Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Hiermit hängt ein wichtiges Prinzip der Komposition zusammen. Man kann im Gemälde die einzelnen Dinge unorganisch über-, neben-, hintereinander stellen, ohne Perspektive und wechselseitiges Verhältnis, das heißt, ohne die Abhängigkeit ihrer Wirklichkeit von der Struktur des Raumes zu betonen, womit nicht gesagt ist, daß man sie leugnet. So zeichnen Naturmenschen und Kinder, bevor das Tiefenerlebnis die sinnlichen Welteindrücke einer tieferen Ordnung unterwirft. Aber diese Ordnung ist dem Ursymbol gemäß in jeder Kultur eine andere. Die uns selbstverständliche Art perspektivischer Zusammenfassung ist ein Einzelfall und von der Malerei anderer Kulturen weder anerkannt noch gewollt. Die ägyptische Kunst liebte die Darstellung gleichzeitiger Vorgänge in Reihen übereinander. So wurde die dritte Dimension aus dem Bildeindruck ausgeschaltet. Die apollinische Kunst stellte vereinzelte Figuren und Gruppen unter absichtlicher Vermeidung räumlicher und zeitlicher Beziehungen in die Bildfläche. Polygnots Fresken in der Lesche von Delphi waren ein berühmtes Beispiel. Ein Hintergrund, der die einzelnen Szenen verbunden hätte, fehlt. Er würde die Bedeutung der Dinge als des allein Wirklichen – gegenüber dem Raum als dem Nichtseienden – in Frage gestellt haben. Die Giebel des Tempels von Ägina, der Götterzug der Françoisvase und der Gigantenfries von Pergamon enthalten eine mäandrische Aufreihung vertauschbarer Einzelmotive, keinen Organismus. Erst der Hellenismus – der Telephosfries des Altars von Pergamon ist das früheste erhaltene Beispiel – bringt das unantike Motiv der einheitlichen Reihe. Auch hierin empfand die Renaissance rein gotisch. Sie hat die Komposition von Gruppen sogar auf eine Höhe erhoben, die für alle folgenden Jahrhunderte vorbildlich blieb, aber diese Ordnung ging vom Raume aus und war in ihren letzten Gründen eine stille Musik der farbig durchleuchteten Ausdehnung, die alle aus ihr geborenen Widerstände des Lichts, die das verstehende Auge als Dinge und Wesen begreift, durch ihren unsichtbaren Takt und Rhythmus in die Ferne geleitet. Aber mit dieser Ordnung im Raum, welche unvermerkt die Linienperspektive durch die Perspektive von Luft und Licht ersetzt, war die Renaissance innerlich schon überwunden.

Und nun folgt von ihrem Ende, von Orlando di Lasso und Palestrina bis auf Wagner, eine dichte Reihe großer Musiker und von Tizian bis auf Manet, Marées und Leibl eine Reihe großer Maler aufeinander, während die Plastik zur völligen Bedeutungslosigkeit herabsinkt. Ölmalerei und instrumentale Musik durchlaufen eine organische Entwicklung, deren Ziel in der Gotik begriffen und im Barock erreicht wurde. Beide Künste – faustisch im höchsten Sinne – sind innerhalb dieser Grenzen Urphänomene. Sie haben eine Seele, eine Physiognomie und also eine Geschichte, und zwar sie allein. Die Bildhauerei beschränkt sich auf ein paar schöne Zufälle im Schatten der Malerei, Gartenkunst oder Architektur. Aber sie sind im Bilde der abendländischen Kunst entbehrlich. Es gibt keinen plastischen Stil mehr in dem Sinne, wie es einen malerischen und musikalischen Stil gibt. Es gibt sowenig eine geschlossene Tradition wie einen notwendigen Zusammenhang der Werke eines Maderna, Goujon, Puget und Schlüter untereinander. Schon in Lionardo entsteht allmählich eine wahre Verachtung der Bildhauerei. Er läßt höchstens den Bronzeguß seiner malerischen Vorzüge wegen gelten, im Gegensatz zu Michelangelo, dessen eigentliches Element damals noch der weiße Marmor war. Aber auch ihm will im hohen Alter keine plastische Arbeit mehr gelingen. Keiner der späteren Bildhauer ist groß in dem Sinne, wie Rembrandt und Bach groß sind, und man wird zugeben, daß sich wohl eine tüchtige und geschmackvolle Leistung, aber kein Werk denken läßt, das im Range neben der Nachtwache oder der Matthäuspassion steht und in gleicher Weise die Tiefe eines ganzen Menschentums erschöpft. Diese Kunst hat aufgehört, das Schicksal ihrer Kultur zu sein. Ihre Sprache bedeutet nichts mehr. Es ist völlig unmöglich, das, was in einem Bildnis Rembrandts liegt, in einer Büste wiederzugeben. Wenn einmal ein Bildhauer von Bedeutung auftaucht wie Bernini, die Meister der gleichzeitigen spanischen Schule, Pigalle oder Rodin – es ist naturgemäß keiner unter ihnen, der über das Dekorative hinaus zu einer großen Symbolik gelangte–, so erscheint er als verspäteter Nachahmer der Renaissance (Thorwaldsen), als verkappter Maler (Houdon, Rodin), Architekt (Bernini, Schlüter) oder Dekorateur (Coyzevox), und er beweist durch sein Erscheinen nur noch deutlicher, daß diese eines faustischen Gehaltes nicht fähige Kunst keine Aufgabe, mithin keine Seele und keine Lebensgeschichte im Sinne einer geschlossenen Stilentwicklung mehr besitzt. Dasselbe gilt dementsprechend von der antiken Musik, die nach vielleicht bedeutenden Ansätzen in der frühesten Dorik in den reifen Jahrhunderten der Ionik (650 bis 350) den beiden echt apollinischen Künsten, Plastik und Freskomalerei, das Feld räumen und mit dem Verzicht auf Harmonie und Polyphonie auch auf den Rang einer organisch sich entwickelnden höheren Kunst verzichten mußte.


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