Wilhelm von Polenz
Der Grabenhäger
Wilhelm von Polenz

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II.

Am Sonntag ging Kriebow mit Gattin und Schwiegermutter zur Kirche. Vom Herrenhause aus war es nur ein kurzer Weg durch den Park, dann lag auch schon das kleine, aus Feldsteinen erbaute Kirchlein mit dem niederen schindelgedeckten Turme vor einem.

Der Gottesdienst ging heute etwas später als gewöhnlich an. Der Geistliche hatte bereits in Groß-Poder, wo eine Filialkirche von Grabenhagen stand, gepredigt.

Die Kirche war schwach besucht; einige alte Leute saßen verstreut im Schiff, die jungen Gesichter fehlten so gut wie ganz. Wären nicht die Dienstboten vom Herrenhause in stattlicher Zahl vertreten gewesen, dann hätte der Pastor kaum zu einem Dutzend Leuten gesprochen. Aber darauf hielt Frau Kruke, die Wirtschafterin, Sonntags mußte ihr ganzer Stab zur Kirche; sie liebte es, mit voller Leutebank zu paradieren.

Kriebow nahm mit seinen Leuten Platz. Über dem herrschaftlichen Kirchenstuhle war das Familienwappen angebracht. An verschiedenen Stellen konnte man alte Grabsteine eingemauert finden: heimgegangene Patrone der Kirche oder auch deren Gemahlinnen darstellend; hier ein bärtiger Rittersmann in plumper Rüstung, knieend, den Helm neben sich, dort eine Frau mit steifem Kleide und Radkrause, die Hände mit den dünnen Fingern zum Gebet zusammengelegt.

Neueren Ursprungs als diese Überbleibsel aus feudaler Zeit waren die Gedenktafeln, die man zu Ehren von Erich von Kriebows Großvater und Vater angebracht hatte.

Der junge Grabenhäger sah sich hier umgeben von 37 Erinnerungen an seine Vorfahren. Es war begreiflich, daß er dieses Gotteshaus, wenn er davon sprach, »meine Kirche« zu nennen pflegte.

Vor der Orgel saß der Küster mit der Schuljugend und mühte sich ehrlich ab, dem altersschwachen Instrumente etwas wie eine Melodie zu entlocken. Als das erste Lied beendet war, erhob sich der alte Klinguth und machte der Herrschaft seinen schuldigen Kratzfuß.

Unter der kleinen Zahl der Andächtigen fiel ein altes Paar in die Augen – Kriebow hatte sie auch sofort bemerkt –: Tuleveits vom Schulzengute. Des Grabenhägers Blick wurde unwillkürlich dorthin gezogen, wo der Alte mit seiner Ehehälfte saß. Ein wenig kahler noch und hagerer war Jochen Tuleveit geworden; sonst war er ganz der alte geblieben mit seinem kernhaften Schädel, dem schmalen Mund und der mächtigen Bartkrause unter dem trotzigen Kinn.

Jochen blickte mit seinen blanken, weißüberbuschten Augen starr geradeaus nach dem Altar, wo jetzt der Geistliche das Apostolikum sprach. Seinen wetterharten Zügen war keine Erregung anzusehen. Aber die alte Frau neben ihm mit dem blassen, für eine Bäuerin auffällig feinen Gesichte war unruhig geworden seit dem Eintritt der Herrschaft. Ihre Augen wanderten unstet umher in dem Kirchlein und blickten schließlich doch dorthin, wohin zu sehen sie hatte vermeiden wollen: nach dem herrschaftlichen Stuhle und seinen Insassen.

»Erich, wer ist der schöne, alte Mann dort drüben?« fragte Klara, als der Geistliche den Altar verlassen hatte. Kriebow schüttelte nur unwillig den Kopf, als verbiete ihm die Andacht in diesem Augenblicke jede Äußerung.

Pastor Grützinger trat auf die Kanzel. Sie lag dem Kriebowschen Stuhle gerade gegenüber.

