Wilhelm von Polenz
Der Grabenhäger
Wilhelm von Polenz

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XIII.

Weihnachten stand vor der Tür. Manches Jahr war es her, seit Erich von Kriebow das Fest zum letzten Male im Grabenhäger Hause gefeiert hatte. Fast hatte er es verlernt, sich auf den Lichterbaum zu freuen.

Für Klara war es das erste Weihnachten fern von der Heimat. Zahlreiche Briefe und Pakete waren in den letzten Wochen zwischen Grabenhagen und Burgwerda hin und her gegangen.

Es war ausgemacht worden zwischen den beiden, daß Erich sich um nichts zu bekümmern habe; er hatte 241 sich überraschen zu lassen. Er mußte sich in sein Schicksal finden, abends oft allein zu sitzen, während Klärchen im Zimmer nebenan eine geheimnisvolle Tätigkeit entfaltete.

Klara wollte den sämtlichen Dienstboten, dem Gesinde und den Tagelöhnern bescheren. Erich war dagegen. Heilmann hatte ihm nachgewiesen, daß in Grabenhagen nie etwas dergleichen stattgefunden habe. Der selige Landesdirektor war solchen Dingen abhold gewesen; das verwöhne die Leute nur und steigere ihre Ansprüche, hätte er gemeint. Aber Klärchen erklärte, als Erich ihr das vorhielt, gerade weil die Leute so lange die Weihnachtsfeier entbehrt hätten, habe man die Pflicht, sie ihnen nun zu schaffen. Und als der junge Gutsherr darauf hinwies, daß die Sache, wenn sie nur einigermaßen anständig ausfallen solle, höllisch ins Geld laufen werde, erklärte die Hausfrau mit einem bedeutungsvollen Lächeln, daß er weder Arbeit noch Ausgaben davon haben solle. Erich drang in sie, ihm zu sagen, wie sie das machen wolle; aber es war nichts weiter aus ihr herauszubekommen.

In den letzten Tagen vor dem Feste steckte Klara viel mit der Pastorin zusammen. Tannenbäume wurden herangeschleift, der Backofen rauchte, in der Küche war rege Tätigkeit. Äpfel und Nüsse wurden in Körben herbeigeholt. Schüsseln mit Pfeffernüssen und Zuckersachen standen umher, Lichttüllen, Kerzen, Silber- und Goldflitter. Kleine und große Tiere und alle Gestirne des Himmels waren da in Teig zu sehen.

Erich spottete über soviel »Kram« und prophezeite, daß Klara noch ein Haar in der Sache finden werde; nichts als Undank und Ärgernis werde sie ernten. Aber sie ließ sich die Laune nicht im geringsten verderben; er 242 bekam zu hören, daß er davon nichts verstehe und daß es ihn überhaupt nichts angehe.

Wenn Klara und die Pfarrersfrau zusammen waren, dann ging es immer lustig zu. Man sah es dieser kleinen rundlichen Pastorin mit ihrem verlegenen Erröten gar nicht an, welch ein Schalk in ihr steckte. Im ausgelassenen Lachen wetteiferten die beiden jungen Frauen miteinander. Wenn sie im Nebenzimmer waren und sich unbeobachtet glaubten bei ihren Geschäften, hörte Kriebow die Mäulchen in einem fort gehen; und es waren stets die harmlosesten Dinge der Welt, die sie sich erzählten.

Man mußte dieser Pastorin gut sein. Sie war von jener heiteren Laune, die auch andere ansteckt. Es wurde ihr geradezu schwer, gleich anderen Leuten zu sprechen; viel lieber hätte sie offenbar gesungen, um ihren Gedanken Ausdruck zu geben. Die Füße wollten nur ungern Schritt für Schritt gehen; für ihren Gang war es charakteristisch, daß sie von Zeit zu Zeit einen Hopser einschob – nur einen kleinen. – Dann fiel es ihr wohl ein, daß sie die Frau Pastorin sei, und das Bewußtsein dieser Würde bändigte ihr Temperament wieder für eine kurze Weile.

Sie ging einher wie auf Rosen, und dabei war ihr Weg gelegentlich recht dicht mit Dornen besät gewesen. Sie hatte tapfer mit gehungert, als ihr Pastor seiner Stelle entsetzt war und von dem Ertrage seiner Feder kümmerlich leben mußte. Auch jetzt waren ihre Verhältnisse keine glänzenden. Im Pfarrhause war Schmalhans Küchenmeister. Dabei gediehen die Kinder; es war ein Wunder, wovon!

Ohne den Sonnenschein der guten Laune, der von dieser Frau ausging, wäre Grützinger wohl nicht der 243 geworden, der er war. In jener schrecklichen Zeit der Arbeitslosigkeit, wo ihm die Möglichkeit verschlossen, seine Gaben und Kräfte für den einmal erkannten Lebenszweck einzusetzen, war er drauf und dran, sich dem Teufel der Unzufriedenheit zu verschreiben. Da war es seine kleine beherzte Frau gewesen, die ihn bewahrt hatte vor Verbitterung. Es war kein Scherz, sondern der Ausdruck tiefempfundener Dankbarkeit, wenn er sie seinen »Christengel« nannte. Ihre Heiterkeit war das Licht gewesen, das die Nacht seiner düstersten Lebensperiode aufgehellt hatte.

