Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Und hier erblicke ich nunmehr die letzte große Aufgabe abendländischer Philosophie, die einzige, welche der Altersweisheit der faustischen Kultur noch aufgespart ist, die, welche durch eine jahrhundertelange Entwicklung unseres Seelentums vorbestimmt erscheint. Es steht keiner Kultur frei, den Weg und die Haltung ihres Denkens zu wählen; hier zum erstenmal aber kann eine Kultur voraussehen, welchen Weg das Schicksal für sie gewählt hat.

Mir schwebt eine rein abendländische Art, Geschichte im höchsten Sinne zu erforschen, vor, die bisher noch nie aufgetaucht ist und die der antiken und jeder andern Seele fremd bleiben mußte. Eine umfassende Physiognomie des gesamten Daseins, eine Morphologie des Werdens aller Menschlichkeit, die auf ihrem Wege bis zu den höchsten und letzten Ideen vordringt; die Aufgabe, das Weltgefühl nicht nur der eignen, sondern das aller Seelen zu durchdringen, in denen große Möglichkeiten überhaupt bisher erschienen und deren Ausdruck im Bilde des Wirklichen die einzelnen Kulturen sind. Dieser philosophische Blick, zu dem die analytische Mathematik, die kontrapunktische Musik, die perspektivische Malerei uns und uns allein das Recht geben, setzt über die Anlagen des Systematikers weit hinausgehend das Auge eines Künstlers voraus, und zwar das eines Künstlers, der die sinnliche und greifbare Welt ringsum sich in eine tiefe Unendlichkeit geheimnisvoller Beziehungen vollkommen auflösen fühlt. So fühlte Dante, so Goethe. Ein Jahrtausend organischer Kulturgeschichte als Einheit, als Person aus dem Gewebe des Weltgeschehens herauszuheben und in ihren innersten seelischen Bedingungen zu begreifen, ist das Ziel. Wie man die Züge eines Bildnisses von Rembrandt oder einer Cäsarenbüste durchdringt, so die großen, schicksalsvollen Züge im Antlitz einer Kultur, als der menschlichen Individualität höchster Ordnung, anzuschauen und zu verstehen, ist die neue Kunst. Wie es in einem Dichter, einem Propheten, einem Denker, einem Eroberer aussieht, das hat man schon zu wissen versucht, aber in die antike, ägyptische, arabische Seele überhaupt einzugehen, um sie mit ihrem gesamten Ausdruck in typischen Menschen und Lagen, in Religion und Staat, Stil und Tendenz, Denken und Sitte mitzuerleben, das ist eine neue Art »Lebenserfahrung«. Jede Epoche, jede große Gestalt, jede Gottheit, Städte, Sprachen, Nationen, Künste, alles was je da war und da sein wird, ist ein physiognomischer Zug von höchster Symbolik, den ein Menschenkenner in einem ganz neuen Sinne des Wortes zu deuten hat. Dichtungen und Schlachten, Feiern der Isis und Kybele und katholische Messen, Hochofenwerke und Gladiatorenspiele, Derwische und Darwinisten, Eisenbahnen und Römerstraßen, »Fortschritt« und Nirwana, Zeitungen, Sklavenmassen, Geld, Maschinen, alles ist in gleicher Weise Zeichen und Symbol im Weltbilde des Vergangenen, das eine Seele mit Bedeutung sich vergegenwärtigt. »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis«. Hier liegen Lösungen und Fernblicke verborgen, welche noch nicht einmal geahnt worden sind. Dunkle Fragen, die den tiefsten aller menschlichen Urgefühle, aller Angst und Sehnsucht zugrunde liegen und vom Verstehenwollen in die Probleme der Zeit, der Notwendigkeit, des Raumes, der Liebe, des Todes, der ersten Ursachen verkleidet worden sind, werden aufgehellt. Es gibt eine ungeheure Musik der Sphären, die gehört sein will, die einige unsrer tiefsten Geister hören werden. Die Physiognomik des Weltgeschehens wird zur letzten faustischen Philosophie.


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