38 Erich von Kriebow war in den letzten Jahren nicht allzuoft in seine Kirche gekommen. Höchstens wenn er mal mit Freunden während der Jagdsaison in Grabenhagen gewesen war, hatte man sich's des Sonntags, wo sich der Sport ja sowieso verbot, zum Zeitvertreib gemacht, den Gottesdienst zu besuchen. Die Kirche mit ihren Antiquitäten, zu denen auch die quietschende Orgel gerechnet wurde, war nun einmal eine der Sehenswürdigkeiten von Grabenhagen. Nachmittags hatte man dann den Pastor und den Lehrer eingeladen, und je nachdem man gelaunt war, sich in Scherz oder Ernst mit ihnen unterhalten.

Das war in des Grabenhägers »toller Zeit« gewesen. Inzwischen hatte sich sein Geschmack verändert; er bildete sich selbst etwas darauf ein, daß er gesetzter geworden, und daß er sich der Pflichten eines Hausvaters bewußt sei. Zu diesen Pflichten gehörte auch, daß man das Ansehen der Kirche und ihrer Diener unterstützte.

Nun war seit etwa zwei Jahren ein neuer Pfarrer da. Erich war, als die Grabenhäger Stelle durch den Tod des früheren Geistlichen erledigt und neu ausgeschrieben worden, gerade in Wien bei der Legation gewesen. Es war mitten im Karneval, und die Pfarrwahl in der fernen Heimat erschien dem gesellschaftlich stark in Anspruch genommenen jungen Offizier als eine Angelegenheit von ziemlich nebensächlicher Bedeutung. Er glaubte seiner Pflicht als Patron vollauf Genüge getan zu haben, als er einen Bericht des Grabenhäger Gemeindekirchenrates über die Probepredigten und die Wünsche der Gemeinde durchgelesen hatte. Da der Bericht–von der Hand des alten Klinguth geschrieben – einen gewissen Pastor Grützinger lobte und dem Patron anheimstellte, diesem seine Stimme zuzuwenden, zögerte 39 Kriebow keinen Augenblick, sein Votum für Grützinger in die Wagschale zu werfen.

Erichs günstige Ansicht über seinen Kandidaten sollte aber bald darauf erschüttert werden, als er in Berlin Graf Wieten traf, einen Freund und Altersgenossen seines Vaters, den angesehensten Mann des Kreises. Graf Wieten, der neben vielen anderen Ämtern auch das eines Mitgliedes der Provinzialsynode innehatte, rief eines Tages im Klub den jungen Grabenhäger zu einer vertraulichen Unterredung beiseite und teilte ihm da über Pastor Grützinger Dinge mit, die Kriebow aufs unangenehmste überraschten. Danach war der neue Pfarrer ein Mann von »unsicherer Gesinnung«, der in seiner vorigen Stelle bereits von der Kirchenbehörde eine Verwarnung wegen »propagandistischer Tätigkeit« erhalten habe, kurz, eine »kompromittierte Persönlichkeit«.

Kriebow bedauerte natürlich aufs lebhafteste, daß er sich nicht genauer unterrichtet hatte, ehe er dem Manne die Stelle zuwandte. Aber nun war es zu spät; jetzt war Pastor Grützinger einmal eingeführt. Indessen den Rat des alten Grafen Wieten: »dem Pastor auf die Finger zu sehen« und ihn bei der geringsten Unbotmäßigkeit anzuzeigen, hatte sich Kriebow wohl hinter die Ohren geschrieben. Bisher jedoch hatte er nichts Unrechtes an ihm entdecken können; allerdings war der Grabenhäger in der letzten Zeit auch so gut wie gar nicht dazu gekommen, sich um die kirchlichen Dinge in Grabenhagen zu kümmern. Aber auch damit sollte es jetzt, wo er die Zügel der Regierung selbst in die Hand genommen, besser werden. Er sah der Predigt des Geistlichen daher mit einiger Spannung entgegen.

Alles sprach und sprühte an dem kleinen, blassen 40 Manne: das bewegliche Mienenspiel, die durchdringenden Augen, die kurzen, abgehackten Gesten, die sich wie Hammerschläge ausnahmen, mit denen er seine Worte hart machen wollte.