Klara hatte sich innerlich längst mit Grützinger ausgesöhnt. Es lag nicht in ihrer Natur, nachzutragen. Wenn seine Schroffheit sie auch tief verletzt hatte, so mußte sie sich doch sagen, daß er es nur ehrlich gemeint habe. Roh war er nicht, wie sie ihm erst wohl vorgeworfen hatte; es war nur Eifer, der ihn über das Ziel hinausschießen machte. Man mußte ihm seine Rauheit zugute halten, da er sich selbst ebensowenig schonte wie andere. Stets war er im Berufe. Traf man ihn, dann hatte er nur ein kurzes Wort, kaum einen Gruß, als sei seine Zeit zu kostbar, um sie mit dem Austausche von Höflichkeiten zu vertrödeln.

Klara hatte den Geistlichen gebeten, ihre Feier durch eine Ansprache zu weihen. Grützinger hatte zugesagt.

Der Tag war nun da. In der geräumigen Hausflur war ein Tisch aufgeschlagen, auf welchem die Gaben ausgebreitet lagen. In den vier Ecken des Raumes standen Christbäume.

Erich hielt Wort; er kümmerte sich um nichts. Klärchen durfte schalten und walten, als habe er nicht das geringste in Grabenhagen zu befehlen. Die wunderlichsten Dinge gingen vor sich, alles sollte, wie's schien, 244 auf den Kopf gestellt werden. Das Harmonium wurde aus dem Salon in den Küchengang geschafft. Die Türen der an die Hausflur anstoßenden Räume wurden ausgehängt. Klärchen wollte wohl gar das Parkett des Eßzimmers dem unsauberen Schuhwerk der Dorfleute preisgeben? – In scheinbarem Chaos lagen auf den Tischen Eßwaren umher, Kleiderstoffe, Strümpfe, Bücher und Kalender, zwischen Haufen von Äpfeln, Nüssen und Pfefferkuchen, neben Reis, Zucker und Kaffee. Klara und die Frau Pastorin gingen auf und ab und steckten weiße Zettel an die einzelnen Gaben, damit jede Person ersehen konnte, was ihr als »Kind Jes« zugedacht war.

Die Dimensionen, welche die Sache angenommen, machten Erich bedenklich. Er rief Klara beiseite, wollte wissen, auf wessen Kosten alles das gehe? ob sie die Ware etwa auf Kredit genommen habe? – Sie lachte ihn tüchtig aus wegen seiner Sorgen und erklärte ihm dann das Geheimnis: soviel hatte sie gespart von dem, was er ihr als Wirtschaftsgeld gab.

Dann nahm sie ihn bei der Hand und führte ihn an den Tisch. Ob er sich denn nicht auch freue? Es sei doch wunderschön! Viel komme ja nicht auf den einzelnen bei der Menge von Menschen, die zu bedenken gewesen; aber ausgelassen sei niemand. Sie begann ihm die Plätze der einzelnen zu zeigen und die Geschenke zu erklären.

An einem Ende des Tisches befand sich die Bescherung der Dienstboten. Hier hatten Klaras Mittel nicht gereicht, wie sie offen zugestand. Erich griff in die Tasche und glich, was fehlte, reichlich aus.

Frau Kruke hatte auf ihrem Platze ein Kleid liegen; Klara meinte, es solle ein »Pflaster« sein. Die 245 Wirtschafterin konnte es ihr ja immer noch nicht verzeihen, daß sie sich herausnahm, als Hausfrau selbst die Wirtschaft zu leiten. Die Mädchen waren mit Schürzen bedacht; Dürten Kaubeuke, Klaras besonderer Schützling, fand darüber noch ein Buch mit einem von der Herrin selbst eingeschriebenen Spruch. Auch die Männer waren nicht vergessen. Der Kutscher wurde mit Vorhemden beschenkt und Stulpen. Franz aber war ja nun wieder Erichs Verzug. Es fiel dem Hausherrn ein, daß er noch ein Kistchen Zigarren übrig habe, die holte er herbei und stellte sie für Franz hin; auch ihn hatte die Lust am Freudemachen angesteckt.

Und während Hausherr und Hausfrau um den Tisch schritten, prüfend, ausgleichend und hie und da noch einem kärglich Bedachten etwas zuschiebend, füllten sich allmählich die Räume.

Zuerst kam der alte Klinguth. Klara hatte ihn gebeten, die Begleitung zum Gesang zu übernehmen. Er mußte, so gut es gehen wollte, seine langen Gliedmaßen an Klaras zierlichem Harmonium unterbringen. Einige taktfeste Sänger aus seiner Schülerzahl hatte er sich mitgebracht. Ein Lied als Einleitung und eines nach der Rede des Pfarrers, so einigte man sich mit den Sängern.

Die Dorfleute kamen familienweise herein. Staunend, mit offenem Munde, starrten die Kinder in die ungewohnte Helle der Kerzen. Ernst, beinahe mürrisch blickten die Männer drein. Steif und hölzern standen sie da, kaum zu bewegen, an ihre Plätze zu treten. Noch wußte man nicht recht, was mit sich anfangen, wie diese Neuerung aufnehmen! –

Die ersten, die sich hineinfanden, waren die Frauen. Man fing schüchtern an, sein »Kind Jes« zu begucken, 246 zu befühlen, es sich gegenseitig zu zeigen. Dann unterbrach hie und da ein heller Jubelruf aus Kindesmunde das halblaute Flüstern, den Bann lösend. Mehr und mehr heiterten sich die Mienen auch der Erwachsenen auf. Die Mutter stieß den Vater an: »Kiek mal, Olling! dor is ne Jop för di. De wadd di gaud dhon bi de kolle Tid.«

»Süh, de bunte Jochen! Dat 's wat för'n Sündag!«

»Kinner un Lüd! Ik heff en Por nige Bücksen kregen!«

So ging's durch die Reihen.

