Wilhelm von Polenz
Der Grabenhäger
Wilhelm von Polenz

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XIX.

Ein eigentümliches Gefühl, wieder mal die Luft der Großstadt zu atmen, ihr ungewohntes Brausen in den Ohren zu hören. Halb war es freudige Erregung, 340 Neugier und gesteigerte Lebenslust, halb ein wehmutsvolles Resignieren, was Erich von Kriebow empfand, als er zum ersten Male wieder die »Linden« hinabschritt.

Es war gerade zur beginnenden Dämmerstunde. Aus den mächtigen Glasscheiben der Läden strahlte bereits das elektrische Licht, auf den Trottoirs wogte die Menschenmenge auf und ab, vom Tiergarten herein kam Equipage auf Equipage gerollt. Welch ein Gegensatz gegen die Ruhe und Einsamkeit in Grabenhagen! –

Den so plötzlich auf ihn hereinbrechenden großstädtischen Eindrücken gegenüber fühlte sich Kriebow doch etwas als Provinziale.

Auch konnte er sich nicht verhehlen, daß sein Aufzug nicht mehr ganz auf der Höhe der neuesten Mode sei. Wie schnell das ging! Kaum ein Jahr war es her, daß er sich hier zum letzten Male ausgestattet hatte, und jetzt mußte er schon befürchten, daß man ihm den Krautjunker ansehe.

Er ging in einen Laden, der bereits früher sein Leibgeschäft gewesen war, um sich dort mit Hut, Krawatte, Handschuhen und dergleichen zu versehen. Der Verkäufer, ein Mann von tadellosem Aufzuge, gewohnt, nur der feinsten Kundschaft das Geld abzunehmen, begrüßte ihn bei Namen, aber nicht ohne einen gewissen Vorwurf in Stimme und Blick, daß Herr von Kriebow sich so lange nicht habe blicken lassen. Er legte die neueste Ware vor, vom Besten das Beste, ohne seine Sachen anzupreisen. Er kannte die Gewohnheiten seiner Kunden genau. Herr von Kriebow nahm das, was ihm gefiel, ohne nach dem Preise zu fragen. Dann wurde angeschrieben, später Rechnung geschickt, deren Höhe noch nie beanstandet worden war.

Das glattrasierte Gesicht des Verkäufers nahm 341 einen verdutzten Ausdruck an, als Herr von Kriebow, ganz gegen seine bisherige Gewohnheit, anfing, die Ware zu prüfen und nach dem Preise zu fragen. Sein Erstaunen wurde zum verächtlichen Befremden, als der Käufer eine geringe Qualität wählte und sofort an der Kasse bezahlte. Der Herr Baron haben sich sehr verändert, aber nicht zu Ihrem Vorteile, das war das Urteil, was in der Miene des Menschen zu lesen stand, als er dem Fortgehenden die Tür öffnete.

Kriebow überlegte nun, wie er seine Zeit am besten anwenden solle. Er war ja ohne eigentlichen Zweck in Berlin, niemand erwartete ihn, er konnte tun und lassen, was er wollte. Er beschloß, sich dem Zufall zu überlassen; wem er von seinen Bekannten zuerst begegnen würde, der sollte ihn haben.

Er war mit diesem Entschlusse noch nicht hundert Schritt weit gegangen, als ihm jemand auf die Schulter klopfte; sich umwendend, blickte er in das rosige Gesicht des Grafen Ingelsbrunn.

»Sie hier, lieber Kriebow!« rief der Graf. »Was wollen Sie in Berlin? An Ihrer Stelle ginge ich nicht von zu Haus weg, das wüßte ich genau! – Wie geht's der Frau Gemahlin? Ist sie wohl mitgekommen?«

Kriebow setzte auseinander, weshalb Klara nach Haus gereist sei. Der Graf bedauerte aufs lebhafteste, daß die gnädige Frau Kummer habe. Er begann dann von Klara zu schwärmen, in begeisterten Ausdrücken. Kriebow nahm ihm das nicht übel, im Gegenteil, die ungeschwächte Bewunderung des Grafen für Klärchen tat ihm wohl, und jetzt, wo er sie in sicherer Entfernung wußte, schwieg auch seine Eifersucht. Er hörte sich den Hymnus des Grafen wohlbehaglich mit an und gab ihm recht.

342 »Ich denke noch oft an die reizenden Tage zurück, die ich bei Ihnen in Grabenhagen verlebt habe,« sagte der Graf. »Und ich kann das Kompliment nicht unterdrücken, Verehrtester: Sie sind der liebenswürdigste und zuvorkommendste Wirt, der mir je begegnet ist.« Hier zwinkerte der Graf schelmisch mit den Augen; er hatte also doch nicht ganz die eigenartige Behandlung vergessen, die ihm in Grabenhagen widerfahren war.

