Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Jetzt lösen sich uralte Rätsel und Verlegenheiten. Es gibt so viel Moralen, als es Kulturen gibt, nicht mehr und nicht weniger. Niemand hat hier eine freie Wahl. So gewiß es für jeden Maler und Musiker etwas gibt, das ihm infolge der Wucht einer inneren Notwendigkeit gar nicht zum Bewußtsein kommt, das die Formensprache seiner Werke von vornherein beherrscht und sie von den künstlerischen Leistungen aller anderen Kulturen unterscheidet, so gewiß hat jede Lebensauffassung eines Kulturmenschen von vornherein, a priori in Kants strengstem Sinne, eine Beschaffenheit, die noch tiefer liegt als alles augenblickliche Urteilen und Streben und die ihren Stil als den einer bestimmten Kultur erkennen läßt. Der einzelne kann moralisch oder unmoralisch handeln, »gut« oder »böse« aus dem Urgefühl seiner Kultur heraus, aber die Theorie seines Handelns ist schlechthin gegeben. Jede Kultur hat dafür ihren eigenen Maßstab, dessen Gültigkeit mit ihr beginnt und endet. Es gibt keine allgemein menschliche Moral.

Es gibt also im tiefsten Sinne auch keine wahre Bekehrung und kann keine geben. Jede bewußte Art des Sichverhaltens auf Grund von Überzeugungen ist ein Urphänomen, die zur »zeitlosen Wahrheit« gewordene Grundrichtung eines Daseins. Unter was für Worten und Bildern man sie zum Ausdruck bringt, ob als Satzung einer Gottheit oder als Ergebnis philosophischen Nachdenkens, ob in Sätzen oder Symbolen, ob als Verkündung eigner Gewißheit oder als Widerlegung einer fremden, macht wenig aus; genug, daß sie vorhanden ist. Man kann sie wecken und theoretisch in eine Lehre fassen, ihren geistigen Ausdruck verändern und verdeutlichen; erzeugen kann man sie nicht. So wenig wir imstande sind, unser Weltgefühl zu ändern – so wenig, daß selbst der Versuch einer Änderung schon in seinem Stile verläuft und es bestätigt, statt es zu überwinden –, so wenig haben wir Gewalt über die ethische Grundform unsres Wachseins. Man hat in den Worten einen gewissen Unterschied gemacht und die Ethik eine Wissenschaft, die Moral eine Aufgabe genannt, aber es gibt in diesem Sinne keine Aufgabe. So wenig die Renaissance fähig war, die Antike wieder heraufzurufen, und so sehr sie mit jedem antiken Motiv nur das Gegenteil apollinischen Weltgefühls zum Ausdruck brachte, eine versüdlichte, eine »antigotische Gotik« nämlich, so unmöglich ist die Bekehrung eines Menschen zu einer seinem Wesen fremden Moral. Mag man heute von einer Umwertung aller Werte reden, mag man als moderner Großstädter zum Buddhismus, zum Heidentum oder zu einem romantischen Katholizismus »zurückkehren«, mag der Anarchist für individualistische, der Sozialist für Gesellschaftsethik schwärmen, man tut, will, fühlt trotzdem dasselbe. Die Bekehrung zur Theosophie oder zum Freidenkertum, die heutigen Übergänge von einem vermeintlichen Christentum zu einem vermeintlichen Atheismus und umgekehrt sind eine Veränderung der Worte und Begriffe, der religiösen oder intellektuellen Oberfläche, nicht mehr. Keine unsrer »Bewegungen« hat den Menschen verändert.

Eine strenge Morphologie aller Moralen ist die Aufgabe der Zukunft. Nietzsche hat auch hier das Wesentliche, den ersten, für den neuen Blick entscheidenden Schritt getan. Aber seine Forderung an den Denker, sich jenseits von Gut und Böse zu stellen, hat er selbst nicht erfüllt. Er wollte Skeptiker und Prophet, Moralkritiker und Moralverkünder zugleich sein. Das verträgt sich nicht. Man ist nicht Psycholog ersten Ranges, solange man noch Romantiker ist. Und so ist er hier, wie in all seinen entscheidenden Einsichten, bis zur Pforte gelangt, aber vor ihr stehen geblieben. Indes hat es noch niemand besser gemacht. Wir waren bisher blind für den unermeßlichen Reichtum auch der moralischen Formensprache. Wir haben ihn weder übersehen noch begriffen. Selbst der Skeptiker verstand seine Aufgabe nicht; er erhob im letzten Grunde die eigene, durch persönliche Anlage, durch den privaten Geschmack bestimmte Fassung der Moral zur Norm und maß danach die andern. Die modernsten Revolutionäre, Stirner, Ibsen, Strindberg, Shaw, haben nichts andres getan. Sie verstanden es nur, diese Tatsache – auch vor sich selbst – hinter neuen Formeln und Schlagworten zu verstecken.

Aber eine Moral ist wie eine Plastik, Musik oder Malerei eine in sich geschlossene Formenwelt, die ein Lebensgefühl zum Ausdruck bringt, schlechthin gegeben, in der Tiefe unveränderlich, von innerer Notwendigkeit. Sie ist innerhalb ihres geschichtlichen Kreises immer wahr, außerhalb seiner immer unwahr. Es war gezeigt worden,Vgl. Bd. I, S. 265f., 286ff. daß, wie für den einzelnen Dichter, Maler, Musiker seine einzelnen Werke, so für die großen Individuen der Kulturen die Kunst gattungen als organische Einheiten, die ganze Ölmalerei, die ganze Aktplastik, die kontrapunktische Musik, die Reimlyrik Epoche machen und den Rang großer Symbole des Lebens einnehmen. In beiden Fällen, in der Geschichte einer Kultur wie im Einzeldasein, handelt es sich um die Verwirklichung von Möglichem. Das innerlich Seelische wird zum Stil einer Welt. Neben diesen großen Formeinheiten, deren Werden, Vollendung und Abschluß eine vorbestimmte Reihe menschlicher Generationen umfaßt und die nach einer Dauer von wenigen Jahrhunderten unwiderruflich dem Tode verfallen, steht die Gruppe der faustischen, die Summe der apollinischen Moralen, ebenfalls als Einheit höherer Ordnung aufgefaßt. Ihr Vorhandensein ist Schicksal, das man hinzunehmen hat; nur die bewußte Fassung ist das Ergebnis einer Offenbarung oder wissenschaftlichen Einsicht.

Es gibt etwas schwer zu Beschreibendes, das von Hesiod und Sophokles bis zu Plato und der Stoa alle Lehren zusammenfaßt und sie allem gegenüberstellt, was von Franz von Assisi und Abaelard bis auf Ibsen und Nietzsche gelehrt worden ist, und auch die Moral Jesu ist nur der edelste Ausdruck einer allgemeinen Moral, deren andere Fassungen sich bei Marcion und Mani, Philo und Plotin, Epiktet, Augustinus und Proklos finden. Jede antike Ethik ist eine Ethik der Haltung, jede abendländische eine Ethik der Tat. Und endlich bildet die Summe aller chinesischen und aller indischen Systeme wiederum je eine Welt für sich.


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