Nun kam der Geistliche. Er war im Talar, wie Klara es erbeten hatte. Er begrüßte erst die Wirte, dann suchte er sich einen Platz aus, auf den untersten Treppenstufen, von wo aus er die Versammlung beherrschen konnte. Auf sein Zeichen begann der Küster; er spielte erst die Melodie vor, dann intonierte der Kinder Chor. Ein und die andere sangeskundige Seele unter den Erwachsenen fiel ein, manch einer, der anfangs widerstrebt hatte, wurde fortgerissen und brummte mit. Allmählich ertönte es in vollen Akkorden durch das Haus: »Heilige Nacht, stille Nacht!«

Pastor Grützinger überblickte die Versammlung. Für ihn hatte der Abend eine besondere Bedeutung: bisher hatte er im Kampfe mit dem Indifferentismus seiner Gemeinde völlig allein gestanden; und nun war ihm über Nacht eine Hilfskraft erwachsen, da, wo er sie am wenigsten erwartet.

Weihnachten! Gab es eine bessere Gelegenheit, auf die erstorbenen, erstarrten, verdunkelten Gemüter einzuwirken, als dieses Fest des Lichtes und der Wärme mitten in kalter Winternacht! – Wie schmerzlich hatte er in den drei Jahren, die er nun in Grabenhagen war, 247 die Möglichkeit vermißt, das Christfest mit einer würdigen Feier zu begehen. Und nun war da diese junge Gutsherrin gekommen und erfüllte ihm den Wunsch ganz aus eigenstem Entschlusse, ohne daß er ein Wort darüber zu ihr gesprochen hätte, und in einer Weise, wie sie nicht sinniger gedacht werden konnte: prunklos, in schlichter und doch eindringlicher Feierlichkeit.

Grützinger hatte die glückliche Gabe, sprechen zu können, ohne sich an Memoriertes halten zu müssen. Am liebsten ließ er sich von der Eingebung des Augenblicks leiten. Heute, das fühlte er schon, würde er seinen Tag haben. Denn die Stimmung war da, das starke Gefühl innerer Ergriffenheit, das sich bei dem mit Beredsamkeit Begnadeten in hinreißenden Worten auslöst.

Er knüpfte an das Licht an, das, wie es hier die Dunkelheit durchdringe, einstmals die Nacht, in der eine ganze Welt begraben lag, zum Tag gewandelt habe. Mit einfachen, auf das Verständnis seiner Zuhörerschaft berechneten Worten gab er ein Bild von jenem Weltereignis zu Bethlehem im jüdischen Lande.

Er sah, wie die alte, ewig neue Kunde von der Geburt des Erlösers auch hier die Gemüter in der Tiefe ergriff. Da war der alte silberhaarige Schmied Krischan Wurten, den in der Kirche gesehen zu haben sich niemand in Grabenhagen entsinnen konnte; heute war er erschienen. Kaum erkannte man ihn wieder; denn er hatte sich zu dieser Gelegenheit einmal gründlich von dem Ruß gereinigt, der für gewöhnlich wie eine zweite Haut auf ihm lag. – Der Mann blickte drein, betroffen, wie einer, an dessen Ohr eine Mär aus frühester Jugendzeit klingt. Und so standen andere, mit leuchtenden Augen, angestrahlt von dem Lichte eines fernen Gestirns, erfaßt und aufgelockert nach langem Brachliegen durch 248 die Wahrhaftigkeit jener alten Legende von der menschgewordenen Gottheit.

Der Redner sah, daß er die Gemüter hatte. Er fühlte die unsichtbaren Kräfte, die er ihnen mitgeteilt, verstärkt in die eigene Seele zurückkehren. Gewiß, er hatte Samen ausgestreut heute abend! Die Begeisterung, die hier aus manchem Angesichte sprach, war kein bloßer Rausch.

Aber noch höher wollte er die Herzen schlagen machen.

Er sprach von der ewigen Liebe, die sich in der Tat darstellt. Der Heiland in der Krippe, der Gottessohn Knechtsgestalt annehmend, um die Menschheit retten zu können. Damit war die Welt erlöst vom Fluche. In diesem Kindlein war der Menschheit alles gegeben, was sie brauchte zur Neuwerdung.

Auch für sie alle war diese Tat geschehen, und auch für sie solle von dieser hellen Nacht mitten im Winter die Erneuerung beginnen. Hier stünden sie: Herrschaft und Dienerschaft, alle Stände, jedes Alter, jedes Geschlecht, eine Gemeinde, geeint durch den Geist der Gerechtigkeit, den Jesus Christus in die Welt gebracht. Wenn sie alle auf diesem Grunde stünden, dann könne es nicht Haß, Eifersucht und Neid, keinen Gegensatz mehr geben zwischen ihnen. Von dieser Christnacht solle ein neuer Geist ausgehen, der der Versöhnung; damit wolle er schließen, das solle ihre Erneuerung sein. –

Noch einmal intonierte der Küster, und das Weihnachtslied erklang. Damit war die Feier beendet.