Mit dieser kleinen Malice schien seine Rache indes abgemacht; er war viel zu gutmütig, um etwas nachzutragen.

Als er erfahren hatte, daß Kriebow für den Abend frei sei, war er entzückt. Natürlich würde man zusammenbleiben, es traf sich ausgezeichnet; er hatte auch nichts Besonderes vor. Man werde sich amüsieren! Wonach sein Freund Appetit habe, wollte er wissen.

Kriebow erklärte, daß er sich ganz der Führung des Grafen überlasse, denn er sei fremd geworden in Berlin.

Der Graf überlegte. »Sie sind Ehemann. Damit ist uns eine ganz bestimmte Grenze gezogen. Die Sache ist nicht ganz leicht, denn die soliden Genüsse sind dünn gesät in Berlin.«

Nach einigem Überlegen schien er jedoch mit sich im reinen. »Es ist noch früh am Tage; jetzt können wir nichts besseres tun, als essen und trinken.«

Man ging in ein renommiertes Restaurant. Der Graf stellte das Menu zusammen; zu jedem Gerichte ließ er dem Koch seine besonderen Wünsche mitteilen. Die Weinfrage wurde nicht minder sorgfältig von ihm behandelt; zu jedem Gange gab es einen auserlesenen Tropfen.

Dann ging es in den Zirkus. Man sah sich einige Nummern des Programms an und schritt durch die 343 Ställe. Das übrige, behauptete der Graf, sei »fad«. Jetzt könnten sie gerade noch zum letzten Aufzug in der Oper zurecht kommen.

Kriebow machte schwache Einwendungen, er verstehe nichts von Musik; aber der Graf setzte ihm auseinander, es sei ganz notwendig, daß er diese Oper gehört habe, besonders den einen Passus, welchen er ihm aus dem Kopfe vorsang. Kriebow ergab sich darein, um nicht als Spielverderber zu erscheinen, und so fuhr man zum Opernhause.

Nach Schluß der Vorstellung ging man in eine Austernstube. »Wir haben ja noch keinen Sekt getrunken heute!« meinte der Graf ähnlich, wie man wohl sagt: »Ich habe heute noch keinen warmen Bissen im Leibe!« – Kriebow war solche Opulenz nicht mehr gewöhnt; das Gewissen schlug ihm ein wenig. Wenn er in diesem Stile weiterlebte, dann würde er mit der Summe, die er nach Berlin mitgebracht hatte, bald zu Ende sein. Aber natürlich hütete er sich, eine Miene zu verziehen, als Graf Ingelsbrunn die teuerste Marke bestellte, die auf der Karte zu finden war.

Gegen Mitternacht beschloß man, in den Klub zu gehen.

Es war ein mit Wehmut gemischtes Gefühl des Behagens, das Erich von Kriebow erfaßte, als er die altgewohnten Räume wieder betrat. Der Klub! Was knüpften sich daran für Erinnerungen. Das war ja dem Junggesellen der Ersatz gewesen für das mangelnde Heim. Kaum ein Tag war vergangen, wo er nicht hier untergetreten war. Wie manche angeregte Stunde hatte er da zugebracht. Das war vielleicht das einzige, was ihm daheim fehlte, eine solche Gelegenheit, jederzeit seinesgleichen zu treffen, in guter Gesellschaft, bei 344 zwangloser Unterhaltung, wie es einem gerade behagte, bei Zeitung und Zigarre oder beim Billard ein paar Nachtstunden zuzubringen.

Alle Welt traf man; was man wissen wollte, erfuhr man hier: was in der Gesellschaft vorging, in der Politik, die Hofnachrichten, die Familienereignisse, das Zuverlässigste vom Turf, vom Exerzierplatz, vom Theater, das Neueste aus der vornehmen Welt ebenso wie von der Demimonde. Hier wurde Wind und Wetter gemacht; was hier als Mode galt, verbreitete sich dann als maßgebend weiter; kurz, hier war man im Mittelpunkte alles dessen, was für einen Mann von Stand Interesse hatte.

Graf Ingelsbrunn erkundigte sich bei einem Diener, wer ungefähr da sei heut abend. Im Billardzimmer einige Offiziere, im Gesellschaftszimmer junge Herren vom Auswärtigen Amt, aber auch einige ältere Herren vom Parlament seien da. »Etwa Graf Wieten?« fragte Ingelsbrunn. Der Diener bejahte. Graf Ingelsbrunn ließ den Diener darauf nachsehen, in welchem Zimmer die alten Herren säßen.

