Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Die große Aufgabe der Welterkenntnis, wie sie dem Menschen hoher Kulturen Bedürfnis ist, einer Art Durchdringung seiner Existenz, die er sich und ihr schuldig zu sein glaubt, mag man ihr Verfahren nun Wissenschaft oder Philosophie nennen, mag man ihre Verwandtschaft zu künstlerischer Schöpfung und gläubiger Intuition mit innerster Gewißheit empfinden oder bestreiten – diese Aufgabe ist sicherlich in jedem Falle die gleiche: Die Formensprache des Weltbildes, das dem Wachsein des einzelnen vorbestimmt ist, das er, solange er nicht vergleicht, für » die« Welt halten muß, in ihrer Reinheit darzustellen.

Angesichts des Unterschiedes von Natur und Geschichte muß diese Aufgabe eine doppelte sein. Beide reden ihre eigene, in jedem Betracht verschiedene Formensprache; in einem Weltbilde von unentschiedenem Charakter – wie es die alltägliche Regel ist – können beide einander wohl überlagern und verwirren, sich aber niemals zur inneren Einheit verbinden.

Richtung und Ausdehnung sind die herrschenden Merkmale, durch die sich der historische und der naturhafte Welteindruck unterscheiden. Der Mensch ist gar nicht imstande, beide gleichzeitig gestaltend wirken zu lassen. Das Wort Ferne hat einen bezeichnenden Doppelsinn. Dort bedeutet es Zukunft, hier eine räumliche Distanz. Man wird bemerken, daß der historische Materialist die Zeit fast mit Notwendigkeit als mathematische Dimension empfindet. Für den geborenen Künstler sind umgekehrt, wie die Lyrik aller Völker beweist, landschaftliche Fernen, Wolken, der Horizont, die sinkende Sonne Eindrücke, die sich unbezwinglich mit dem Gefühl von etwas Künftigem verbinden. Der griechische Dichter verneint die Zukunft, folglich sieht, folglich besingt er dies alles nicht. Weil er ganz der Gegenwart angehört, so gehört er auch ganz der Nähe. Der Naturforscher, der produktive Verstandesmensch im eigentlichen Sinne, sei er Experimentator wie Faraday, Theoretiker wie Galilei oder Rechner wie Newton, findet in seiner Welt nur richtungslose Quantitäten, die er mißt, prüft und ordnet. Nur Quantitatives unterliegt der Fassung durch Zahlen, ist kausal bestimmt, kann begrifflich zugänglich gemacht und gesetzlich formuliert werden. Damit sind die Möglichkeiten aller reinen Naturerkenntnis erschöpft. Alle Gesetze sind quantitative Zusammenhänge oder, wie der Physiker es ausdrückt, alle physikalischen Vorgänge verlaufen im Raume. Der antike Physiker würde, ohne die Tatsache zu ändern, diesen Ausdruck im Sinne des antiken, raumverneinenden Weltgefühls dahin korrigiert haben, daß alle Vorgänge » unter Körpern stattfinden«.

Historischen Eindrücken ist alles Quantitative fremd. Ihr Organ ist ein anderes. Die Welt als Natur und die Welt als Geschichte haben ihre eigenen Arten des Erfassens. Wir kennen sie und gebrauchen sie täglich, ohne uns des Gegensatzes bis jetzt bewußt gewesen zu sein. Es gibt Naturerkenntnis und Menschenkenntnis. Es gibt wissenschaftliche Erfahrung und Lebenserfahrung. Man verfolge den Gegensatz bis in seine letzten Tiefen und man wird verstehen, was ich meine.

Alle Arten, die Welt zu begreifen, dürfen letzten Endes als Morphologie bezeichnet werden. Die Morphologie des Mechanischen und Ausgedehnten, eine Wissenschaft, die Naturgesetze und Kausalbeziehungen entdeckt und ordnet, heißt Systematik. Die Morphologie des Organischen, der Geschichte und des Lebens, alles dessen, was Richtung und Schicksal in sich trägt, heißt Physiognomik.


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