Während die Frauen ihre Gaben sorgfältig in Tücher einsackten, standen Erich und Klara bei dem Pastor. Klara hatte dem Geistlichen mit Handschlag und Blick gedankt, sie sagte ihm nichts weiter. Wenn 249 es mit ihm noch einer Aussöhnung bedurft hatte, so war sie jetzt vollzogen.

Auch Kriebow war mit dem Verlaufe zufrieden. Es hatte ihn doch auch gepackt. Freundlicher als sonst sprach er mit dem Pastor. Wer weiß, mit dem Manne war am Ende doch noch zu leben! –

* * *

Als Klara die beiden in lebhafter Unterhaltung sah, entfernte sie sich unbemerkt. Sie hatte noch Überraschungen vorzubereiten. Da war die Frau Pastorin; die sollte auch ihren »Julklapp« haben heut abend. Sie begab sich nach den Wirtschaftsräumen, eines der Mädchen zu suchen, die ihr das besorgen sollte. Geschickt mußte es gemacht werden, daß die Bedachte nicht merke, wer der Spender sei. Sie schärfte dem Boten ein, zu erspähen, in welchem Zimmer die Familie versammelt sei, einen Spalt zu öffnen und das Paket hineinzuwerfen mit all den Sachen; dann schnell und möglichst ungesehen fort! –

Auf dem Rückwege nach den vorderen Räumen kam Klara an dem Mädchenzimmer vorüber, dessen Tür offen stand. Sie sah dort eine Gruppe von Frauen beisammenstehen. Klara vermied es, soviel wie möglich, sich um Dienstbotenangelegenheiten zu kümmern; aber ein Stöhnen veranlaßte sie, Halt zu machen und heranzutreten. Was gab's denn hier, war ein Unglück geschehen? –

Sie fand Dürten am Tisch sitzend, den Kopf auf den Arm gepreßt. Das Mädchen weinte leise vor sich hin.

»Was ist dir?« fragte Klara.

Aber aus Dürten war nichts herauszubekommen; 250 nur ihr Weinen wurde lauter, je mehr die Herrin in sie drang.

Nun wandte sich Klara an die anderen im Zimmer anwesenden Frauenspersonen; die sahen sich verdutzt an. Erst auf Klaras wiederholtes Fragen antwortete eine: man habe Dürten hier so gefunden; was ihr sei, wisse niemand.

»Ruft Frau Kruke!« befahl Klara. Dann beugte sie sich über Dürten und fragte sie aus, wo es ihr fehle. Das Mädchen hielt den Kopf verborgen und schluchzte heftiger.

Frau Kruke erschien. Die Wirtschafterin zuckte mit den Achseln und sagte: Sie habe es längst erwartet, daß es so kommen werde. Aber die gnädige Frau habe ja durchaus das Mädel ins Haus haben müssen! Sie, Frau Kruke, sei nicht gefragt worden. Na, und wie solche Hofegängerinnen es trieben, das wisse man ja! Ohne Liebschaft ginge es da nicht ab – und dann – na ja! Das hier seien eben die Folgen.

Klara bedeckte unwillkürlich die Augen mit der Hand. Scham und Betrübnis überkamen sie übermächtig, sie mußte sich setzen. Die Knie zitterten ihr, sie empfand das Bedürfnis, zu weinen.

Frau Kruke fuhr inzwischen unbeirrt in ihren Enthüllungen fort. Sie triumphierte. Nun sah die gnädige Frau doch mal, wie unerfahren sie noch war; hier wurde sie recht mit der Nase darauf gestoßen.

Eine Botin kam und richtete aus: der gnädige Herr lasse fragen, wo die gnädige Frau bleibe.

Das veranlaßte die junge Frau, sich aufzuraffen. Erich war ja auch noch da, und heute war Weihnachtsabend! – Jetzt Bescherung? – Unmöglich in dieser Stimmung!

251 Sie eilte zu ihm hinauf.

»Liebling! Wo bleibst du denn nur?« rief er ihr entgegen.

Eines der Mädchen bedürfe ihrer, sagte sie ihm; er müsse verzeihen, aber sie könne jetzt unmöglich bei ihm bleiben.

Ob denn das so gefährlich sei mit der Person? meinte Erich; die habe sich wohl an den guten Weihnachtsdingen den Magen verdorben? – Aber Klara war nicht geneigt, auf seinen scherzenden Ton einzugehen: es sei ihre Pflicht, für die Kranke zu sorgen. Er sagte, das könne sie am Ende den anderen überlassen; den heiligen Abend dürfe man sich doch nicht durch solch eine Lappalie stören lassen. Dabei wollte er ihr die Wange liebkosen. Sie stieß seine Hand fort.

Er sah sie befremdet an; was war denn mit ihr? Sie sah ganz verstört aus, war gänzlich außer Fassung. So kannte er sie gar nicht. Ob er vielleicht die Bescherung allein feiern solle? fragte er, auch eine schärfere Tonart anschlagend, da er sie so unfreundlich sah. Alles das müsse einstweilen unterbleiben, erwiderte sie und ging eilig von ihm.

Das waren schöne Aussichten für den Abend! In verdüsterter Laune ging er nach seinem Zimmer. Nun war er also wieder einmal Junggeselle! –

Der Ärger schnürte ihm den Hals zu. Da half nur eins: rauchen!