Kriebow war den salbungsvollen Ton des Amtsvorgängers gewöhnt, der weder sich selbst noch seine Zuhörer aufzuregen liebte. Zwischen ihm und dem herrschaftlichen Kirchenstuhle hatte immer ein äußerst freundschaftliches Verhältnis bestanden. Das ging soweit, daß der Geistliche, wenn er auf die Kanzel trat, zunächst dem Patron seine Verbeugung machte. Wenn aber der selige Landesdirektor, der das lange Predigen nicht liebte, ein bestimmtes Zeichen machte, dann schloß der Prediger seinen Sermon.

Der neue Pastor schien weit entfernt von solcher Zuvorkommenheit. Sein Auftreten hatte durchaus nichts Respektvolles an sich.

Kriebow war nicht imstande, der Predigt große Aufmerksamkeit zu schenken. Zu vieles ging ihm im Kopfe herum. Daß diese Tuleveits auch gerade da sein mußten, wo er das erstemal mit seiner Frau zur Kirche ging! Würde Klärchen sich bei der einen Frage begnügen, die sie vorhin nach Jochen Tuleveit gestellt hatte? Und wenn nicht, was sollte man ihr sagen? Lügen mußte man. Die Wahrheit durfte sie nicht erfahren. Und es war so schwer, sie zu belügen; sie hatte so klare Augen. –

Es verdroß ihn, zu sehen, daß seine Damen diesem Pastor offenbar große Aufmerksamkeit schenkten. Klara saß da mit geröteten Wangen und leuchtenden Augen, ließ sich kein Wort von der Predigt entgehen. Und Frau von Lenkstädt gab durch Kopfnicken an besonderen Kraftstellen ihren Beifall zu erkennen.

41 Kriebow wurde, als er dies wahrnahm, erst recht ungehalten; hatte der Mensch etwa gar die Damen auf seiner Seite? – Das fehlt auch noch!

Mit Ungeduld sah er dem Ende des Gottesdienstes entgegen. Kaum hörte er, wie im Schlußgebet auch seiner, des Patronatsherrn, Rückkehr auf den ererbten Besitz gedacht wurde, mit der Fürbitte um göttlichen Schutz für ihn und sein ganzes Haus.

Nachdem die lungenschwache Orgel ihren letzten Ton ausgehaucht hatte, fragte Erich beim Herausgehen aus der Kirche in ironischem Tone die Damen: »Nun sagt mir mal, was sagt ihr zu der Predigt?« –

Frau von Lenkstädt war sofort mit einem: »herrlich!« zur Hand. »Was hat der Mann für einen Vortrag!« Und Klara meinte nach einigem Nachdenken, indem sie erst die richtigen Worte für einen starken Eindruck zu suchen schien: »Er ergreift so, weil er selbst so ganz ergriffen ist.«

Da hatte man's! Die Damen waren richtig eingegangen. Keine Ahnung hatten sie von dem gefährlichen Gift, das in der Beredsamkeit dieses Pfaffen steckte.

Klara fragte jetzt: »Wir wollten Pastors besuchen; du kommst doch mit, Erich?«

Kriebow erklärte unwirsch, er denke gar nicht daran, nicht die geringste Lust verspüre er, mit Pastors intim zu werden.

Aber dadurch rief er Frau von Lenkstädts Widerspruch hervor. Pastors seien ausgezeichnete Menschen. Außerdem sei die Frau der gegebene Umgang für Klara, und Erich werde sich noch freuen, an einsamen Winterabenden einen solchen Mann zur Hand zu haben.

Das brachte Kriebow erst recht in Harnisch. Er hatte den Pastor nicht nötig. Er war der Patron und 42 brauchte überhaupt keinen Umgang, wenigstens keinen, der ihm nicht zusagte. –

Es war zum ersten Male, daß Kriebow sich unhöflich gegen seine Schwiegermutter zeigte. Die Damen möchten nur allein ins Pfarrhaus gehen, wenn sie durchaus müßten. Er werde sich nach Haus begeben.

