Wilhelm von Polenz
Der Grabenhäger
Wilhelm von Polenz

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XXXVIII.

Klaven war vom Kreistage in Vorschlag gebracht worden für den Landratsposten; niemand zweifelte daran, daß seine Ernennung von höchster Stelle erfolgen werde.

Eines Tages im Dezember fuhr Erich von Kriebow nach Ragatzin zu seinem Freunde. Er konnte den Schlitten benutzen, denn einige Tage vorher war der erste starke Schneefall eingetreten.

Der Grabenhäger war nach Tisch von zu Haus weggefahren und kam bei anbrechender Dämmerung nach Ragatzin, zu jener Stunde zwischen Tag und Abend, die im Winter so gemütlich ist. Er traf die Klavens am warmen Ofen, ihr Nachbar Merten war zu Besuch da; man hatte das Kaffeezeug vor sich.

Erich von Kriebow wurde mit nachbarlicher Herzlichkeit empfangen. Frau von Klaven wollte natürlich vor allen Dingen wissen, wie es Klara gehe, und Kriebow war in der glücklichen Lage, nur Gutes berichten zu können.

»Wissen Sie schon das Neueste, Kriebow?« fragte Klaven, und sich an Merten wendend: »Man darf doch sprechen?«

»Immer sagen Sie es!« erwiderte der.

»Nun denn, hier stelle ich Ihnen den neuen Langendammer Herrn vor!« Damit wies Klaven auf den Pröklitzer.

»Sie haben Langendamm gekauft?« rief Kriebow.

»Jawohl!« sagte Merten. »Heut früh ist der Kaufvertrag mit den Erben vollzogen worden.«

»Das freut mich für Pantins! Freut mich von Herzen!« rief der Grabenhäger. »Viel wird ja freilich 615 nicht mehr von dem Erlös ihnen sein, aber besser als eine Subhastation ist es doch immer!«

»Nun ist unser Merten, nächst Graf Wieten, der größte Grundbesitzer im Kreise,« meinte Klaven. »Langendamm ist ein mächtiger Fetzen Land.«

»Ja, wer mir das vor vierzig Jahren gesagt hätte, als ich anfing! Der Gedanke, jemals ein Stück Land, auch nur so groß wie eine Kuhhaut, mein eigen zu nennen, wäre mir damals wie ein Luftschloß erschienen. Mein Vater war ein kleiner Pächter und hat sich schlecht und recht auf fremdem Grund und Boden durchgeschlagen. Meine Großeltern noch haben Haus und Hof ihr eigen genannt, sie waren Bauersleute. Aber ihr Land wurde eingezogen, damals bei der großen Regulierung.«

»Nun sehen Sie, Merten!« fiel ihm Klaven ins Wort. »In gewissem Sinne haben Sie Ihre Vorfahren gerächt. Ihre Großeltern sind damals vom Großgrundbesitz gelegt worden, und nun sind Sie der glückliche Besitzer von zwei großen Rittergütern. So kommt alles herum in der Welt. Mich dünkt, es liegt ausgleichende Gerechtigkeit in diesem Auf-und-ab.«

Man schwieg eine Weile. Dann sagte Merten: »Landhunger ist es wahr und wahrhaftig nicht gewesen, meine Herren, was mich dazu getrieben hat, Langendamm zu kaufen. In meinem Alter, wissen Sie, beschwert man sich nicht ohne Anlaß mit solcher Verantwortung.«

»Nun werden Sie wohl einen Pächter annehmen?« fragte Kriebow. »Denn beides: Pröklitz und Langendamm, aus einer Hand bewirtschaften, dürfte wohl selbst für Sie zu viel sein, Herr Merten!«

»Ich habe einen anderen Plan,« erwiderte Merten und lächelte vor sich hin, »einen ganz besonderen Plan mit Langendamm.«

