Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

6

Mit den drei Einheiten war es nicht genug. Das attische Drama forderte statt des Mienenspiels die starre Maske – es verbot also die seelische Charakteristik, wie man die Aufstellung ikonischer Statuen verboten hatte. Es forderte den Kothurn und die überlebensgroße, rings bis zur Unbeweglichkeit gepolsterte Figur mit dem schleppenden Gewande – und beseitigte damit die Individualität der Erscheinung. Es forderte endlich den aus einem röhrenartigen Mundstück monoton erschallenden Sprechgesang.

Der bloße Text, wie wir ihn heute lesen – nicht ohne unvermerkt den Geist Goethes und Shakespeares und unsre ganze Kraft perspektivischen Sehens hineinzutragen – kann von dem tiefern Sinn dieses Dramas nur wenig geben. Antike Kunstwerke sind ganz für das antike Auge, und zwar das leibliche Auge geschaffen. Erst die sinnliche Form der Darstellung schließt die eigentlichen Geheimnisse auf. Und da bemerken wir einen Zug, der jeder wahren Tragik faustischen Stils gegenüber unerträglich wäre: die beständige Gegenwart des Chores. Der Chor ist die Urtragödie, denn ohne ihn wäre das ηθος, nicht möglich. Charakter hat jemand durch sich selbst; eine Haltung gibt es nur in bezug auf andere.

Dieser Chor als Menge, als der ideale Gegensatz zum einsamen, zum innerlichen Menschen, zum Monolog der abendländischen Szene, dieser Chor, der immer anwesend bleibt, vor dem sich alle »Selbstgespräche« abspielen, der die Angst vor dem Grenzenlosen, Leeren auch im Bühnenbilde vertreibt – das ist apollinisch. Die Selbstbetrachtung als öffentliche Tätigkeit, die prunkvolle öffentliche Klage statt des Schmerzes im einsamen Kämmerlein (»wer nie die kummervollen Nächte auf seinem Bette weinend saß«), das tränenreiche Jammergeschrei, das eine ganze Reihe von Dramen wie den Philoktet und die Trachinierinnen füllt, die Unmöglichkeit, allein zu bleiben, der Sinn der Polis, all das Weibliche dieser Kultur, wie es der Idealtypus des Apoll von Belvedere verrät, offenbart sich im Symbol des Chores. Dieser Art von Drama gegenüber ist dasjenige Shakespeares ein einziger Monolog. Selbst die Zwiegespräche, selbst die Gruppenszenen lassen die ungeheure innere Distanz dieser Menschen empfinden, von denen jeder im Grunde nur mit sich selbst spricht. Nichts vermag diese seelische Ferne zu durchbrechen. Man fühlt sie im Hamlet wie im Tasso, im Don Quijote wie im Werther, aber sie ist schon in Wolfram von Eschenbachs Parzival in ihrer ganzen Unendlichkeit Gestalt geworden; sie unterscheidet die gesamte abendländische Poesie von der gesamten antiken. Unsre ganze Lyrik, von Walther von der Vogelweide bis auf Goethe, bis auf die Lyrik der sterbenden Weltstädte herab ist monologisch, die antike Lyrik ist eine Lyrik im Chor, eine Lyrik vor Zeugen. Die eine wird innerlich aufgenommen, im wortlosen Lesen, als unhörbare Musik, die andre wird öffentlich rezitiert. Die eine gehört dem schweigenden Raume – als Buch, das überall zu Hause ist –, die andre dem Platz, an dem sie gerade erklingt.

Die Kunst des Thespis entwickelt sich deshalb, obwohl die Mysterien von Eleusis und die thrakischen Feste der Epiphanie des Dionysos nächtlich gewesen waren, mit innerster Notwendigkeit zu einer Szene des Vormittags und des vollen Sonnenlichts. Aus den abendländischen Volks- und Passionsspielen dagegen, die aus der Predigt mit verteilten Rollen hervorgegangen sind und erst von Klerikern in der Kirche, später von Laien auf dem freien Platz davor, und zwar an den Vormittagen der hohen Kirchenfeste (Kirmessen) vorgetragen wurden, entstand unvermerkt eine Kunst des Abends und der Nacht. Schon zu Shakespeares Zeiten spielte man am Spätnachmittag, und dieser mystische Zug, der das Kunstwerk der ihm zugehörigen Helligkeit annähern will, hatte zur Zeit Goethes sein Ziel erreicht. Jede Kunst, jede Kultur überhaupt hat ihre bedeutsame Tagesstunde. Die Musik des 18. Jahrhunderts ist eine Kunst der Dunkelheit, wo das innere Auge erwacht, die attische Plastik ist die des wolkenlosen Lichtes. Wie tief diese Beziehung reicht, beweisen die gotische Plastik mit der sie umhüllenden ewigen Dämmerung und die ionische Flöte, das Instrument des hohen Mittags. Die Kerze bejaht, das Sonnenlicht verneint den Raum gegenüber den Dingen. In den Nächten siegt der Weltraum über die Materie, im Lichte des Mittags verleugnen die nahen Dinge den fernen Raum. So unterscheiden sich das attische Fresko und die nordische Ölmalerei. So wurden Helios und Pan antike, der Sternenhimmel und die Abendröte faustische Symbole. Auch die Seelen der Toten gehen mitternachts um, vor allem in den zwölf langen Nächten nach Weihnachten. Die antiken Seelen gehörten dem Tage. Noch die alte Kirche hatte vom δωδεκαήμερον, den zwölf geweihten Tagen, geredet; mit dem Erwachen der abendländischen Kultur wurde die »Zwölftnacht« daraus.

