Wilhelm von Polenz
Der Grabenhäger
Wilhelm von Polenz

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XXX.

Seit sie nach Grabenhagen zurückgekehrt war, sah Klara ihre Umgebung mit ganz anderen Augen an. Jetzt wußte sie, wo ihre Heimat war: dort, wo einst ihr Kind spielen, wo es heranwachsen, wo es zum Menschen werden würde.

Ihr Kind! Es war, als blicke sie mit seinen Augen in die Welt. Stärker und mächtiger mit jedem Tage fühlte sie den Einfluß, den dieses werdende Leben auf ihr Sein gewann. Das Alltägliche erschien ihr so 507 gleichgültig; viel, viel wichtiger war das, worauf ihr ganzes Dasein nur eine Vorbereitung schien. Wenn sie im Hause anordnen mußte, wenn sie für das tägliche Brot zu sorgen hatte, jede Tätigkeit, die gesamte Außenwelt, glich einem Traum; Wirklichkeit war nur, was sich da im Verborgnen abwickelte.

Es war eine große Versuchung für die junge Frau, sich an solch weltfremde Stimmung zu verlieren. Eine linde Laßheit kam oft über sie, eine selige Mattigkeit; sie wußte selbst nicht, wie ihr geschah. Aber ihre Umgebung sorgte dafür, daß sie darin nicht versank.

Täglich traten allerhand Fragen an sie heran, sie mußte Entscheidungen treffen, das große Hauswesen wollte bewacht sein; wenn sie sich gehen ließ, das wußte sie nur zu gut, dann bekam Frau Kruke wieder Oberwasser. Darum bezwang sie sich, raffte sich auf aus ihrer Schlaffheit; wenn sich ihr hin und wieder Tränen in die Augen drängten, so bekam doch niemand sie zu blicken. Kein Mensch sollte sie in ihrer Schwäche sehen.

Erich bat Klärchen wiederholt, sich doch nur zu schonen. Er war besorgt um sie. Sie lächelte über die unnütze Sorge des Mannes. Das war doch keine Krankheit! Nein, wahrhaftig alles andere! Es war die höchste Gesundheit, wenn Gesundheit das verjüngende Gefühl wachsender Kraft und Hoffnung ist.

Klara befand sich jetzt tagsüber viel allein. Erich war außer dem Hause, sie sah ihn eigentlich nur zum Mittag- und Abendbrot; denn früh, wenn sie erwachte, war er schon seit Stunden im Sattel. Die gemütlichen Abendstunden des Winters bei Lampenlicht und Kaminfeuer gab es jetzt nicht. Abend, wenn er nach Haus kam, hatte er meist noch das Rechenwesen zu erledigen, Leute abzufertigen, Briefe zu schreiben. Und dann 508 war er abgespannt vom Tageswerk und verlangte nach Schlaf.

Klara war weit entfernt davon, unglücklich zu sein über den Wandel, der mit Erich vor sich gegangen. Wo waren seine Launen hin, sein Unbefriedigtsein! Das waren ja nur Ausgeburten gewesen der Untätigkeit. Jetzt, wo er wirkliche Sorgen und Verantwortung zu tragen hatte, gab es keine Zeit mehr für ihn, Grillen zu fangen. Gelegentlich freilich seufzte er, es sei zu viel der Arbeit; aber das hatte nicht viel zu bedeuten. Sie sah es doch seinen Augen an, seinem ganzen freieren, strafferen Auftreten, er war glücklich und befriedigt.

Die junge Frau hütete sich darum auch wohl, ihn je ein Wort der Klage hören zu lassen über Vernachlässigung. Glücklicher als die Verliebtheit einer Schäferstunde machte sie die Erkenntnis, daß er sich seiner Kraft und seiner Gaben tagtäglich mehr bewußt wurde, daß er mehr und mehr hineinwuchs in seinen Beruf. Sie fühlte sich stolz und glücklich, wenn ihm etwas gelungen war, sie freute sich mit ihm, wenn er ihr berichtete, wie gut die Feldfrüchte stünden, und sie hoffte mit ihm einer gesegneten Ernte entgegen.

Oft ging sie jetzt hinaus in die Fluren. Sie liebte es, zwischen den sonnenbeglänzten Ährenfeldern hinzuschreiten, die der Wind wie schaukelnde Meereswogen vor sich her trieb, und den Duft des blühenden Kornes einzuatmen. Es war ihr oft, als sei sie mit alledem verwandt, was da um sie her keimte, blühte, duftete und heranreifte.

In ganz anderem Sinne verstand sie jetzt die Natur als damals, wo sie von ihrem einsamen Mädchenzimmer in Burgwerda hinabgeblickt hatte auf den Wald zu 509 ihren Füßen. Das war nur ein Schwelgen gewesen in untätigem Genuß, ohne innig hingebenden Anteil. Die Schönheit da draußen hatte ihr doch ewig fernbleiben müssen. – Wie man sich eben durch das Beschauen allein nie die Welt zu eigen macht. – Sie hatte hinabsteigen müssen von dem Throne ihrer jungfräulichen Spröde, hatte sich aus ihrer stolzen Einsamkeit hineinbegeben müssen in den Staub und das ernüchternde Gedränge der Lebensstraße. Das war nicht ohne Schmerz abgegangen. Aber jetzt hatte sie alles Zagen und alles Heimweh überwunden, denn sie fand, daß sie nichts eingebüßt, aber unendlich viel gewonnen hatte. –

Auch die Besuche in den Katen nahm Klara wieder auf. Die Familien waren ihr noch ganz anders ans Herz gewachsen als vorher. Ihr Urteil war milder geworden und gerechter. Es zog sie zu diesen Müttern, wie zu Schwestern. In ihrer eigenen Hinfälligkeit fühlte sie sich ihnen um einen Schritt näher gerückt.