616 »Sie wollen doch nicht etwa parzellieren?« rief Kriebow, und da Merten mit dem Kopfe nickte: »Sagen Sie das nicht! Ein schönes, großes Familiengut, wie Langendamm, in lauter kleine Stücke zerschlagen. Ich weiß: sogar die Regierung unterstützt das neuerdings. Aber es ist doch nicht schön. Wie der Fleischer ein Stück einzeln verpfundet, kommt mir das vor.«

»Herr von Kriebow! Die Sache klingt häßlich, aber sie ist notwendig und heilsam.«

»Nun sollen wir also in unserer Gegend auch solch eine Räuberkolonie bekommen! Keine Rübe im Felde und kein Baum im Walde ist dann mehr sicher vor dem Gesindel! – Das werden Sie den Nachbarn doch nicht antun, Herr Merten?«

»Ich will Ihnen was sagen, Herr von Kriebow: Wenn Sie – was ich Ihnen wünsche – ein langes Leben haben, dann werden Sie den Nutzen einheimsen von dem, was Sie eine ›Räuberkolonie‹ nennen. Ich selbst freilich werde im besten Falle die Saat keimen sehen. Vorteil habe ich nicht davon und will ich auch nicht haben. Ich baue für die Zukunft an. Und wissen Sie, was die Ernte sein soll? – Tüchtige, arbeitsame, zufriedene Menschen. Es klingt das vielleicht ein wenig vermessen, als ob man dem lieben Gott ins Handwerk pfuschen wollte; aber ich meine, er würd's nicht übelnehmen, wenn was getan wird für die Kultur seines edelsten Geschöpfes. Der Mensch braucht Licht, Luft und Erdreich, darin er wurzeln kann, genau wie die Pflanze.«

»Da haben Sie recht, Merten!« fiel Klaven ein. »Und wer den Menschen das schafft, ist ihr Wohltäter.«

»Ach Gott! Nach solchem Ruhme habe ich gar keinen Ehrgeiz, meine Herren! Sehen Sie, ich bin ein alter Junggeselle, infolgedessen habe ich abends viel 617 Zeit übrig, meinen eigenen Gedanken nachzuhängen. – Das ist das einzige,« damit wandte er sich an die Hausfrau, »was unsereiner vor den Verheirateten voraus hat. Und dann sehen Sie: man ist kinderlos. Und doch wünscht man sich, sein Gedächtnis nicht aussterben zu lassen; das ist nun mal so! Man will nicht ganz verschwinden von der Welt, wenn einen die kühle Erde deckt. Sie, meine Herren, stammen aus alten, vornehmen Familien, Sie tragen Namen, die jedermann kennt, Sie werden Ihre Güter vererben an Kinder und Kindeskinder; sehen Sie, alles das habe ich nicht! Wer wird in dreißig, vierzig Jahren nach Walter Merten fragen? – Und eine Spur, daß man gelebt hat, möchte man doch zurücklassen. Da hat mir manchmal des Abends, wenn ich meine Pfeife rauchte, so ein Bild vorgeschwebt – in meinen Gedanken nur, verstehen Sie! Ein Dorf, ein stattliches Dorf. – Nicht solche, wie wir sie jetzt haben – nein, lauter selbständige Wirte, die auf ihrem Eigentum säßen, Leute, welche die Füße unter dem eigenen Tische wärmen könnten, die auf dem eigenen Acker sich ihr Brot erbauten, Besitzer, die sich nicht vor jedem Quartalswechsel fürchten müßten, weil sie in der Schuldjacke stecken. – Wenn man das erreichen könnte! – Und denken Sie sich mal ein Dorf von fünfzig oder hundert solcher Familien! Wohnliche, sauber gehaltene Häuser, jede Familie in ihrem eigenen, ein Garten dazu und ein Stall mit schönem Vieh. Und natürlich in solchem Dorfe ein tüchtiger Gemeindevorsteher und an der Kirche ein braver Geistlicher, als Hirten der Herde, und ein wackerer Lehrer, zu dem freilich auch ein Schulgebäude gehört, wohnlich und festgefügt und ein Auskommen, davon er leben könnte. Stellen Sie sich das mal vor! Sehen Sie, 618 das ist das Bild, das mir vorgeschwebt hat, an manchem einsamen Abende, wenn ich daheim im Sorgenstuhle saß und nachdachte über Not und Jammer des Landvolkes. Ich weiß, ich habe damit nichts Neues entdeckt. Viele ausgezeichnete Männer im ganzen Lande sinnen auf Abhilfe, viel wird darüber auch geschrieben in Zeitungen und Büchern, ja, ich höre: sie fangen gar an, auf den Universitäten darüber Vorträge zu halten. Alle Achtung vor der Gelehrsamkeit; aber mehr ist noch das Handeln wert als das Schreiben und Reden. Ich habe auch allen Respekt vor der Regierung; sie will gewiß das Beste. Aber ich meine, auch hier gilt das Wort: ›Hilf dir selbst!‹ Gesetze werden uns nicht retten und auch nicht Behörden. Wir selbst müssen uns rappeln, wir Männer, die mitten drin stehen, denn wir allein können ganz verstehen, was unserem Stande nottut.«