Zu Kriebow sagte er erläuternd: er wünsche nicht mit seinem Onkel zusammenzutreffen, der halte ihm immer Moralpauken, und »das ennuijiert mich«.

»So kenne ich den alten Wieten gar nicht,« meinte Kriebow. »Der lebt doch und läßt leben.«

»Ja, sehen Sie, mein Lieber! Das ist halt so mit diesen Alten; wenn sie in ein gewisses Stadium kommen, dann besinnen sie sich auf die Solidität, die sie selbst nie geübt haben. Sie gönnen's uns nicht; das ist die ganze Geschichte! Denken Sie sich, der Wieten will mir Vorschriften machen. Ich soll nicht den verheirateten Frauen den Hof machen. Und dann will er, 345 ich soll anfangen zu arbeiten – denken Sie mal: ich! Und weil ich da nicht mittue, hält er mich knapp, denken Sie mal: so 'ne Gemeinerei! – Ich kehr' mich natürlich gar nicht dran!«

Der Diener kam zurück und beschrieb, wo Graf Wieten sitze. »Da muß ich halt hinten rum springen, zu den Attachés!« rief Graf Ingelsbrunn. »Also für heut abend adjeu, Liebster! Auf Wiedersehen! Man wird sich ja wohl noch in Berlin treffen.« Damit warf er Kriebow eine Kußhand zu und verschwand.

Der Grabenhäger, der keinen Onkel zu befürchten hatte, schritt durch die nächsten Zimmer; er suchte nach ehemaligen Kameraden. Von einem Ecksofa aus, wo einige silberhaarige, ordengeschmückte Herren saßen, wurde er angerufen: »Kriebow, he!« –

Es war Graf Wieten. Die Herren waren Parlamentarier.

Man hatte ein offizielles Diner gehabt, die weißen Krawatten sagten es und die roten Gesichter. Nun ruhte man sich hier im bequemen Polster von Essen, Trinken und Tischreden aus bei importierten Zigarren. Der Graf hatte eine Flasche Rheinwein vor sich stehen.

»Kommen Sie, mein Kleiner, hier setzen!« sagte Graf Wieten und zog Kriebow neben sich nieder. »Wollen uns unterhalten. Sie sollen mir was erzählen. Bin den ganzen Winter nicht draußen gewesen bei euch, seit der famosen Landratswahl. Sie machten uns damals Opposition – Sie kleiner Oppositionsmann Sie!« –

Damit faßte der alte Herr des Grabenhägers Ohrläppchen und kniff ihn darein. Dann bestellte er ein zweites Glas.

Graf Wieten schien in bester Laune. Die Sitzung, 346 die hinter ihnen lag, mußte eine schwere gewesen sein; der Nachbar des Grafen, ein korpulenter Herr mit gutbesetzter Ordenskette, war eingeschlummert, die anderen schienen nicht weit davon entfernt.

»So leben wir notleidenden Agrarier!« rief Graf Wieten und schenkte ein. »Hier habe ich wie oft mit Ihrem seligen Vater gesessen, mein kleiner Kriebow! Er trank auch diesen hier. Das gehört nun mal zu den guten, alten Traditionen, und die wollen wir allewege festhalten. Die Tradition über alles!« – Damit erhob er sein Glas, stieß mit Kriebow an und trank mit Behagen. Dann lehnte er sich gemächlich in den Stuhl zurück. »Nun erzählen Sie mal los! Was gibt's Neues bei euch da draußen?«

Der Grabenhäger erzählte, was ihm gerade einfiel: Malte Pantin wollte Zuckerrüben bauen, der Landrat machte den Hof, schien sich aber mit dem Anhalten Zeit nehmen zu wollen. Der Ernsthöfer Tichow hatte seinen Pächter wegjagen müssen, weil er das Pachtgeld nun schon zum dritten Male schuldig geblieben war. In Purgast waren Zwillinge angekommen, und der arme Merrwitz wußte so schon nicht, womit er seine sieben anderen großfüttern solle. In Passow war neulich die Strecke fünfhundert und einige zwanzig Hasen gewesen.

Graf Wieten nickte zufrieden mit dem Kopfe. Er fragte nach diesem und jenem, ließ sich gewissermaßen Rapport erstatten über das, was in seiner Gegend vorgehe.