Er zündete sich seine Pfeife an und warf sich in den Sorgenstuhl. Das hätte er ebensogut, oder noch besser, in Berlin haben können, einen solchen Weihnachtsabend: im Klub oder bei Mira Pantin, wo er früher das Christfest verbracht hatte. Amüsant war es da 252 gewesen! Und heute? – Das war also die vielgerühmte Behaglichkeit des Familienlebens! – –

Er paffte und paffte, bis er in eine weißliche Wolke eingehüllt saß. Aber den Ärger wurde er nicht los. – Was für eine verrückte Idee, jetzt das Mädel zu pflegen! – Eine Marotte, weiter nichts! – Weiblicher Eigensinn, womöglich die bewußte Absicht, ihm zu opponieren. Sollte er sich das gefallen lassen? Das Richtige wäre gewesen, ihr mal zu zeigen, wer Herr im Hause sei, sie heraufzuholen. Das Recht dazu hatte er unbedingt.

So saß er und wühlte sich in eine dumpfe Wut hinein. Mit verzweifelter Wollust suchte er alles vor, was ihm das Unrecht, das ihm geschah, bestätigen konnte.

Dann malte er sich aus, wie er ihr begegnen wolle, wenn sie heraufkäme. Wenn sie dann etwa noch von Weihnachtsbescherung anfangen würde, dann wollte er ihr die Beleidigung vergelten. Kalt wollte er sein, hart, schneidend hart! Sie sollte weinen, er wollte sie weinen sehen; denn er bildete sich ein, sie zu hassen.

Dabei schwoll im geheimen die Verzweiflung an in seiner Seele. Daß so etwas möglich war! – Mit geschärften Sinnen lauschte er nach dem Vorzimmer hin, ob sie nicht doch endlich komme. Schritte ertönten auf der Treppe; schon klopfte sein Herz erwartungsvoll, aber es war nur Kruke, der nach dem Ofen sehen kam.

Als alter Diener, der im Hause gewesen zu Zeiten, wo der jetzige Grabenhäger Herr noch in kurzen Höschen umhergelaufen war, nahm sich Kruke gelegentlich die Freiheit, zu reden, auch wenn er nicht gefragt. Kriebow ließ ihm das durch, wenn es auch nicht ganz korrekt war.

Der Alte hatte ein eigenartiges, kurzes Lachen, als 253 er jetzt, an der Tür stehen bleibend, meinte: unten gehe es heute zum Christabend lustig zu.

Der gnädige Herr wisse wohl noch gar nicht? –

Nein, zum Teufel, was sollte er denn wissen!

Ein verschmitztes Lächeln glitt über Krukes bartloses Bedientengesicht. Er kam ein paar Schritt näher an den Herrn heran und begann in vertraulichem Tone halblaut zu berichten, was er wußte.

Kriebow war aufs höchste überrascht. Dürten Kaubeuke, die Hofegängerin, aus der Klara hatte eine Jungfer machen wollen! – War denn das nicht dieselbe, die er neulich im Tete-a-tete getroffen hatte mit einem männlichen Wesen? Natürlich! Jetzt fiel ihm alles ein. Die hübsche Blondine war's, mit dem sittsamen Augenniederschlag. –

Seine Neugier war nun doch rege geworden, er fragte Kruke, wer der Liebhaber des Mädchens sei; wußte man das?

Der alte Diener kicherte in sich hinein, sah sich im Zimmer um, als wolle er sich erst vergewissern, daß ihn niemand höre, dann nannte er den Namen mit gedämpfter Stimme.

»Franz!«

Kriebow fuhr in seinem Stuhle empor. Wie, Franz? – dieser Lump! Schon in Berlin hatte der Schwerenöter ihm allerhand Fahrten gemacht. Und damals war es doch etwas ganz anderes, damals, wo sein Herr selbst noch unverheiratet war. – Aber jetzt, hier in Grabenhagen! – Er hätte doch wenigstens so viel Rücksicht haben können, das Herrenhaus zu verschonen.

Der Kerl war ein infamer Lump! –

Aber Kruke nahm den Kutscher in Schutz. Franz 254 sei unschuldig, er könne gar nicht dafür, das Mädel sei ihm nachgelaufen.

Kriebow mußte laut auflachen. Franz, als verfolgte Unschuld hingestellt! So schlimm würde's wohl nicht sein, meinte er. – Aber Kruke blieb dabei. Franz sei ein hübscher Kerl, dazu herrschaftlicher Kutscher mit auskömmlichem Gehalt. Das Mädel wollte einfach von ihm geheiratet werden. So machten sie es ja alle! –

Der Gutsherr bezweifelte jetzt nicht mehr, daß Krukes Darstellung zutreffe.

Und Klärchen, die sich einbildete, an Dürten Kaubeuke ein Juwel von Tugend zu besitzen! Wenn sie das geahnt hätte! –

Sollte man Franzen deshalb wegschicken? So schlimm war doch die Sache schließlich nicht! Wenn man einen so strengen Maßstab hätte anlegen wollen, dann würde man wohl schwerlich überhaupt noch einen männlichen Dienstboten haben halten können. Nein, wegschicken wollte er seinen Franz nicht! Der war ein Pferdewärter, wie er seinesgleichen suchte, und auf dem Bock sah er immer gut aus, vom Servieren verstand er auch was; kurz, Franz war brauchbar.