»Gewiß!« fiel Klaven ein, »praktisch, nicht bureaukratisch muß so etwas angefaßt werden. Auf dem Wege der juristischen Instanzen wird die gesetzgeberische Wohltat oft so verdünnt, daß sie schließlich bei dem Kranken als ganz schwaches Tränklein ankommt. Menschen glücklich und zufrieden zu machen, ist das schwierigste Geschäft von der Welt.«

»Ich will's versuchen auf meine Art. Ob's glückt, das muß die Zukunft lehren. Gottvertrauen muß man freilich haben! Was wären wir Landleute ohne dem! Wir säen ja alle auf Hoffnung. Wenn wir nur unsere Arbeit verrichten nach bestem Wissen und Gewissen; Regen und Sonnenschein muß der da oben geben.«

Man schwieg eine längere Weile. Erich von Kriebow war gepackt von dem Bilde, das Merten in seiner warmherzig gewinnenden Art vor ihnen entrollt hatte; aber es sträubte sich etwas in ihm, sich zum 619 Glauben überzeugen zu lassen. Er wandte sich an Klaven: »Und was sagen Sie denn eigentlich zu Herrn Mertens Plänen mit Langendamm? Wie ich Sie kenne, kann Ihnen doch die Parzellierung eines alten, schönen Familiensitzes unmöglich sympathisch sein, Klaven.«

»In diesen Dingen muß man sich realistisch-nüchternes Denken angewöhnen, Kriebow! Vergangenes läßt sich nicht künstlich erhalten. Trauern, daß Langendamm an viele kleine Leute kommen soll, das wäre gerade so, als wenn man beklagen wollte, daß beim Bau einer neuen Bahn Felder durchschnitten und Bäume gefällt werden müssen. Das hilft nun mal nichts! Vorher war es vielleicht idyllischer. Die wirtschaftliche Entwicklung ist unbarmherzig, aber sie ist auch wieder gerecht. Wenn sich unsere Vorfahren, in Zeiten, wo sie das Heft in der Hand hielten, nur ein wenig mehr um das Wohl ihrer Gutsuntertanen gekümmert hätten, statt um Mehrung ihrer Macht allein, wie anders würde es dann aussehen bei uns! Dann wären die Dörfer und die Gemeinden schon da, die unser Freund hier im Geiste erstehen sieht. – Wunderschön, wenn es so werden könnte, wie er will! Ich male mir das Bild von der Zukunft freilich noch etwas anders als er. Sie wissen, Kriebow, was ich für Hoffnungen hege für unseren Stand; ich meine: noch haben wir Junker unsere Rolle nicht ausgespielt.«

»Verstehen Sie mich nicht falsch, Herr von Klaven!« rief Merten. »Auch in meinem Bilde ist Platz für den Junker. Er nimmt dort sogar eine ausgezeichnete Stelle ein. Nein, zu einem richtigen Dorfe gehört auch ein Grundherr.«