»Ja, wenn alles so hübsch friedlich und glatt zuginge hier, wie bei euch da draußen!« meinte der Graf, »dann wäre es gut bestellt um Staat und Gesellschaft. Aber hier in diesem verfluchten Berlin verderben sie ja alles! – Die Wirtschaft, wie sie jetzt hier ist, da hört alles bei auf! Heute so, morgen so. Experimentiert 347 wird, dilettantisch an allerhand Fragen herumgefingert. Die Unzufriedenheit wächst; aber das wäre ja schließlich egal, – wer genau weiß, was er will, braucht sich um die öffentliche Meinung nicht zu kümmern, – aber das Tolle ist, heutzutage werden die anständigen Menschen vor den Kopf gestoßen und die Kanaille wird kajoliert. Alle guten alten Traditionen des Regierens sind über den Haufen geschmissen. Hol's der Deibel! Es ist kein Vergnügen, das aus der Nähe mit ansehen zu müssen.«

Der Graf hatte das erregt, mit leuchtenden Augen, gesagt. Er war doch ein prächtiger, alter Bursche! Trotz seines weißen Haares ein Jüngling an Temperament. Kriebow hatte ihm voll Bewunderung gelauscht.

Es entstand eine Pause; der Graf hatte sich zurückgelehnt und blickte sorgenvoll drein. Sein Glas blieb unberührt stehen. »Und darum sehe ich schwarz für die Zukunft!« sagte nach einiger Zeit der alte Herr mehr zu sich selbst.

Der Grabenhäger fühlte das Bedürfnis, zu zeigen, daß ihm die Politik nicht völlig böhmische Dörfer sei – er hatte ja in letzter Zeit über diese Dinge auch gelesen –, im Tone des Schülers meinte er: Die Gefahr sei wohl nicht so groß, wie sie erscheine, man habe ja noch das platte Land als Bollwerk; die Landbevölkerung sei doch im allgemeinen noch gut gesinnt. –

»Jawohl!« rief der Graf, »jetzt sind sie noch so leidlich zuverlässig. Die Disziplin von früher wirkt da eben noch nach. Auf dem Lande haben wir noch einige Autorität; wenigstens stimmen die Leute meistens noch so, wie wir wollen. Das Denken haben sie nicht gelernt, wo es ihnen nicht künstlich beigebracht worden ist. Ich hoffe, Kriebow, Sie werden mir da in 348 Grabenhagen auch ein Auge drauf haben, daß uns Ihr Pastor nicht etwa die Leute verdirbt. Und dann Zeitungen nur solche, die in gutem Sinne schreiben, am besten gar keine, verstehen Sie! – Wenn die Leute erst mal anfangen zu lesen, dann fangen sie auch bald an zu politisieren. Und nun frage ich einen Menschen, was soll dabei Gescheites herauskommen, wenn Krischan, Korl oder Hanning in Politik machen wollen.

Hat sich erst so was wie eine öffentliche Meinung festgesetzt bei unseren Kerlen, dann ist die Autorität weg und die Disziplin. Und wenn uns das Landvolk entfremdet wird, dann ist unsere Sache verloren, dann stehen wir da als Führer ohne Anhang. Und deshalb müssen wir eben uns rühren! Man sieht ja, wie die Gegner auf der ganzen Linie am Werke sind; sie möchten es ja nur zu gern fertig bringen, uns aus der festesten Position, die wir haben, zu vertreiben. Ich mache es euch jungen Leuten zur Pflicht, tut etwas! Legt die Hände nicht in den Schoß, sonst kommt euch der Feind über Nacht ins Lager! Von den großen Städten spreche ich nicht, die sind uns sowieso verloren, da mag der Zusammenbruch kommen, je eher, je besser; nein, ich meine unser plattes Land. Hier sind wir zum Regieren geboren, auch jetzt noch, wenn wir nur wollen. Noch haben wir das Heft in der Hand, aber schlafen dürfen wir freilich nicht.

In der Politik entscheidet das sangfroid. Nur nicht gefühlvoll sein, nur nicht schüchtern! Wenn man freilich immer erwägen will, ob irgend jemandem Unrecht geschieht, dann kommt man nicht weit. Das ist der größte Fehler! Den Ausschlag gibt ja doch schließlich allein die Macht. Deshalb ist es eine Lebensfrage für uns, daß wir das Regiment behalten. Auf dem Lande 349 draußen wie hier im Parlament, bei Hofe, überall. Nirgends dürfen wir von unserem Einflusse aufgeben. Denken Sie denn, Kriebow, daß mir die Politik Vergnügen macht? Ich säße auch viel lieber in Diekenslage und schösse meine Hirsche ab. Aber es geht nun mal nicht anders, unsereiner muß auf dem Platze sein. Der Gegner läuft uns sonst den Rang ab. Aber da muß man sich wenigstens auf euch da draußen verlassen können, daß ihr einem keine allzugroßen Dummheiten macht, während man abwesend ist. Wegen Ihres Pastors da habe ich Ihnen schon meine Meinung gesagt, daß Sie uns den reingelassen haben! So etwas darf nicht vorkommen. Nun, Sie werden's schon auch noch besser lernen! Wenn Sie mal Rat brauchen, so wissen Sie ja, wo Sie sich den jederzeit holen können.«

Kriebow dankte und versicherte, er werde nicht versäumen, von der Erlaubnis Gebrauch zu machen.