Aber heiraten mußte der Kerl! Dann würde vielleicht endlich einmal Ruhe werden mit den ewigen Liebschaften! –

Er war mit dem Gedanken zufrieden: ein verheirateter Kutscher! Das hatte einen soliden Anstrich. Gleichzeitig wurde damit der Gerechtigkeit Genüge getan dem Mädchen gegenüber. Er selbst wollte die Sache in die Hand nehmen, dem Burschen vorstellen, daß ein anständiger Kerl ein Mädchen nicht sitzen lasse mit einem Kinde. Franz würde ein Einsehen haben und heiraten, vor allem, wenn davon sein Bleiben in 255 Grabenhagen abhängig gemacht würde. Damit war der Skandal aus der Welt geschafft.

Und was ferner von Wichtigkeit war: man hatte den Leuten ein gutes Beispiel gegeben. Das war man sich und seiner Autorität als Gutsherr schuldig. Den Anstand wahren, darin lag das Übergewicht, das man über die Leute hatte.

Nachdem er Kruke entlassen, ging der junge Gutsherr mit verschränkten Armen im Zimmer auf und ab, in wesentlich besserer Laune als zuvor.

* * *

Als Klara in das Mädchenzimmer trat, fand sie dort abermals einen ganzen Trupp weiblicher Wesen versammelt. Sie schickte alle hinaus, blieb mit Dürten allein.

Die junge Frau ließ sich neben dem Lager nieder. Das Mädchen hatte, sowie sie die Herrin eintreten sah, den Kopf in die Kissen versteckt.

Beide schwiegen. Klara sann nach. Die Erfahrung war zu herb; wie ein Schlag ins Gesicht hatte das gewirkt. Es war mehr als Empörung, daß sie so hintergangen worden war von einem Wesen, welches sie emporgehoben hatte aus seiner Niedrigkeit; es war ein dumpfes Entsetzen, ein innerstes Erbeben, das sie erfaßte und sie verzagt und ratlos stehen ließ vor dem Unerhörten.

Daß so etwas geschehen konnte! – Daß es sein durfte! – Wenn sich ihr jemals bisher die Ahnung von solchen Dingen aufdrängen wollte, dann hatte sie sich abgeschlossen, hatte das Nachdenken darüber weit von sich gewiesen. Und an dieser Verschämtheit ihrer Seele hatte die Ehe nichts zu wandeln vermocht.

Nun traf sie mit einem Male dieses Erlebnis, 256 gänzlich unvorbereitet. In krasser Brutalität stand ihr hier eine Tatsache gegenüber, der sie sich nicht verschließen konnte und durfte. Noch einmal wollte sich ihre spröde Schamhaftigkeit aufbäumen gegen die Häßlichkeit dieser Erfahrung. Der Ekel vor dem Schmutz, der instinktive Abscheu gegen das Gemeine und Rohe, die ästhetische Entrüstung der feinen Dame, neben der moralischen des reinen Weibes, drohten die Oberhand zu gewinnen in ihrem Empfinden. – Aus den Augen solch eine Person, die sich so vergessen konnte! –

Da aber sah sie von diesem elenden Wesen, das hilflos vor ihr lag, einen Blick voll Verzweiflung und Furcht. Durch diesen Blick verstand Klara das, was tausend Worte ihr nicht hätten sagen können, daß sie eine Schwester vor sich habe. Ekel war etwas Leichtes, viel zu Leichtes einem solchen Unglück gegenüber. Denn es war ein Unglück, das nicht dieses Mädchen allein betraf, welches hier lag in seiner Schande und sie kläglich anschaute wie ein verwundetes Wild: es war ein Unglück, das weit über den Einzelfall hinaus ihr ganzes Geschlecht anging.

Hier den Stab brechen, einfach den Rücken wenden, die Gefallene ausstoßen wäre Selbstgerechtigkeit, wäre Feigheit gewesen. Es galt, sich zu überwinden, um der Arbeit willen, die hier zu tun war.

Erst mußte dem Mädchen die Furcht genommen werden. Klara redete ihr darum in freundlichem Tone zu. Sie hütete sich wohl, Fragen zu stellen. Das Schuldbekenntnis lag ja in den Augen der Person, warum sie noch mit Ausforschung martern! Ein Blick, eine Handbewegung genügte, um jener zu sagen, daß ihr verziehen sei.

Klara sann nach, was weiter geschehen solle. In 257 ihren Diensten bleiben konnte das Mädchen ja nun nicht länger; aber gesorgt mußte für sie werden. Zur Mutter zurück! Das war wohl schließlich das einzig mögliche. Klara wollte am nächsten Morgen selbst zu Frau Kaubeuke gehen, ihr schonend mitteilen, wie es um die Tochter stünde, und sie bitten, ihr den Fehltritt nicht entgelten zu lassen. Der Gang würde ja nicht leicht sein. Aber Klara sah ihn als Pflicht an. Sie hatte das Kind damals von der Mutter erbeten; nun mußte sie es ihr auch zurückbringen. Und sollte die Mutter ihr etwa Vorwürfe machen, daß ihr Dürten schlecht gehütet worden sei im Herrenhause, dann mußte auch das hingenommen werden. Die junge Frau machte sich diesen Vorwurf ja im stillen selbst. –

Klara fragte das Mädchen, ob sie zu ihrer Mutter zurückkehren wolle. Dürten nickte mit dem Kopfe.