Klara legte ihm die Hand auf den Arm und hielt ihn zurück.

»Ich habe keine Lust, tut ihr, was ihr wollt!« rief Kriebow.

»Wir haben kein Recht, sie zu beleidigen, Erich!« erwiderte Klara.

»Ach was! Seit wann wird denn auf derartige Leute Rücksicht genommen? Auf Besuchsfuß haben wir uns hier nie mit Pastors gestellt. Fehlte auch noch, die Art zu verwöhnen! Dem Menschen ist der Kamm sowieso schon genug geschwollen.«

»Du sprichst sehr wenig nett von unserem Pastor,« sagte Klara mit leicht erregter Stimme.

»Dir scheint der Mann allerdings sehr imponiert zu haben,« erwiderte Erich mit spöttischer Miene.

Hier mischte sich Frau von Lenkstädt in das Gespräch, die einen Streit zwischen den jungen Leuten heraufkommen sah. Kirche und Gutsherrschaft gehörten nun einmal zusammen, meinte sie, und man müsse zeigen, daß man eins sei; das sei schon der Gemeinde wegen nötig. Erich solle nur gut sein und in das Pfarrhaus kommen.

»Sie haben reizende Kinder, die mußt du wirklich sehen, Erich; ich habe sie gestern vom Park aus beobachtet,« fügte Klara etwas weicher hinzu mit einem jener Blicke, die ihm noch immer ein leichtes Erschauern der Haut verursachten. Dabei ergriff sie seine Hand.

43 Kriebow setzte seine finsterste Miene auf, öffnete aber den Damen das kleine Pförtchen, das in den Pfarrgarten führte und folgte selbst schweigend nach.

Die Pastorin kam ihnen in den Garten entgegen; sie mochte wohl schon vom Fenster aus die Herrschaft kommen gesehen haben. Rosiger denn je war die appetitliche kleine Frau anzuschauen – sie schien immer über die Tatsache zu erröten, daß sie gar so rote Backen habe – und erklärte, ihr Pastor sei noch im Studierzimmer, er habe dort einige Leute abzufertigen; die Herrschaften müßten daher einstweilen mit ihr vorlieb nehmen. Dann führte sie den Besuch unter fortwährendem Stehenbleiben, Erzählen und Knicksen nach dem ersten Stockwerk hinauf. Der Aufstieg wurde einmal durch die Engigkeit der Holzstiege, noch mehr aber durch die Kinder erschwert, die von oben her den Gästen entgegengepurzelt kamen. Ihnen folgte ein kleiner schwarz und weißer Spitz, der die Fremden mit durchdringendem Bellen anfuhr. Die Pastorin schalt, entschuldigte, strich den Kindern das Haar glatt, schlug nach dem Hunde, erleichterte aber durch alles dies ihren Gästen das Fortkommen auch nicht wesentlich. Frau von Lenkstädt und Klara begrüßten die Kinder; Erich sollte die Gören reizend finden. Ihm war die kleine Brut mit den braunroten Backen, dem gelben, strubbeligen Haar und den großen, neugierigen Augen nur unheimlich. Als man sich endlich durch diese Begrüßung hindurchgearbeitet hatte und vor einer Tür stand, hinter der Kriebow mit Recht die »gute Stube« vermutete, gab es von neuem ein kleines, unerwünschtes Handgemenge. Die runde Frau Pastorin, im Eifer, ihren Gästen die Tür zu öffnen, stieß an Kriebows hohen Hut, daß es einen Knax gab. Über dieses Unglück nun 44 war die gute Frau schwer zu beruhigen; der Spitz keifte dazwischen; er schien der Ansicht zu sein, daß es sich hier um einen feindlichen Überfall handle, gegen den er seine Herrin zu verteidigen habe. In der Bestürzung über das Ereignis mit dem Hute wollte die Wirtin den Gutsherrn veranlassen, vor ihr ins Zimmer zu gehen, wogegen sich Kriebow, als wohlerzogener Mann, sträubte – kurz, es gab noch immer einige Hindernisse zu überwinden, bis man endlich in richtiger Reihenfolge um den runden Tisch saß, Klara und Frau von Lenkstädt, wie sich's gehörte, auf dem Plüschsofa, Kriebow auf einem Stuhle mit einer Lehne so steif, daß sie wie ein Verbot gegen das Anlehnen wirkte.