»Na, und jetzt mal von was Netterem, als immer von der leidigen Politik! – Was macht denn die Frau Gemahlin? Soll scharmant sein, habe schon gehört! Mein Neffe Ingelsbrunn ist im Herbst bei Ihnen zur Jagd gewesen. Hat mir erzählt von Ihrem Glück. War ganz außer dem Häuschen, der Ingelsbrunn. Empfehlen Sie mich unbekannterweise! Wenn ich irgend Zeit habe, komme ich mal rüber nach Grabenhagen.«

Kriebow verneigte sich.

»Und wie steht's denn, Kriebow? – Einem alten Manne werden Sie das schon nicht übelnehmen – gibt's denn Aussichten? – Ich meine, wird das kommende Jahr einen jungen Grabenhäger begrüßen?«

Der junge Mann schüttelte den Kopf.

»Na na, so betrübt dreinzuschauen brauchen Sie deshalb noch nicht! – Ich kenne nun schon drei 350 Generationen von eurer Art. Ihr Großvater, das war ein alter Haudegen, der mit Vorliebe von der Kampagne in Rußland erzählte. Und ich war ein Kerlchen wie Sie und lauschte andächtig. Sehen Sie, Kriebow, darum hätte es mir Freude gemacht, auch noch eine vierte Generation von euch kennen zu lernen. – Aber mir ist gar nicht bange deshalb – gar nicht bange ist mir. Stoßen wir mal darauf an, mein Kleiner!«

* * *

Die nächsten Tage waren für Erich von Kriebow stark besetzt. Die Einladungen häuften sich; bald war er mitten drin in dem Berliner Trubel.

Unter den Besuchen, welche vor allem solchen Häusern galten, in denen er früher viel verkehrt hatte und mit denen er die Verbindung nicht verlieren wollte, war auch einer, der sonderbar genug abstach von den anderen; Fritz Wurten, den Sohn des Grabenhäger Schmieds, wollte er aufsuchen.

Das war so gekommen: Meister Wurten hatte erfahren, daß der Gutsherr nach Berlin reise. Als der herrschaftliche Wagen schon vor der Tür hielt, kam Krischan Wurten angelaufen, rußig wie er war, von seinem Feuer weg, und bat, ob der gnädige Herr nicht mal in Berlin nachsehen könne, was mit seinem Sohne Fritz eigentlich los sei, der habe seit Monaten nichts mehr von sich hören lassen. Kriebow lachte über die naive Idee des Alten und meinte, was er sich eigentlich dächte! Berlin sei groß. – Der Meister zog betrübt ab. Die größte Stadt, die er in seinem Leben gesehen hatte, war die Kreisstadt, und da ihm die sehr imponiert hatte, meinte er, Berlin könne wohl auch nicht so sehr 351 viel größer sein, daß es allzuschwer sein sollte, seinen Sohn dort aufzufinden.

Als dann der Wagen aus Grabenhagen rollte, stand Krischan Wurten beim Ausgange des Dorfes am Wege und hielt etwas in die Luft. Vielleicht wäre Kriebow, dem das Haltenbleiben lästig war, vorübergefahren, wenn nicht Klara, die Bittstellerhaltung des alten Mannes bemerkend, gebeten hätte, halt zu machen.

Es geschah; der Meister gab einen Zettel ab, auf dem die Adresse seines Fritz in Berlin geschrieben stand. Obgleich Klara genug mit der Sorge um ihren Vater zu tun hatte, fand sie doch noch Zeit, Erich ans Herz zu legen, daß er den Gang tue und dem alten Manne die erwünschte Nachricht von seinem Sohne verschaffe.

Um Klärchens willen wollte Kriebow es tun. Denn an Fritz Wurten lag ihm nicht soviel, daß er die weite Fahrt in den äußersten Osten unternommen hätte.

So machte er sich denn eines Vormittags in einer Droschke auf den Weg.