Das schien die beste Lösung! Während der Nacht sollte Dürten noch ruhig im Herrenhause bleiben. Mit dieser Zusicherung verließ die Herrin das Mädchen.

Als Klara auf dem Wege nach dem Vorderhause an der Leuteküche vorbeikam, hörte sie wüstes Gelächter und Stimmendurcheinander.

Es war ja heiliger Abend! – Einen Augenblick blieb sie stehen, überlegend, ob sie das Lärmen verbieten solle.

Während sie noch unschlüssig stand, wurde es stiller da drinnen. Eine einzelne Stimme war zu vernehmen. Klara konnte die Worte verstehen; sie bezogen sich auf Dürtens Zustand und waren namenlos roh. Dann erneutes Gelächter, weibliches Gekicher dazwischen.

Klara floh, als sei ein Gespenst hinter ihr drein, und kam erst zu Atem, als sie im Vorsaal des ersten Stockes stand.

258 Am liebsten wäre sie jetzt sofort auf ihr Zimmer gegangen, hätte sich dort eingeschlossen. Allein sein, um Gottes willen, ganz allein! Nur jetzt niemanden sehen, niemandem Rede und Antwort stehen müssen! –

Auch Erich konnte ihr hier nichts helfen. Es graute ihr geradezu davor, jetzt mit ihm zusammenzusein; denn er würde von ihr Näheres wissen wollen. Und davon zu sprechen? – Mit einer Frau allenfalls; mit einem Manne – nein! Über solche Dinge konnte man im Innersten trauern, aber schweigend, ohne Aufsehen.

Erich hatte sie auf der Treppe gehört. Er kam aus seinem Zimmer und rief nach ihr.

Nun gab es keine Wahl für sie. Unmöglich konnte sie ihm den Wunsch abschlagen, den Rest des Abends gemeinsam zu verleben.

Sie folgte ihm also in gedrückter Stimmung. Er merkte gar nicht, wie ihr zumute war, umarmte sie herzhaft und sprach seine Freude aus, sie endlich zu haben.

Was sie gefürchtet hatte, trat ein: er überfiel sie mit Fragen; wohl oder übel mußte sie ihm erzählen, was sie erlebt. Aber daß er nun auch noch nach Einzelheiten forschte! –

Wie ihr das widerlich war!

»Ich werde ihn veranlassen, daß er das Mädchen heiratet,« rief er auf und ab gehend, mit starker Gestikulation seinen Worten besonderen Nachdruck gebend. »Diesmal muß er dran glauben! Mach dir nur weiter keine Sorgen, Klärchen; die Sache ist ja sehr unangenehm, aber schließlich, so etwas kommt öfter vor, als man denkt, ja, es ist eigentlich die Regel bei der Art Leuten. Die Hauptsache ist, daß man als Gutsherr darauf hält, daß sie sich dann wenigstens heiraten. Und Franz wird sie heiraten, verlaß dich 259 darauf! Dafür bin ich da. Und dann ist ja die Sache gut, Klärchen!«

»So, damit ist alles gut, nach deiner Ansicht?« meinte sie bitter.

Kriebow stutzte über Miene und Ton, in denen sie das äußerte.

»Natürlich! Mehr tun, als sie heiraten, kann er doch wirklich nicht. Was anderes wird die Person auch gar nicht verlangen. Höchstwahrscheinlich ist sie sehr zufrieden, daß sie so zu einem Manne kommt. Sie ist nicht die erste, die das auf diese Weise fertig bringt. Das Mittel ist sogar ziemlich beliebt bei dieser Art. Nun, es ist ihr geglückt, sie wird heilfroh sein!«

Klara stand auf; sie war im Innersten verletzt. Ihre Entrüstung, als sie das rohe Wort aus der Leuteküche vernommen, war nichts, gehalten gegen die Empörung, die sie in diesem Augenblicke über Erich empfand. Also, so dachte er! Das war seine Auffassung! So rüde, so gewöhnlich war er in seinen Gefühlen.

Sie fand keine Worte für das, was sie empfand, aber ihre Mienen mußten sprechen. Er begann sich zu entschuldigen, erklärte, daß er nicht lax denke in sittlichen Dingen, das solle sie nicht etwa glauben. »Ich habe eine sehr ernste Auffassung!« beteuerte er.

Sah es nicht aus, als wolle er sich selbst verteidigen? Wozu denn solche Beteuerungen? –

»Natürlich! Man muß als Gutsherr zeigen, daß man auf Zucht und Ordnung hält! Selbstverständlich muß hier ein Exempel statuiert werden! Aber man darf auch nicht vergessen, die Menschen sind nun einmal keine Engel. In den besseren Ständen kann man vielleicht einen so hohen Standpunkt anlegen, wie du ihn verlangst, aber bei einem Mädel wie Dürten! – Vor 260 einem halben Jahre hat sie noch die Kühe gemolken. Glaube mir's nur, Klärchen, unter den gewöhnlichen Leuten kommen ganz andere Dinge vor. Wenn ich reden wollte . . . . .«

»Ich wünschte, du sprächest überhaupt nicht.«

»Klärchen, stelle dich doch, bitte, nur nicht so an! Das dürfen wir besprechen. Eheleute können über solche Sachen reden.«

Klara machte eine abwehrende Bewegung, aber er fuhr unbeirrt fort.