»Nun, dann treffen sich unsere Ansichten, Merten!« rief Klaven. »Und das freut mich! Es ist so Mode 620 geworden, uns als Idioten oder als Raubgesellen darzustellen. – Aber ich will Ihnen sagen, wie dieser Junker der Zukunft aussehen wird, so wie ich ihn träume: Er wird etwas weniger laut und hochfahrend auftreten, als er es jetzt oft zu tun beliebt, er wird haushälterisch umgehen mit seinem Erbe, er wird seine Anlagen, Gaben und Kräfte nicht vergeuden in liederlichem Hasardieren, er wird sich nicht erniedrigen zur schmachvollen Jagd nach dem Mammon. Er wird kein Prahlhans sein und kein Streber, sondern ein schlichter Edelmann, der sich der Arbeit nicht scheut. So wird der Junker leben, nicht abgeschlossen, sondern mitten drin im Volke und darum nicht minder vornehm. So wird er seines Amtes walten, der Erste in der Gemeinde durch Tüchtigkeit. – So, nun ist erst Ihr Bild fertig! Vielleicht ist alles das eine Utopie; aber ich glaube daran, und mich tröstet solcher Glaube über vieles Traurige, das ich in der Gegenwart sehe.«

»Gott sei Dank!« sagte Merten. »Wir haben solche Männer, wie Sie sie eben geschildert, bereits unter uns, und es werden ihrer noch mehr kommen.«

* * *

In der Unterhaltung mit seinen Freunden hatte sich der Grabenhäger länger verzögert als ihm recht war. Der Abend war ihm über den Hals gekommen, er wußte nicht wie. Glücklicherweise war ja gute Bahn; er trieb die Pferde an, zu laufen, was sie konnten.

Mit seinen Gedanken war er noch ganz bei dem, was er eben gehört. Es waren doch ein paar ausgezeichnete Männer, die er zu Nachbarn hatte. Schade, ewig schade, daß er die beiden erst jetzt kennengelernt hatte! Er würde vieles besser gemacht, manchen Fehler vermieden haben, hätte er ihren Rat früher gehabt.

621 Aber womöglich würde er damals Rat von ihnen gar nicht angenommen haben. Ja, vor ein paar Jahren noch hätte er es gänzlich unter seiner Würde gehalten, mit einem Merten zu verkehren, und auch über den Ragatziner würde er die Nase gerümpft haben, als über einen ganz unmöglichen Menschen.

Klaven hatte recht: die Blasiertheit war der Grundfehler des Standes; die mußte vor allen Dingen abgelegt werden.

Und nun sprangen seine Gedanken auf einmal über, er wußte selbst nicht wie, zu seinem Jungen. – Erich nahm nämlich ganz fest an, daß es ein Junge sein werde. Mädels, die wollte er später haben; das erste Kind sollte ein Junge sein.

Er sah den Bengel vor sich; es war ein Mordskerl. Mit sechs Jahren schon wollte er ihn aufs Pferd setzen und mit zehn sollte ihn der Junge auf die Jagd begleiten. Das würde eine famose Kameradschaft geben! Soldat sollte er werden, natürlich Kavallerist; oder ob man ihn studieren ließ? – Ja, er sollte studieren; dann konnte er schließlich mal Landrat werden im Kreise.

Und den Jungen wollte er erziehen! – Der sollte ihm nicht solch ein Taugenichts werden, wie er selbst einer gewesen. Scharf aufpassen würde er ihm, mit Strenge ihn leiten und ihm dabei doch ein Freund und treuer Berater sein.