Kriebow konnte sich nicht entsinnen, jemals in diesen Teil Berlins gekommen zu sein. Er kannte eigentlich nur den Westen mit seinen Prachtbauten, seinen glänzenden Schaufenstern, seinen gutgekleideten Menschen und eleganten Equipagen. Und nun hier diese grauen Straßenreihen mit ihren hohen, kahlen Häusern, die rasch vorbeischreitenden Leute im Arbeitsgewand mit ernsten Physiognomien. Die herbe Nüchternheit des Straßenbildes berührte sein verwöhntes Auge peinlich. Er fühlte sich fast wie beleidigt diesen Gassen, Häusern und Menschen gegenüber, die so wenig anmutig, freundlich und elegant dreinschauten.

Die Droschke hielt vor einer jener düsteren Mietskasernen. Das war ein ganzer Häuserkomplex. Wie 352 sollte man sich da zurechtfinden! Eingeschlossen von himmelhohen Brandmauern lagen da Höfe, Gartenhäuser, Lagerräume und Werkstätten. Nach längerem Suchen fand Kriebow endlich den Hausmann. Von einer Familie »Wurten« wußte der nichts; da er aber sah, daß er es mit einem feinen Herrn zu tun hatte, tat er ein übriges und ging mit Kriebow nach dem nahen Polizeibureau, wo der Aufenthalt des Schlossers »Friedrich Wurten aus Grabenhagen« festgestellt wurde. Er war umgezogen, wohnte aber nur einige Häuser weiter in der nächsten Straße.

Als Kriebow die vier Treppen erstiegen hatte, kam er auf einen langen Korridor, auf den, wie in einer Kaserne, Tür an Tür ausmündete. Er suchte sich durch die verschiedenen Namen durch; an einer der letzten Türen war mit Kreide »Wurten« angeschrieben. Er klopfte an und trat auf das »Herein« ins Zimmer.

Er fand die ganze Familie: Mann, Frau und Kinder, beisammen. Kaum daß Kriebow in dem bleichen, bärtigen Manne noch seinen Jugendgespielen wiedererkannte! Was für ein schmuckes Kerlchen war dieser Fritz gewesen, und hier lief er umher, ohne Hemdkragen und Weste, einen abgeschabten Überzieher über das unsaubere Hemd gezogen, in Filzschuhen, ohne Strümpfe. Recht wie ein verlodderter Tagedieb sah er aus. Die Frau schien sich etwas ordentlicher gehalten zu haben, wenigstens in ihrem Aufzuge; bleich und abgehärmt war auch sie. Zwei Kinder hielten sich in der Stube auf; aus dem Nebenraume hörte man das Weinen eines Säuglings. Ein unangenehmer Geruch erfüllte das Zimmer, das außer zum Wohnen, wie es den Anschein hatte, auch noch zum Kochen und Wäschetrocknen dienen mußte. Die herabgekommenen Menschen, 353 die elende Einrichtung, alles sprach dafür: hier herrschte die bitterste Not.

Kriebow nahm seine menschenfreundlichste Miene an, trat auf den Mann zu und bot ihm die Hand. »Guten Tag, Wurten! Kennt Ihr mich nicht mehr?« Der Mann sah ihn an und nannte den Namen.

»Ja natürlich, der bin ich! Ich komme von Grabenhagen. Ihr Vater läßt Sie grüßen. Was Sie machen, will er wissen, und warum Sie gar nicht mehr schreiben!«

»Hm – ja so, mein Alter!« brummte Wurten.

Die Frau hatte inzwischen einen Stuhl herangeschoben und bat, der gnädige Herr möge doch Platz nehmen. Die Kinder drängten sich neugierig heran und betrachteten sich den Fremden.

Kriebow hatte erwartet, daß Fritz Wurten hocherfreut und geehrt sein werde durch seinen Besuch, aber davon war dem Benehmen des Mannes nichts anzumerken. Mit mürrischem Gesichte stand er da, die Hände in den Taschen seines Rockes; auf Kriebows Fragen antwortete er in nachlässigem Tone. Schließlich trat er ans Fenster und blickte hinaus.

Es war wohl eine Art von Verlegenheit – anders konnte sich der Grabenhäger das nicht erklären –, der arme Kerl mochte sich seiner elenden Lage vor ihm schämen.

Um so mitteilsamer und zugänglicher war die Frau. Sie machte einen gutartigen, offenherzigen Eindruck. An ihr hatte Berlin noch nicht viel gemodelt; der Dialekt, den sie sprach, berührte das Ohr des Grabenhägers anheimelnd. Sie erkundigte sich nach ihren Bekannten und Verwandten in Grabenhagen; es war zu sehen: sie hing noch mit ihrem ganzen Herzen am Dorfe.