Die Frau Pastorin aber kam noch keineswegs zum Sitzen. Nach und nach holte sie, jedes Stück einzeln: Flasche, Brett, Gläser und einen Teller mit Zwiebäcken, herbei. Der Spitz aber, der mit ins Zimmer gekommen war, wurde auf einmal sehr freundlich; er sprang an den Gästen in die Höhe und legte ihnen die Vorderpfoten zutraulich auf die Knie.

Kriebow hielt es für das beste, unter diesen Verhältnissen zu resignieren. Hier konnte man sich wirklich auf alles gefaßt machen. Er nahm sogar einen Zwieback, den ihm die Pastorin mit einem »Bitte schön!« präsentierte und trank mit Todesverachtung einen Schluck von der rötlichen Flüssigkeit, die er in dem Glase vor sich entdeckte. Er machte auch einen Versuch, sich mit der Frau Pastorin zu unterhalten; aber das war insofern erschwert, als die gute Frau ihre Augen in einem fort umhergehen ließ, ob jemand ihrer Gäste etwa ausgetrunken habe oder eines neuen Zwiebacks bedürftig sei. Als sie aufgesprungen war, um Frau von Lenkstädt zu bedienen, benutzte Kriebow die Gunst des 45 Augenblickes, wo sie ihm den Rücken zuwandte, um seinen Zwieback dem bettelnden Hündchen hinzuhalten, das den Bissen schleunigst verschwinden ließ. Klara hatte das Manöver gesehen und schickte ihrem Gatten einen strafenden Blick zu, und der Frau Pastorin gegenüber hatte er nun erst recht schweren Stand; die war über den vermeintlichen Appetit ihres Gastes hocherfreut und verlangte, er solle noch weiter von ihren Leckerbissen zulangen.

Jetzt kam der Pastor. Er hieß seine Gäste willkommen. Grützinger hatte die Angewohnheit, die Person, mit welcher er sprach, scharf anzublicken; eine Antwort wartete er meist nicht ab, als habe er sich die mit den Augen schon selbst geholt. Nachdem er Kriebow auf diese Weise angesprochen, begab er sich zu Klara, zog sich einen Stuhl heran und redete sofort mit dem ihm eigenen eindringlichen Eifer auf sie ein.

Wenn es etwas gab, das Kriebow zuwider war, dann war es Formlosigkeit. Das Wesen dieses Pastors ging ihm geradezu gegen den Strich. Der Mensch war ein Plebejer.

Verdrossen an seinem Schnurrbart kauend, saß der Grabenhäger da und sagte nichts. Daß Klärchen dem Manne solche Beachtung schenken konnte! Sie, die sonst so feinfühlig war in Sachen des Benehmens. – Da saß sie und hörte dem Menschen mit sichtlichem Interesse zu, wie er von Volksbibliotheken sprach und dergleichen.

Ja, noch mehr: Klara wurde auf einmal ganz lebhaft und begann ihrerseits zu erzählen von Erfahrungen, die sie daheim in Burgwerda mit einer Nähschule für Mädchen gemacht hatte. Ein Kleinkindergarten hatte gerade eingerichtet werden sollen, als sie fortgegangen war von zu Haus.

46 Frau von Lenkstädt ergriff auch das Wort zu diesem Thema. Auf einmal war eine Unterhaltung im Gange über Dinge, an denen Kriebow nicht das geringste Interesse hatte. Wie eifrig Klärchen sprach und erzählte! Wie angeregt sie war! Er, ihr Mann, konnte ihr freilich mit dergleichen nicht aufwarten. In diesem Augenblicke war Kriebow wirklich eifersüchtig.