Sorgen konnte man sich freilich machen, wenn man an all die Gruben und Fallstricke dachte, die auf eines jungen Menschen Wege liegen. Mit dem väterlichen Rate, das war ja ganz schön und gut; aber wer hörte denn drauf? Hatte er selbst sich etwa an die guten Lehren und Ratschläge gekehrt, die ihm sein alter Herr mit auf den Lebensweg gegeben hatte. Es schien eben, 622 als müsse jeder seine Erfahrungen selbst machen, sich die Hörner abstoßen, durch Schaden klug werden! –

Aber warum sorgte er sich? Er hatte ja Klara! Was würde sie seinem Sohne für eine Mutter sein! –

Klaras Aufgabe würde es sein, den Sohn zu einem guten Menschen zu machen. Sie hatte ja ihn selbst erst zum Menschen gemacht. Daß er jetzt vor sich selbst Achtung haben durfte, das verdankte er ihr, seiner süßen, lieben, seiner einzigen Frau. –

Und schärfer noch trieb er die Pferde an, daß der Schlitten nur so durch die Winternacht sauste. Nach Haus, zu ihr! Einen Kuß auf ihre Hand und zur Erwiderung einen auf seine Stirn.

Als er vor seiner Tür angekommen war, warf er Franz, der hinter ihm auf der Pritsche gesessen hatte, hastig die Zügel zu und trat ein.

Der alte Kruke sagte, während er seinem Herrn den Fahrpelz abnahm, mit etwas zögernder Stimme: es sei auch nach dem Doktor geschickt worden.

»Für wen denn? Wer ist krank?«

»Die gnädige Frau bekam vorhin einen Brief. Nachher wurde die Frau Pastorin geholt. Mehr wissen wir nicht.« –

Kriebow war schon auf der Treppe und stürmte hinauf. Oben trat ihm die Pastorin entgegen und sagte, ohne seine Frage abzuwarten, mit geheimnisvoller Miene: »Herr von Kriebow, es ist soweit!«

»Wie steht's mit Klara?« stammelte Erich. In seiner Erregung ergriff er die Hände der Pastorin.

»Es wird alles gut werden. Es war nur der Schreck, der sie so gepackt hatte.«

»Was ist denn vorgefallen, um Himmels willen?«

623 »Ein Brief kam aus Burgwerda; der alte Herr von Lenkstädt ist gestorben.«

»O Gott – das muß ihr gerade jetzt widerfahren! Wie trägt sie's?«

»Anfangs war es furchtbar; ich dachte, es müßte ein schlimmes Ende nehmen. Aber jetzt hat sie sich darein ergeben.

»Wo ist sie?«

»Im Schlafzimmer. Als die ersten Wehen sich meldeten, haben wir sie aufs Bett gebracht.«

Die kleine Pastorin, sonst immer errötend und scheu in Gegenwart des Gutsherrn, sagte das mit der selbstverständlichen Ruhe einer Frau, die selbst Kinder zur Welt gebracht hat. – Kriebow war erschrocken. Zaghaft, als solle sich ihm etwas Unheimliches enthüllen, folgte er der resoluten Pastorin ins Schlafzimmer.

Er fand Klara auf dem Sofa sitzend, im farbigen, weiten Schlafmantel, das Haar geöffnet, bleich von Gesicht, mit großen Augen. Erich machte unwillkürlich an der Tür halt, wagte nicht heranzutreten.

»Komm doch zu mir, guter Erich!« sagte sie mit matter Stimme.

Als er neben ihr saß, ängstlich und betreten, reichte sie ihm die Hand, »du weißt – nicht wahr?«

»Traurig!« sagte er, »furchtbar traurig!«

Sie wandte ihr Gesicht ab. Ein kurzes, verzweifeltes Aufschluchzen! Dann sich zusammenraffend, sagte sie zur Pastorin: »Geben Sie mir doch den Brief, Bertha! Er liegt unter dem Spiegel.«

Der Brief wurde Kriebow überreicht; er war an ihn gerichtet.

»Ich erkannte Mutters Handschrift,« erläuterte 624 Klara. »Und da die Angst noch schrecklicher war als die Gewißheit, habe ich geöffnet.«

Frau von Lenkstädt bat ihren Schwiegersohn: Klärchen den Tod des Vaters in möglichst schonender Weise mitzuteilen; er habe sich selbst die Erlösung gewünscht und sei sanft entschlafen. Von Klara habe er noch in den letzten Stunden gesprochen; er lasse sie segnen.