354 Von ihr erfuhr Kriebow die Schicksale der Familie. Im vorigen Frühjahr waren sie nach Berlin gekommen. Anfangs hatte Wurten leidlichen Verdienst gehabt. Bei größter Sparsamkeit konnte man bestehen. Dann um die Weihnachtszeit war in seinem Gewerbe Strike ausgebrochen. Wurten hatte sich beteiligt. Der Ausstand war für die Arbeiter ungünstig abgelaufen, Wurten sah sich entlassen, und die Strikekasse zahlte nichts mehr. Schon war ein Teil der Möbel und der Kleidungsstücke ins Leihhaus gewandert. Die Miete für den letzten Monat war man auch bereits schuldig geblieben, seit gestern borgte der Kaufmann nicht mehr; man saß da ohne Heizung und ohne Nahrungsmittel.

Kriebow hatte längst bei sich beschlossen, hier zu helfen. Krischan Wurten, der Vater, war alt, lange würde er die Schmiede nicht mehr behalten können; Fritz verstand sein Handwerk, das wurde allgemein anerkannt. Er konnte ja den Vater einstweilen unterstützen als Geselle, um später in seine Stelle einzurücken. Inzwischen würde er sich wohl auch Weisheit gekauft haben. Die bitteren Erfahrungen, die er mit der Fabrikarbeit gemacht, waren ganz gesund für ihn! Nun hatte er was von seinem Freiheitsdrang! stellenlos geworden, nichts zu beißen und zu brechen, das Mobiliar versetzt, Schulden! – Das war das Glück, das er gemacht hatte. Nun würde es wohl mit den großen Rosinen, die er erst im Kopfe gehabt, nicht mehr so schlimm sein. Er mußte überhaupt froh sein, wenn man ihn wieder in Gnaden aufnahm.

Kriebow machte den Leuten den Vorschlag, sie sollten nach Grabenhagen zurückkehren.

Die Frau war sofort dabei; sie habe noch keinen frohen Tag in der Stadt gehabt, gestand sie ganz offen. 355 Sie jubelte in der Aussicht, nun wieder ihre Kuh haben zu sollen, ihre Schweine und Gänse, ihre »Wurt« bei der Kate und ihre »Tüften« im Felde. Am meisten aber freute sie sich für die Kinder. Die würden ihr gänzlich verdorben in der Stadt; aus dem Kränkeln seien sie nicht herausgekommen, und allerhand häßliche Redensarten brächten sie von der Straße mit herein. Es sei ein Jammer! –

Während aber die Frau dem gnädigen Herrn nicht genug danken konnte und ihre Luftschlösser baute, sagte Wurten nichts. Als der Grabenhäger ihm dann näher auseinandersetzte, was er an Deputat beziehen solle, hatte er nur ein eigenartiges Lächeln; schließlich meinte er: das sei alles ganz schön und gut, aber er wolle gar nicht wieder in den Herrendienst zurückkehren.

Und Kriebow, der geglaubt hatte, jener werde mit beiden Händen zugreifen! – Er hatte absichtlich das Auskommen für Wurten nicht zu gering bemessen, denn es lag ihm nun wirklich etwas daran, diese Familie, die ihm die Großstadt entrissen hatte, wieder für sein Grabenhagen zu gewinnen.

Er sei wohl nicht ganz bei Troste, sagte er zu Wurten. Was er denn anfangen wolle ohne Stellung? Wovon er eigentlich leben wolle? –

Wurten erklärte mit einer Zuversichtlichkeit, die gegen seinen ärmlichen und herabgekommenen Aufzug merkwürdig abstach, es werde sich für ihn schon etwas finden, er habe auch noch Freunde, die sich im schlimmsten Falle seiner annehmen würden; er stehe nicht hilflos da und brauche nicht nach jedem Strohhalme zu greifen, den man ihm hinhalte.

Hier fiel ihm die Frau ins Wort. Vor Erregung zitternd warf sie ihm vor, er sei schuld an allem ihren 356 Elend. Erst habe er den Ausstand mitgemacht und nun anstatt Arbeit zu suchen, laufe er in Versammlungen. Seine Freunde, das seien Betrüger, denen habe er erst das sauer Verdiente an den Hals geworfen für ihre Kassen und jetzt, wo man in Not sei, bekomme man nichts zurück. Nun weise er gar noch das Anerbieten des gnädigen Herrn von der Hand! – Er wolle wohl, daß sie mit den Kindern Hungers stürbe . . .