Der Geistliche äußerte jetzt: das sei eben der Vorteil »lebendiger Gemeinden«, daß dort der »Gemeinsinn« geweckt sei. Da fände man Persönlichkeiten, mit deren Hilfe man nützliche Unternehmungen ins Leben rufen könne. So habe er es in seiner alten Gemeinde gehabt, wo selbst bei den Ärmsten noch eine Art von Selbständigkeitssinn geherrscht habe, weil sie unabhängige Leute gewesen wären; hier aber in dieser Gegend sei von alledem nichts zu finden.

Da ergriff der Grabenhäger das Wort. Mochten die letzten Worte auf ihn gemünzt gewesen sein oder nicht, jedenfalls glaubte er, sie nicht unerwidert lassen zu dürfen; auch reizte es ihm, den Pastor für all den Verdruß, den er ihm schon verursacht hatte, endlich auch sein Teil abzugeben.

Nach jener »Selbständigkeit«, von der der Herr Pastor spreche, sehne man sich hier gar nicht, meinte Kriebow von oben herab. Was für eine Gesinnung daraus resultiere und was für Früchte solche Selbständigkeit erzeugte, wisse man ja zur Genüge. Die patriarchalischen Zustände seiner Heimat solle ihm niemand schlecht machen. Und das eine wolle er nur noch bemerken: seiner Ansicht nach und auch nach der Ansicht vieler erfahrener und hochgestellter Männer sei es nicht gut, am Alten und Bewährten zu rütteln.

Grützinger senkte den Kopf, dann warf er ihn ins 47 Genick, wie einer, der sich zu etwas entschlossen hat; dabei blickte er dem Gutsherrn und Patron frank in die Augen. Gewiß, am »Bewährten« dürfe man nicht rütteln, aber dem »Verrotteten« müsse man zu Leibe gehen, wo immer man es fände, sonst sei man ein Feigling.

Kriebow sagte: er möchte doch bitten, ihm zu sagen, ob der Herr Pastor etwa hier dergleichen gefunden zu haben glaube, das ihn zu solchen Ausdrücken berechtige.

Der Geistliche zog die Brauen zusammen. Nur eines wolle er anführen, da es gerade Sonntag sei, ob es etwa in der Ordnung, wenn die Tagelöhner gezwungen seien, am Sonntage zu arbeiten, statt in die Kirche gehen zu können? –

Kriebow meinte, er glaube nicht, daß dies der Grund, warum die Kirche leer sei.

»Dann gehen Sie doch bitte jetzt gleich mal hinaus auf Ihre Felder, Herr von Kriebow, dorthin, wo die Leutekartoffeln sind,« rief Grützinger mit plötzlich funkelnden Augen. »Sie werden dort all die Tagelöhner finden, die heute beim Gottesdienste fehlten. Vielleicht finden Sie sie auch beim Torfstechen oder sonst wo, nur nicht da, wo sie am Tage des Herrn hingehören. Und wenn Sie Ihren Herrn Inspektor mal fragen wollten, was er heute während der Kirchzeit vorgehabt hat, dann wird er Ihnen sagen – falls er der Wahrheit die Ehre gibt –, daß er die Löhnung ausgezahlt hat, weil ihm dazu die Zeit am Werkeltage zu kostbar ist.«

Hierauf war nun allerdings nicht viel zu erwidern. Kriebow erklärte, er werde das der strengsten Untersuchung unterziehen.

»Und dann noch eins, Herr von Kriebow!« fuhr der Geistliche fort, und wieder leuchtete jene starke Flamme in seinen Augen. »Da wir einmal hei dem Thema sind: 48 fragen Sie doch Ihren Inspektor, was das bewährteste Mittel ist, um Leute, die in der Ernte früh um vier Uhr mit der Arbeit angefangen haben, abends, wenn sie zu Tode abgespannt sind, noch zur Leistung von Überstunden zu bewegen – ein Mittel, das Herr Heilmann, ach wie oft, angewendet hat! Und wenn er es nicht vorzieht zu schweigen, wird er das Zauberwörtchen sagen müssen; es lautet: Branntwein!«

Der Grabenhäger sagte nichts darauf; sein roter Kopf redete auch eine Sprache. Er blickte nach seiner Frau hinüber; Klara sah ihn mit großen, erschreckten Augen an.

