Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Was die römische Weltherrschaft betrifft, so ist sie ein negatives Phänomen, nicht das Ergebnis eines Überschusses von Kraft auf der einen – den hatten die Römer nach Zama nicht mehr –, sondern das eines Mangels an Widerstand auf der andern Seite. Die Römer haben die Welt gar nicht erobert.Vgl. Bd. II, S. 1089. Sie haben nur in Besitz genommen, was als Beute für jedermann dalag. Das Imperium Romanum ist nicht durch die äußerste Anspannung aller militärischen und finanziellen Hilfsmittel, wie es einst Karthago gegenüber der Fall gewesen war, sondern durch den Verzicht des alten Ostens auf äußere Selbstbestimmung entstanden. Man lasse sich nicht durch den Schein glänzender soldatischer Erfolge täuschen. Mit ein paar schlecht geübten, schlecht geführten, übel gelaunten Legionen haben Lucullus und Pompejus ganze Reiche unterworfen, woran zur Zeit der Schlacht bei Ipsus nicht zu denken gewesen wäre. Die mithridatische Gefahr, eine wirkliche Gefahr für dieses nie ernstlich geprüfte System materieller Kräfte, hätte als solche für die Besieger Hannibals niemals bestanden. Die Römer haben nach Zama keinen Krieg gegen eine große Militärmacht mehr geführt und hätten keinen führen können.Die Eroberung Galliens durch Cäsar war ein ausgesprochener Kolonialkrieg, d. h. von einseitiger Aktivität. Daß er trotzdem den Höhepunkt der späteren römischen Kriegsgeschichte bildet, bestätigt nur deren rasch abnehmenden Gehalt an wirklichen Leistungen. Ihre klassischen Kriege waren die gegen die Samniten, gegen Pyrrhus und Karthago. Ihre große Stunde war Cannä. Es gibt kein Volk, das Jahrhunderte hindurch auf dem Kothurn steht. Das preußisch-deutsche, das die mächtigen Augenblicke von 1813, 1870 und 1914 hatte, besitzt deren mehr als die übrigen.

Ich lehre hier den Imperialismus, als dessen Petrefakt Reiche wie das ägyptische, chinesische, römische, die indische Welt, die Welt des Islam noch Jahrhunderte und Jahrtausende stehen bleiben und aus einer Erobererfaust in die andere gehen können – tote Körper, amorphe, entseelte Menschenmassen, verbrauchter Stoff einer großen Geschichte –, als das typische Symbol des Ausgangs begreifen. Imperialismus ist reine Zivilisation. In dieser Erscheinungsform liegt unwiderruflich das Schicksal des Abendlandes. Der kultivierte Mensch hat seine Energie nach innen, der zivilisierte nach außen. Deshalb sehe ich in Cecil Rhodes den ersten Mann einer neuen Zeit. Er repräsentiert den politischen Stil einer ferneren, abendländischen, germanischen, insbesondere deutschen Zukunft. Sein Wort »Ausdehnung ist alles« enthält in dieser napoleonischen Fassung die eigentlichste Tendenz einer jeden ausgereiften Zivilisation. Das gilt von den Römern, den Arabern, den Chinesen. Hier gibt es keine Wahl. Hier entscheidet nicht einmal der bewußte Wille des einzelnen oder ganzer Klassen und Völker. Die expansive Tendenz ist ein Verhängnis, etwas Dämonisches und Ungeheures, das den späten Menschen des Weltstadiums packt, in seinen Dienst zwingt und verbraucht, ob er will oder nicht, ob er es weiß oder nicht.Die modernen Deutschen sind das glänzende Beispiel eines Volkes, das ohne sein Wissen und Wollen expansiv geworden ist. Sie waren es schon, als sie noch das Volk Goethes zu sein glaubten. Bismarck hat diesen tiefern Sinn der durch ihn begründeten Epoche nicht einmal geahnt. Er glaubte den Abschluß einer politischen Entwicklung erreicht zu haben, vgl. Bd. II, S. 1089. Leben ist die Verwirklichung von Möglichem, und für den Gehirnmenschen gibt es nur extensive Möglichkeiten.So war vielleicht das bedeutende Wort Napoleons an Goethe gemeint: »Was will man heute mit dem Schicksal? Die Politik ist das Schicksal.« So sehr der heutige, noch wenig entwickelte Sozialismus sich gegen die Expansion auflehnt, er wird eines Tages mit der Vehemenz eines Schicksals ihr vornehmster Träger sein. Hier rührt die Formensprache der Politik – als unmittelbarer intellektueller Ausdruck einer Art von Menschentum – an ein tiefes metaphysisches Problem: an die durch die unbedingte Gültigkeit des Kausalitätsprinzips bestätigte Tatsache, daß der Geist das Komplement der Ausdehnung ist.

Es war völlig aussichtslos, wenn in der dem Imperialismus zutreibenden chinesischen Staatenwelt zwischen 480 und 230 (antik etwa 300-50) das vor allem von dem »Römerstaate« TsinDer denn auch dem Imperium endlich seinen Namen gab: Tsin = China. praktisch und von dem Philosophen Dschang-yi theoretisch vertretene Prinzip des Imperialismus (lienheng) durch den Gedanken eines Völkerbundes (hohtsung) bekämpft wurde, der sich auf manche Gedanken des Wang-hü stützte, eines tiefen Skeptikers und Kenners der Menschen und der politischen Möglichkeiten dieser Spätzeit. Sie sind beide Gegner der Ideologie des Laotse und seiner Abschaffung der Politik, aber der lienheng hatte den natürlichen Gang der expansiven Zivilisation für sich.Vgl. Bd. II, S. 1081 f., 1099.

