Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

16

Angesichts dieser neuen, rein geistigen Bildungen darf man über ihren lebendigen Träger nicht im Zweifel sein, den »neuen Menschen«, als der er hoffnungsvoll von allen Niedergangszeiten empfunden worden ist. Es ist der formlos durch alle Großstädte flutende Pöbel an Stelle des Volkes, die wurzellose städtische Masse, οι πολλοί, wie man in Athen sagte, an Stelle des mit der Natur verwachsenen, selbst auf dem Boden der Städte noch bäuerlichen Menschentums einer Kulturlandschaft. Es ist der Agorabesucher Alexandrias und Roms und sein »Zeitgenosse«, der moderne Zeitungsleser; es ist der »Gebildete«, jener Anhänger eines Kultus des geistigen Mittelmaßes und der Öffentlichkeit als Kultstätte, damals wie heute; es ist der antike und abendländische Mensch der Theater und Vergnügungsorte, des Sports und der Literatur des Tages. Diese spät erscheinende Masse und nicht »die Menschheit« ist Objekt der stoischen und sozialistischen Propaganda, und man könnte ihr gleichbedeutende Erscheinungen des ägyptischen Neuen Reiches, des buddhistischen Indien, des konfuzianischen China zur Seite stellen.

Dem entspricht eine charakteristische Form der öffentlichen Wirksamkeit, die Diatribe.P. Wendland, Die hellenist.-röm. Kultur (1912), S. 75 ff. Zuerst als hellenistische Erscheinung beobachtet, gehört sie zu den Wirkungsformen jeder Zivilisation. Durch und durch dialektisch, praktisch, plebejisch, ersetzt sie die bedeutsame, weithin wirkende Gestalt großer Menschen durch schrankenlose Agitation der Kleinen, aber Klugen, Ideen durch Zwecke, Symbole durch Programme. Das Expansive jeder Zivilisation, der imperialistische Ersatz des inneren, seelischen durch den äußeren Raum kennzeichnet auch sie: die Quantität ersetzt die Qualität, die Verbreitung die Vertiefung. Man verwechsle diese hastige und flache Aktivität nicht mit dem faustischen Willen zur Macht. Sie verrät nur, daß ein schöpferisches Innenleben zu Ende und eine geistige Existenz nur nach außen, im Raum der Städte, nur materiell aufrecht zu erhalten ist. Die Diatribe gehört notwendig zur »Religion der Irreligiösen«; die ist deren eigentliche Seelsorge. Sie erscheint als indische Predigt, als antike Rhetorik, als abendländischer Journalismus. Sie wendet sich an die Meisten, nicht an die Besten. Sie wertet ihre Mittel nach der Zahl der Erfolge. Sie setzt an Stelle des Denkertums früher Zeiten die intellektuelle männliche Prostitution in Rede und Schrift, wie sie alle Säle und Plätze der Weltstädte füllt und beherrscht. Rhetorisch ist die gesamte Philosophie des Hellenismus, journalistisch das sozialethische System Spencers wie der Roman Zolas und das Drama Ibsens. Man verwechsle diese geistige Prostitution nicht mit dem ursprünglichen Auftreten des Christentums. Die christliche Mission ist in ihrem Wesenskern beinahe immer mißverstanden worden. Aber das Urchristentum, die magische Religion des Stifters, dessen Seele dieser brutalen Aktivität ohne Takt und Tiefe gar nicht fähig war, ist erst durch die hellenistische Praxis des Paulus – bekanntlich unter schroffstem Widerspruch der Urgemeinde – in die lärmende städtische demagogische Öffentlichkeit des Imperium Romanum hineingezogen worden. Mag seine hellenistische Bildung noch so gering gewesen sein, sie hat ihn nach außen zu einem Gliede der antiken Zivilisation gemacht. Jesus hatte Fischer und Bauern an sich gezogen, Paulus hielt sich an die Agora der großen Städte und also an die großstädtische Form der Propaganda. Das Wort Heide ( paganus) verrät noch heute, auf wen sie zuletzt gewirkt hat. Wie verschieden ist Paulus von Bonifatius! Dieser bedeutet in seiner faustischen Leidenschaft, in Wäldern und einsamen Tälern, etwas streng Entgegengesetztes, und ebenso die heitren Zisterzienser mit ihrem Landbau und die Deutschordensritter im slawischen Osten. Das war wieder Jugend, Aufblühen, Sehnsucht inmitten einer bäuerlichen Landschaft. Erst im 19. Jahrhundert erscheint die Diatribe auf diesem mittlerweile gealterten Boden mit allem, was ihr wesenhaft ist, mit der großen Stadt als Basis und der Masse als Publikum. Das echte Bauerntum fällt für den Sozialismus so wenig in den Kreis der Betrachtung wie für Buddha und die Stoa. Erst hier, in den Städten des europäischen Westens, findet der Paulustyp wieder seinesgleichen, mag es sich nun um christliche oder antikirchliche Strömungen, soziale oder theosophische Interessen, um Freidenkertum oder um die Gründungen des religiösen Kunstgewerbes handeln.

Nichts ist für diese entschiedene Wendung zum äußeren Leben, das allein übrig geblieben ist, zur biologischen Tatsache, der gegenüber das Schicksal nur noch in der Form von Kausalitätsbeziehungen erscheint, bezeichnender als das ethische Pathos, mit dem man sich nun einer Philosophie der Verdauung, der Ernährung, der Hygiene zuwendet. Alkoholfragen und Vegetarismus werden mit religiösem Ernst behandelt, augenscheinlich das Gewichtigste an Problemen, wozu der »neue Mensch« sich aufschwingen kann. So entspricht es der Froschperspektive dieser Generationen. Religionen, wie sie an der Schwelle großer Kulturen entstehen, die orphische und vedische, das magische Christentum Jesu und das faustische der ritterlichen Germanen hätten es unter ihrer Würde gefunden, zu Fragen der Art auch nur für Augenblicke herabzusteigen. Jetzt steigt man zu ihnen hinauf. Der Buddhismus ist ohne eine leibliche neben seiner Seelendiät nicht denkbar. Im Kreise der Sophisten, des Antisthenes, der Stoiker und Skeptiker gewinnt dergleichen immer größere Bedeutung. Schon Aristoteles hat über die Alkoholfrage geschrieben, eine ganze Reihe von Philosophen über den Vegetarismus, und es besteht zwischen der apollinischen und der faustischen Methode nur der Unterschied, daß der Zyniker die eigne Verdauung, Shaw die Verdauung aller »Menschen« in sein theoretisches Interesse zieht. Der eine entsagt, der andere verbietet. Man weiß, wie selbst Nietzsche sich im »Ecce homo« in Fragen dieser Art gefällt.


 << zurück weiter >>