Das Furchtbarste war für ihn, daß Klärchen das mit angehört hatte.

* * *

Kriebow schickte, sowie er vom Kirchgang auf sein Zimmer gekommen war, zu Heilmann: der Inspektor möge sofort zu ihm herüberkommen.

Er wollte es dem Alten anstreichen, daß er um seinetwillen eine solche Demütigung hatte einstecken müssen.

Als Heilmann der ungewohnten Beorderung halber hastig und mit fragender Miene beim Herrn eingetreten war, überschüttete der ihn sofort mit Vorwürfen. Der Beamte ließ den Herrn ruhig ausreden, dann meinte er mit Gelassenheit: daß ihn der Herr Pastor beim gnädigen Herrn anschwärzen würde, habe er längst erwartet.

Kriebow stutzte über die Ruhe, mit der sein Inspektor so scharfen Tadel aufnahm. Daß der Geistliche Unwahres berichtet haben könne, war doch kaum anzunehmen. Er verlangte daher zu wissen, was Heilmann auf die einzelnen Behauptungen Pastor Grützingers, die er ihm vorhielt, zu erwidern habe.

49 Der Inspektor erklärte, daß er hin und wieder mal, und so auch heute, die Lohnzahlung am Sonntagvormittag abgehalten habe; aber das sei nur immer dann geschehen, wenn in der Woche absolut keine Zeit zu erübrigen gewesen wäre. Daß die Leute während der Kirchzeit allerhand Arbeiten in Feld und Haus verrichteten, sei richtig; aber dafür könne er nichts. Das habe er schon so vorgefunden, als er vor nun bald dreißig Jahren hierhergekommen sei. Herr von Kriebow wisse ja auch selbst, daß es so auf allen Gütern weit und breit hergebracht sei. Die Leute würden sich's ja auch nicht nehmen lassen, während der Kirche zu arbeiten, selbst wenn man's ihnen verbieten wollte. Der Herr Pastor würde daran wahrscheinlich auch nichts ändern können. Was schließlich die Verabreichung von Schnaps an die Leute anbelange, so sei dies nur ganz selten mal vorgekommen, in der Erntezeit, um die Lebensgeister etwas anzufrischen, und da auch meist nur an die Fremden. Das gehe den Herrn Pastor erst recht nichts an; denn die Schnitter gehörten als Katholiken noch viel weniger unter seine Kontrolle als die Gutstagelöhner.

Das klang ja nun allerdings wesentlich anders, als Pastor Grützinger es dargestellt hatte.

Der Beamte fuhr fort: Der neue Pfarrer halte es überhaupt für seine Aufgabe, die Leute aufsässig zu machen und der Herrschaft soviel wie möglich Schwierigkeiten zu bereiten.

Kriebow war hellhörig geworden; der Rat des alten Grafen Wieten, dem Pastor auf die Finger zu sehen, fiel ihm ein. Er fragte den Inspektor, ob er ihm für die agitatorische Tätigkeit des Geistlichen stichhaltige Beweise beibringen könne.