Hier stockte sie, von krampfhaftem Weinen gepackt.

»Ihre Frau ist zehnmal vernünftiger als Sie, Wurten!« meinte Kriebow. »Es fällt mir natürlich gar nicht ein, mich Ihnen aufzudrängen. Aber Ihre arme Frau jammert mich. Sie sind dickköpfig, mein Lieber! Sagen Sie mir nur einen einzigen vernünftigen Grund, weshalb Sie hier nicht zugreifen wollen?«

»Das, Herr von Kriebow, würden Sie gar nicht verstehen,« sagte Wurten mit Achselzucken, »wenn ich's Ihnen auch erklären wollte.«

»Nun, Wurten, ich will Ihnen mal was sagen!« rief Kriebow, dem die Geduld riß, mit erhobener Stimme. »Ich habe es längst gemerkt, was Ihnen den Rücken steift. Ich weiß, welcher Partei Sie angehören – ich brauche sie nicht näher zu bezeichnen. Sie haben sich verführen lassen, sind verdorben hier in der Stadt. Traurig genug! Ein gedienter Soldat wie Sie, der des Königs Rock getragen hat! – Und Ihr alter Vater, der solch ein braver, treuer Mann ist. Schämen Sie sich, so herunterzukommen in der Gesinnung!«

»O wat dat gaud is, dat hei dat mal tau hüren kriegt,« rief die Frau. »All dat heff ick em ook all seggt. Wur oft heff ick em dat all seggt: hei möt sick äberall nich mit de schlechte Kirls inlaten, – aber hei hett ja nich hüren wullt.«

357 »Halt's Maul, Frau! Was verstehst du davon!« herrschte er sie an. Dann wandte er sich an Kriebow.

»Ich schäme mich meiner Partei nicht, Herr von Kriebow! Ne, das brauchen Sie nich zu denken! Ne, verstecken tun wir uns nich! Es mag ja von Ihnen vielleicht ganz gut gemeint sein, aber ich will meine Freiheit nich verkaufen. Weshalb ich nich wieder nach Grabenhagen zurückgehe, das werde ich Ihnen ganz offen sagen: Erstens mal is da mein Vater, der hat von nichts ne Ahnung – in der Politik, verstehen Sie! – das ist ja schließlich auch nicht zu verlangen von solch altem Manne, daß der mit der Zeit fortschreitet; ich wußte 's ja früher auch nich besser – – aber, Sehen Sie, Streit möchte ich auch nich mit ihm haben, 's is nun mal mein Alter. – Und dann – ne, ich mag überhaupt nich aufs Dorf zurück. Ich kenne den Rummel, ich weiß, wie's auf den Rittergütern zugeht; das ist ja die weiße Sklaverei. Sie und Ihresgleichen wundern sich, daß wir weglaufen, da sind sie ganz allein selbst dran schuld, die Herren. Da soll man wählen, wie der gnädige Herr will, da soll man lesen, was der gnädige Herr erlaubt, da muß man das Maul halten zu der Unterdrückung des Volkes, da soll man sich ducken unter das Regiment des Herrn Inspektors – nein, dazu sind die Zeiten zu fortgeschritten, dafür sind wir selbständige Männer. Das ist ja ärger als in Rußland! Dazu ist man sich zu gut! Man hat zuviel Ehrgefühl, um sich behandeln zu lassen wie das liebe Vieh.«

Er hatte sich in immer heftigere Erregung hineingeredet. Ungekämmt und ungewaschen, wie er war, mit bloßem Halse, in seinem zerschlissenen Überzieher, stand er vor Kriebow und deklamierte stark gestikulierend, mit 358 glühenden Augen und heiserer Stimme, im giftigen Pathos des Fanatikers, Phrasen, die er in Volksversammlungen aufgelesen hatte.

Kriebow sah ein, hier war nichts zu machen. »Wenn das allerdings so steht mit Ihnen, Wurten,« sagte er und erhob sich, »dann reut mich mein Vorschlag, dann kann man Sie eben nur Ihrem Unverstand überlassen.«

Er ging zu der Frau und reichte ihr die Hand. Sie klammerte sich an ihn an und jammerte: »Ach Gott, leiw' gnä' Herr! Verlaten Se uns doch blos nich! Wat sälen wi anfangen! Wi möten hier ja vör de Hund gahn! Verlaten Se uns doch bloß nich!«

Sie wollte Kriebow folgen, aber der Mann riß sie weg. »Schäm dich, Frau! Gebettelt wird nich! Wegwerfen, das haben wir nicht nötig!« –

 


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