das Element der fremden Mächte, die in allem Ausgedehnten, im Raume und durch den Raum unerbittlich gegenwärtig sind, zu bannen, zu zwingen, zu versöhnen – zu »erkennen«. Im letzten Grunde ist alles dies dasselbe. Gott erkennen heißt in der Mystik aller frühen Zeiten ihn beschwören, ihn sich geneigt machen, ihn sich innerlich aneignen. Das geschieht vor allem durch ein Wort, den »Namen«, mit dem man das numen benennt, anruft, oder durch die Ausübung der Bräuche eines Kultes, denen eine geheime Kraft innewohnt. Kausale, systematische Erkenntnis, Grenzsetzung durch Begriffe und Zahlen, ist die feinste, aber auch die mächtigste Form dieser Abwehr. Insofern wird der Mensch erst durch die Wortsprache ganz zum Menschen. Die an Worten gereifte Erkenntnis verwandelt mit Notwendigkeit das Chaos der ursprünglichen Eindrücke in die »Natur«, für die es Gesetze gibt, denen sie gehorchen muß, die »Welt an sich« in die »Welt für uns«.Vom »Namenzauber« der Wilden bis zur modernsten Wissenschaft, welche die Dinge unterwirft, indem sie Namen, nämlich Fachausdrücke für sie prägt, hat sich der Form nach nichts geändert. Vgl. Bd. II, S. 723 f., 881 ff. Sie stillt die Weltangst, indem sie das Geheimnisvolle bändigt, es zur faßlichen Wirklichkeit gestaltet, es durch die ehernen Regeln einer ihm aufgeprägten intellektuellen Formensprache fesselt.

Dies ist die Idee des »tabu«,Vgl. Bd. II, S. 693 ff. das im Seelenleben aller primitiven Menschen eine entscheidende Rolle spielt, dessen ursprünglicher Gehalt aber uns so fern liegt, daß das Wort in keine reife Kultursprache mehr übertragbar ist. Ratlose Angst, heilige Scheu, tiefe Verlassenheit, Schwermut, Haß, dunkle Wünsche nach Annäherung, Vereinigung, Entfernung, all diese formvollen Gefühle gereifter Seelen verschweben in kindlichen Zuständen zu einer dumpfen Unentschiedenheit. Der Doppelsinn des Wortes Beschwören, das bezwingen und anflehen zugleich bedeutet, kann den Sinn jenes mystischen Vorganges verdeutlichen, durch den für den frühen Menschen das Fremde und Gefürchtete »tabu« wird. Die ehrfürchtige Scheu vor allem von ihm Unabhängigen, Gesetzten, Gesetzlichen, den fremden Mächten in der Welt, ist der Ursprung aller und jeder elementaren Formgebung. In Urzeiten verwirklicht sie sich im Ornament, in peinlichen Zeremonien und Riten und den strengen Satzungen eines primitiven Verkehrs. Auf der Höhe großer Kulturen sind diese Gestaltungen, ohne innerlich die Merkmale ihrer Herkunft, den Charakter einer Bannung und Beschwörung verloren zu haben, zu den vollendeten Formenwelten der einzelnen Künste, des religiösen, naturwissenschaftlichen und vor allem mathematischen Denkens geworden. Ihr gemeinsames Mittel, das einzige, welches die sich verwirklichende Seele kennt, ist die Symbolisierung des Ausgedehnten, des Raumes oder der Dinge – sei es in den Konzeptionen des absoluten Weltraumes der Physik Newtons, der Innenräume gotischer Dome und maurischer Moscheen, der atmosphärischen Unendlichkeit der Gemälde Rembrandts und ihrer Wiederkehr in den dunklen Tonwelten Beethovenscher Quartette, seien es die regelmäßigen Polyeder Euklids, die Parthenonskulpturen oder die Pyramiden Altägyptens, das Nirwana Buddhas, die Distanz höfischer Sitte unter Sesostris, Justinian I. und Ludwig XIV., sei es endlich die Gottesidee eines Aischylos, Plotin, Dante oder die den Erdball umspannende Raumenergie der heutigen Technik.


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