50 Heilmann überlegte einige Augenblicke, dann sagte er: »Selbst geradezu mit angehört habe ich's ja nicht, gnädiger Herr! Ich habe überhaupt den Verkehr mit dem Pastor aufgegeben. Wir gehen uns aus dem Wege. Aber man hört ja so mancherlei von den Leuten. Er geht zum Beispiel in die Katen und sieht nach, wie die Familien untergebracht sind. Einige Wohnungen sollen feucht sein und gesundheitsschädlich. In alles steckt er seine Nase; es ist geradezu lächerlich zu sagen: Erwachsene und Kinder sollen nicht mehr zusammenschlafen dürfen in einem Raum, wegen des ›Anstands‹. Nun frage ich einen Menschen: was hat so ein Tagelöhner jemals in seinem Leben von ›Anstand‹ gehört oder gesehen! Da hat zum Beispiel eine von den Hofegängerinnen des Nachts manchmal ihren Bräutigam empfangen, und die kleine Schwester schlief mit in der Kammer; du lieber Gott! was hat der Mann da für einen Aufstand gemacht darüber. ›Herr Pastor!‹ habe ich gesagt – wir sprachen damals noch miteinander –, ›das ist nun einmal nicht anders, das werden Sie nicht abschaffen; junge Leute wollen nun mal ihr Vergnügen haben.‹ Da hat mir der Mann Redensarten gemacht über die Herrschaft, die so etwas zuließe – dem gnädigen Herrn kann ich das gar nicht alles wiedersagen. Damals habe ich Krach mit ihm gekriegt.«

Kriebow ging unruhig im Zimmer auf und ab.

»Überall macht uns der Mann Stänkereien,« fuhr Heilmann fort. »Früher haben wir im Sommer zum Gänsehüten Kinder gehabt, soviel wir nur wollten. Jetzt heißt's auf einmal: das geht nicht, die Kinder gehören in die Schule. Wird das solchen Gören was schaden, wenn sie ein paar Wochen im Jahre weniger zur Schule laufen. Der alte Klinguth würde ja gar nichts dagegen 51 haben; denn der hält zur Herrschaft und ist überhaupt ein vernünftiger Mann, aber der Pastor ist ihm aufsässig. Nun muß ich womöglich ein Erwachsenes zu den Gänsen stellen. Und so geht's in allem. Überall findet der Pastor was raus, was nicht recht sein soll; natürlich immer bloß der Herrschaft zum Possen. Ich hab' ihm ja auch merken lassen, daß wir uns nicht alles von ihm bieten zu lassen brauchen. Früher haben wir doch immer den Pfarracker bestellt, vom Gute aus; der Pastor hat ja keine Tiere und kein Gerät dazu und versteht wohl am Ende auch nichts davon. Wir haben's darum immer mit besorgt und nicht einmal was dafür genommen; nur die Düngung hat er bezahlen müssen. Das Korn haben wir ihm zum Marktpreise abgenommen. Dafür war uns der selige Herr Pastor auch immer sehr dankbar. Dem neuen habe ich das nun gesagt: wenn er so wenig für die Herrschaft tut, dann danken wir dafür, dann kann er in Zukunft sehen, wer ihm seine Tüften stecken und den Weizen mähen und ausdreschen mag. Was hat der Herr Pastor darauf getan? Zum alten Jochen Tuleveit ist er gegangen; der hat ihm das Feld ja auch natürlich abgepachtet. Der Bauer bestellt jetzt den Pfarracker. Ist das nun nicht eine Gemeinheit? Daraus sieht man doch, wie der Mann in allem gegen die Herrschaft und für die anderen ist. – Überhaupt, das wollte ich dem gnädigen Herrn noch sagen: zwischen Tuleveits und Pastors ist dicke Freundschaft.«

Auch das noch! Von allem, was er bisher erfahren, war dies das peinlichste für Kriebow. Wie schnell sich doch die Leute zusammenfanden, die einem feindlich gesinnt waren! –

»Ja, auf dem Schulzengut geht der Pastor aus 52 und ein; und der alte Tuleveit soll ja auch jeden Sonntag zur Kirche gehen. Die Frauensleute stecken auch immer beisammen; daß sie da allerhand gegen die Herrschaft aushecken mögen, läßt sich schon denken.«

Kriebow hatte genug gehört. Es war wirklich, als solle ihm der heutige Tag alles, was es für ihn Widerwärtiges und Beschämendes gab, vor das Gedächtnis rücken.

Heilmann wurde entlassen. Der junge Gutsherr blieb in äußerst schlechter Laune zurück. In diesem Pastor war ihm ja geradezu ein Kreuz auferlegt worden.

 


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