»Ich kann wirklich nicht einsehen, warum du dich so erregst! Es ist fast, als machtest du mir Vorwürfe. Kann ich denn etwas dafür? Ich bin doch wirklich ganz unschuldig daran. Du hast dir das Mädel herangezogen, nicht ich. Und Franz! Soll ich dem Kerl etwa jeden Abend nachlaufen? Wollte man dagegen auftreten, du lieber Himmel, wo würde man da hinkommen! – Da würde man keine Dienstboten im Hause behalten, wenn man das verbieten wollte; alle liefen sie einem davon, die Frauenzimmer zu allererst.«

»Das ist abscheulich!« rief Klara; sie stand vor ihm und sah ihn mit flammenden Blicken an.

»Ich denke vernünftig, das ist alles, und dann habe ich eben etwas mehr Erfahrung als du; gestatte mir, dir das zu sagen, liebe Klara! Für dich ist es vielleicht eine ganz gute Lehre gewesen. Solche Affären gehören einmal zum Landleben. Prüderie, die muß man sich allerdings als Gutsherrin abgewöhnen, mein Kind.«

»Das, was du Prüderie nennst, ist etwas ganz anderes, und das scheint dir allerdings abzugehen. Ich werde mir das Anstandsgefühl niemals abgewöhnen, verlaß dich darauf!«

Er hatte sie so noch nie gesehen und solche Worte 261 noch niemals von ihren Lippen vernommen. Sie war erblaßt, die Augen leuchteten, ihre Züge hatten etwas Hartes angenommen.

Ihre Strenge begann ihm unheimlich zu werden. Er hielt es für angezeigt, einzulenken; das Thema war doch allzu heikel. »Aber Klärchen, wie bist du denn nur heute? Wirklich, du machst aus einer Mücke einen Elefanten! Um was streiten wir uns denn eigentlich? Im Grunde sind wir wahrscheinlich ganz einer Ansicht. Eine kolossale Dummheit die ganze Geschichte, wirklich!« –

»Für mich ist die Sache allerdings von größter Bedeutung. Ich habe nun eingesehen, daß wir über das Wichtigste, was es gibt, himmelweit auseinander sind.«

»Ach, Klärchen, rede nicht solchen Unsinn! Du machst wirklich eine so tragische Miene. – Was ist denn passiert? Wir haben uns mal ein bissel ausgesprochen, meinetswegen! Aber, ich bin für Versöhnung. Sei gut – was!«

Er nahte sich ihr, wollte sie umfangen. Aber sie blickte ihn voll Kälte an und sagte hart: »Du läßt mich!« daß ihm die Arme wie gelähmt am Körper niedersanken.

Er sah sie nach der Tür zu schreiten. So bestürzt war er, daß er nicht Fuß und Hand rühren konnte.

Erich war allein.

Was war das? Klärchen von ihm gegangen! Der erste Streit! – Gezankt hatten sie sich, regelrecht, gezankt, wie gewöhnliche Leute.

War es denn möglich? War denn das Klärchen gewesen, sein Klärchen, diese Person mit den haßerfüllten Blicken, dem barschen: »Du läßt mich!«

War denn nun alles aus? Liebten sie sich nicht mehr? Würden sie nach einem solchen Auftritt je wieder 262 zueinander kommen können? War es denn möglich, daß man sich liebte und gleichzeitig haßte? – Er stand vor einer Reihe verwirrender Rätsel.

Ihr Benehmen war völlig unverständlich. Was hatte sie denn nur so furchtbar erregt? – Der Fall mit dem Mädchen allein? – Das hier war doch wirklich nicht die Sache danach, so außer sich zu geraten! Es mußte noch etwas Besonderes dabei sein, das er nicht sah.

Warum war sie denn so gewesen, so bitter, so voll Sarkasmus gegen ihn? –

Hatte sie etwa gar etwas in Erfahrung gebracht über sein Vorleben? Sollte vielleicht der Pastor ihn angeschuldigt oder Frau Kruke geschwatzt haben? Hatte irgendwer ihn verraten, der wissen konnte, was sich vor Jahren einmal ereignet hatte? –

Ihm wurde heiß und kalt bei dem Gedanken, Klärchen könne in sein Geheimnis eingedrungen sein.

Aber nein! Das war nicht möglich! Hätte sie darum gewußt, dann wäre sie wohl noch ganz anders aufgetreten gegen ihn. –

Er beruhigte sich wieder. Es war nicht wahrscheinlich, daß jemand das ausgeschwatzt haben sollte seiner Frau gegenüber; niemand würde das wagen! Nein, Klärchen wußte nichts davon; es war der Fall Dürten und nur dieser, um den es sich für sie handelte.

Aber wenn sie hier schon so scharf ins Gericht ging, wie würde ihr Urteil erst ausfallen, wenn sie je über seinen Fehltritt richten sollte! –

Er hatte ja manchmal daran gedacht, selbst ein Geständnis abzulegen, um sich vor der steten Furcht des Entdecktwerdens zu befreien. Aber er sah heute ein: es war unmöglich, ihr davon etwas zu sagen. Sie 263 nahm diese Art Sachen zu tragisch. Sie war ja imstande, auf und davon zu gehen, ihn zu verlassen, wenn sie seine Tat erfuhr.

Nein, so traurig es war, man mußte sie täuschen, man mußte dieses Geheimnis um jeden Preis vor ihr verborgen halten.

 


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