Die antike Vasen- und Freskomalerei – man hat das noch nie bemerkt – kennt keine Tageszeit. Kein Schatten zeigt den Stand der Sonne, kein Himmel die Gestirne an; es gibt weder Morgen noch Abend, weder Frühling noch Herbst; es herrscht eine reine, zeitlose Helligkeit.Es sei noch einmal betont: die hellenistische »Schattenmalerei« des Zeuxis und Apollodor modelliert die einzelnen Körper, so daß sie plastisch auf das Auge wirken. Es lag ihr ganz fern, den Schatten als Widergabe eines durchleuchteten Raumes zu behandeln. Der Körper ist »schattiert«, aber er wirft keinen Schatten. Das Atelierbraun der klassischen Ölmalerei entwickelte sich mit gleicher Selbstverständlichkeit zum Gegenteil, einer imaginären, von der Stunde unabhängigen Dunkelheit, der eigentlichen Atmosphäre des faustischen Seelenraumes. Das ist um so bedeutsamer, als die Bildräume von Anfang an die Landschaft im Licht einer Tages- und Jahreszeit geben wollen, historisch also. Aber all diese Morgenfrühen, Wolken im Abendrot, die letzte Helligkeit über der Kammlinie ferner Berge, die Zimmer bei Kerzenschein, die Frühlingswiesen und Herbstwälder, die langen und kurzen Schatten der Büsche und Ackerfurchen sind dennoch durchdrungen von einer abgedämpften Dunkelheit, die nicht vom Gang der Gestirne stammt. Stete Helle und stete Dämmerung trennen in der Tat antike und westeuropäische Malerei, antike und westeuropäische Bühne voneinander. Und darf man nicht auch die euklidische Geometrie eine Mathematik des Tages, die Analysis eine solche der Nacht nennen?

Für die Griechen sicherlich eine Art profanierenden Frevels, ist der Szenenwechsel für uns beinahe ein religiöses Bedürfnis, eine Forderung unseres Weltgefühls. In der gleichbleibenden Szene des Tasso liegt etwas Heidnisches. Wir brauchen innerlich ein Drama voller Perspektiven und weiter Hintergründe, eine Bühne, die alle sinnlichen Schranken aufhebt und die ganze Welt in sich zieht. Shakespeare, der geboren wurde, als Michelangelo starb, und zu dichten aufhörte, als Rembrandt zur Welt kam, hat das Maximum von Unendlichkeit, von leidenschaftlicher Überwindung aller statischen Gebundenheit erreicht. Seine Wälder, Meere, Gassen, Gärten, Schlachtfelder liegen im Fernen, Grenzenlosen. Jahre fliehen in Minuten vorüber. Der wahnsinnige Lear zwischen dem Narren und dem tollen Bettler im Sturm auf nächtlicher Heide, das Ich in tiefster Einsamkeit im Raume verloren – das ist faustisches Lebensgefühl. Und das schlägt die Brücke hinüber zu den innerlich gesehenen, erfühlten Landschaften schon der venezianischen Musik um 1600, daß die Bühne der elisabethanischen Zeit das alles nur bezeichnet, während das geistige Auge sich aus spärlichen Andeutungen ein Bild der Welt entwirft, in welcher Szenen sich abspielen, die stets in ferne Begebenheiten hinübergreifen und die eine antike Bühne nie hätte darstellen können. Die griechische Szene ist niemals Landschaft; sie ist überhaupt nichts. Man darf sie höchstens als die Basis wandelnder Statuen bezeichnen. Die Figuren sind alles, auf dem Theater wie im Fresko. Wenn man dem antiken Menschen Naturgefühl abspricht, so ist es das faustische, das am Raume haftet und deshalb an der Landschaft, insofern sie Raum ist. Die antike Natur ist der Körper, und hat man sich einmal in diese Fühlweise versenkt, so begreift man plötzlich, mit welchen Augen ein Grieche das bewegte Muskelrelief eines nackten Leibes verfolgte. Das war seine lebendige Natur, nicht Wolken, Sterne und der Horizont.


 << zurück weiter >>