»Mein lieber Vater!« sagte Klara, still vor sich hin weinend.

Kriebow bedeckte die Augen mit der Hand. Für ihn war der Verstorbene wenig gewesen; aber er dachte an Klärchen und was sie in den letzten Stunden gelitten haben mußte. So nahe beieinander standen Leben und Tod! –

Man saß eine ganze Weile schweigend. Dann hörte Kriebow, wie die Pastorin zu Klara sagte: »Stehen Sie auf, Frau von Kriebow! Stützen Sie sich nur auf mich!«

Klara machte einen kleinen Versuch, durchs Zimmer zu schreiten, dann knickte sie zusammen. Die Pastorin hielt sie und trug sie mit einer Kraft, die man der kleinen Person nimmermehr zugetraut hätte, aufs Bett. –

Kriebow stand da, entsetzt. Was ging mit seiner Frau vor? Das Gesicht war auf einmal gänzlich verändert. War das noch Klärchen?

»Halten Sie sich an mir fest!« sagte die Pastorin mit ruhiger Stimme.

Erich stürzte aus dem Zimmer. Das konnte er nicht mit ansehen. Er lief im Hause umher, ratlos, kopflos; endete schließlich wieder vor dem Schlafzimmer, wo er an der Tür lauschte, mit dem Gefühle des armen Sünders. Es war alles still geworden da drinnen. Erst recht ängstigte ihn das. Zitternd trat er ein: Wie stand es jetzt?

625 Die Pastorin beruhigte ihn, ein wenig lächelnd über sein Benehmen. Kriebow bemerkte beim Scheine der Lampen jetzt noch eine andere ältere Frau im Zimmer. Allerhand Tücher wurden von den Frauen gewärmt, heißes Wasser aufgestellt, ein kleines Bett ward vorbereitet.

Was diese Frauen für Nerven hatten! Sie taten, als ob das hier das natürlichste Ding der Welt sei, und er befand sich in Todesangst. Wo war seine freudige Erwartung eines Sohnes und Erben hin, die ihm noch vor einer Stunde das Herz hatte höher schlagen machen? – Gern hätte er das Kind drangegeben, wenn nur Klärchen gerettet würde! –

Jetzt kam wieder solch ein Anfall. Diesmal lief Erich nicht fort, er blieb im Zimmer, in eine Fensternische verkrochen, und betete – was er lange nicht mehr getan hatte. – So stand er, den Kopf gegen die Scheibe gepreßt, halb sinnlos vor Aufregung und Furcht.

Plötzlich vernahm er das gedämpfte Sprechen der Frauen, übertönt von jämmerlichem Schreien. Er traute seinen Ohren kaum; war das möglich! Konnte das die Stimme eines menschlichen Wesens sein? –

Scheu wagte er sich heran. Die Frauen standen da gebeugt über einem winzigen dunklen Wesen, das sich in den weißen Linnen, unter ihren Händen reckte und dehnte.

»Schreie nur, du kleiner Kerl!« sagte die Pastorin, »das ist gut für die Lungen.«

»Ist es ein Junge?« fragte Erich in schüchternem Tone.

»Ei natürlich!« rief die kleine Frau. »Und was für einer! Das ganze Köpfchen hat er schon voll Härchen. Hier präsentiere dich mal deinem Vater!«

Sein Junge! Das war er also! – Mit wunderlich gerührten Gefühlen blickte der junge Vater auf dieses krebsrote runzelige Gesichtchen hinab.

626 Dann wurde das Kind hinübergereicht zur Mutter. Klara lag mit weit offenen Augen in den Kissen. Als man ihr das Kind hinhielt, lächelte sie. »Erich!« sagte sie kaum hörbar.

Er trat an das Lager und kniete nieder. Ihre Züge konnte er nicht erkennen, denn seine Augen standen voller Wasser. Aber er fühlte, wie eine Hand ihm leicht über das Haar strich, und hörte die sanfte Stimme seiner Frau dicht an seinem Ohre: »Erich, wir haben einen Jungen!«

 


 


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