Rhodes erscheint als der erste Vorläufer eines abendländischen Cäsarentypus, für den die Zeit noch lange nicht gekommen ist. Er steht in der Mitte zwischen Napoleon und den Gewaltmenschen der nächsten Jahrhunderte, wie jener Flaminius, der seit 232 die Römer zur Unterwerfung der cisalpinen Gallier und damit zum Beginn ihrer kolonialen Ausdehnungspolitik drängte, zwischen Alexander und Cäsar. Flaminius war streng genommenDenn seine wirkliche Macht entsprach nicht mehr dem Sinn irgendeines Amtes. ein Privatmann von staatsbeherrschendem Einfluß in einer Zeit, wo der Staatsgedanke der Gewalt wirtschaftlicher Faktoren erliegt, in Rom sicherlich der erste vom cäsarischen Oppositionstypus. Mit ihm endet die Idee des Staatsdienstes und es beginnt der nur mit Kräften, nicht mit Traditionen rechnende Wille zur Macht. Alexander und Napoleon waren Romantiker, an der Schwelle der Zivilisation und schon von ihrer kalten und klaren Luft angeweht; aber der eine gefiel sich in der Rolle des Achilles und der andere las den Werther. Cäsar war lediglich ein Tatsachenmensch von ungeheurem Verstande.

Aber schon Rhodes verstand unter erfolgreicher Politik einzig den territorialen und finanziellen Erfolg. Das ist das Römische an ihm, dessen er sich sehr bewußt war. In dieser Energie und Reinheit hatte sich die westeuropäische Zivilisation noch nicht verkörpert. Nur vor seinen Landkarten konnte er in eine Art dichterische Ekstase geraten, er, der als Sohn eines puritanischen Pfarrhauses mittellos nach Südafrika gekommen war und ein Riesenvermögen als Machtmittel für seine politischen Ziele erworben hatte. Sein Gedanke einer transafrikanischen Bahn vom Kap nach Kairo, sein Entwurf eines südafrikanischen Reiches, seine geistige Gewalt über die Minenmagnaten, eiserne Geldmenschen, die er zwang, ihr Vermögen in den Dienst seiner Ideen zu stellen, seine Hauptstadt Buluwayo, die er, der allmächtige Staatsmann ohne ein definierbares Verhältnis zum Staate, als künftige Residenz in königlichem Maßstab anlegte, seine Kriege, diplomatischen Aktionen, Straßensysteme, Syndikate, Heere, sein Begriff von der »großen Pflicht des Gehirnmenschen gegenüber der Zivilisation« – alles das ist, groß und vornehm, das Vorspiel einer uns noch vorbehaltenen Zukunft, mit der die Geschichte des westeuropäischen Menschen endgültig schließen wird.

Wer nicht begreift, daß sich an diesem Ausgang nichts ändern läßt, daß man dies wollen muß oder gar nichts, daß man dies Schicksal lieben oder an der Zukunft, am Leben verzweifeln muß, wer das Großartige nicht empfindet, das auch in dieser Wirksamkeit gewaltiger Intelligenzen, dieser Energie und Disziplin metallharter Naturen, diesem Kampf mit den kältesten, abstraktesten Mitteln liegt, wer mit dem Idealismus eines Provinzialen herumgeht und den Lebensstil verflossener Zeiten sucht, der muß es aufgeben, Geschichte verstehen, Geschichte durchleben, Geschichte schaffen zu wollen.

So erscheint das Imperium Romanum nicht mehr als ein einmaliges Phänomen, sondern als normales Produkt einer strengen und energischen, weltstädtischen, eminent praktischen Geistigkeit und als typischer Endzustand, der schon einige Male dagewesen, aber bisher nicht identifiziert worden ist. Begreifen wir endlich, daß das Geheimnis der historischen Form nicht an der Oberfläche liegt und nicht durch Ähnlichkeiten des Kostüms oder der Szene zu fassen ist, daß es in der menschlichen so gut wie in der Tier- und Pflanzengeschichte Erscheinungen von täuschender Ähnlichkeit gibt, die innerlich nichts Verwandtes besitzen – Karl der Große und Harun al Raschid, Alexander und Cäsar, die Germanenkriege gegen Rom und die Mongolenstürme gegen Westeuropa – und andere, die bei größter äußerer Verschiedenheit Identisches zum Ausdruck bringen wie Trajan und Ramses II., die Bourbonen und der attische Demos, Mohammed und Pythagoras. Kommen wir zur Einsicht, daß das 19. und 20. Jahrhundert, vermeintlich der Gipfel einer geradlinig ansteigenden Weltgeschichte, als Altersstufe tatsächlich in jeder bis zum Ende gereiften Kultur nachzuweisen ist, nicht mit Sozialisten, Impressionisten, elektrischen Bahnen, Torpedos und Differentialgleichungen, die nur zum Körper der Zeit gehören, sondern mit seiner zivilisierten Geistigkeit, die auch ganz andere Möglichkeiten äußerer Gestaltung besitzt, daß die Gegenwart also ein Durchgangsstadium darstellt, das unter gewissen Bedingungen mit Sicherheit eintritt, daß es mithin auch ganz bestimmte spätere Zustände als die heutigen westeuropäischen gibt, daß sie in der abgelaufenen Geschichte schon mehr als einmal dagewesen sind und daß damit die Zukunft des Abendlandes nicht ein uferloses Hinauf und Vorwärts in der Richtung unserer augenblicklichen Ideale und mit phantastischen Zeiträumen ist, sondern ein in Hinsicht auf Form und Dauer streng begrenztes und unausweichlich bestimmtes Einzelereignis der Historie vom Umfange weniger Jahrhunderte, das aus den vorliegenden Beispielen übersehen und in wesentlichen Zügen berechnet werden kann.


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