Und es schien, als hätten die Frauen die Wandlung verstanden, die mit der Herrin vorgegangen. Mitfühlende Vertraulichkeit sprach aus ihren Mienen, wenn sie die junge Frau baten, Platz zu nehmen und ihr des lieben Gottes Segen für das kommende Stündlein wünschten.

Bald nach Klaras Rückkehr war Dürten, ihr früheres Mädchen, eines Knaben genesen. Die Gutsherrin besuchte die Wöchnerin fast täglich.

Eines Tages erschien Franz mit abgezogener Mütze vor der Herrin, den Mund schief gezogen zum verlegenen Grinsen. Nach längerem Drucksen brachte er seinen Wunsch heraus: Ob die gnädige Frau wohl Patenstelle annehmen wolle bei seinem Jungen. Natürlich war Klara gern dazu bereit.

An jenem Vormittage, an welchem ihr Mann 510 nach Langendamm gefahren war, ging Klara in den Garten.

Sie hatte da einen Lieblingsplatz, den sie an warmen Tagen gern aufsuchte: eine Buchenlaube mit einem alten, schon etwas wackligen Holztisch, von ein paar mächtigen Kastanienbäumen überschattet, nicht weit von dem Dorfkirchhof. Über die lückenhafte Weißdornhecke hinweg sah man die schiefen, alten Holzkreuze, die verwilderten Zypressen und die mancherlei Blumen, die auf den Gräbern wucherten. Im Hintergrund ein Stück von der Feldsteinmauer des Kirchleins mit den eingelassenen Denkmälern verstorbener Kriebows. Es war ein kleiner, heimlicher, abseits gelegener Winkel.

Auch heute lenkten sich ihre Schritte dorthin. Um die Zeit nicht müßig zu verbringen, hatte Klara eine Handarbeit mit sich genommen. Gelegentlich kam auch die Pastorin hierher, die diesen Lieblingsplatz der Gutsherrin kannte, aber meist nur auf einen Husch, denn die kleine Frau hatte des Morgens allzuviel in ihrem Haushalte zu tun, um Zeit zum Verplaudern übrig zu behalten.

Klara saß noch nicht lange, als sie Schritte vernahm. Sie nahm an, daß es die Pastorin sei, und rückte schon, um ihr Platz zu machen, ein wenig auf der Gartenbank beiseite, als sie durch die niedere Tür der Kirchhofseinfriedigung eine alte Frau mit einem Knaben treten sah: Mutter Tuleveit und ihr Enkelsohn.

Lange hatte Klara nicht mehr an die Existenz dieser Leute gedacht. Ganz andere Dinge beschäftigten sie jetzt und zogen ihre Gedanken alle nach einer Richtung. Schreck und Erregung, die ihr damals Erichs Bekenntnis verursacht, Demütigung und Kummer, die sie am Sterbelager des alten Jochen Tuleveit hatte 511 durchmachen müssen, wie weit lag das alles schon hinter ihr! – All das war vor anderem, sie näher Angehendem längst in den Hintergrund getreten. Die Erinnerung daran, die plötzlich durch das Erscheinen der beiden Gestalten aufgestört wurde, sah sie mit fremdem Gesichte an.

Klara erhob sich und trat aus der Laube. Sie wollte Mutter Tuleveit nicht unangesprochen vorüberlassen, denn es regte sich etwas wie ein Vorwurf in ihr, daß sie die Bekanntschaft mit der vortrefflichen Alten nicht weiter gepflegt hatte.

Sie komme vom Pfarrhaus, erklärte Mutter Tuleveit, und habe eigentlich vorgehabt, zum Herrenhaus zu gehen, um Abschied von der gnädigen Frau zu nehmen. Die Gutsherrin forderte die Witwe auf, neben ihr auf der Bank Platz zu nehmen.

Abschied! Wollte sie denn fort? – Die Nachricht kam für Klara überraschend.

Ja, sie wolle fort, erwiderte die alte Frau. Sie nannte einen Ort mit polnischem Namen, im posenschen Ansiedlungsgebiet, wohin Grete mit ihrem Mann gezogen war. Und – das kam etwas zögernd heraus – den Knaben hier wolle sie auch mitnehmen.

»Ich wollte schon immer kommen,« sagte Mutter Tuleveit, »aber ich wußte nicht, wie es aufgenommen werden möchte. Denn so ohne Sie noch einmal gesehen zu haben, gnädige Frau, mochte ich doch nicht auf und davon gehen. Man wird sich ja nicht wiedersehen in dieser Welt, und der Junge soll ja auch nicht wieder hierher zurück. Aber eine Erinnerung soll er doch man wenigstens mitnehmen . . . . . . Hanning, mien Jung,« damit winkte sie dem Knaben, der bescheiden beiseite stand, »weest du wat, mien Höning? Lat uns hier 512 all'n beten alleen! Kik dir mal dor de schönen Bläumings an.«

Der Junge sprang fort wie ein junges Füllen und war schnell außer Hörweite. Die alte Frau fuhr mit leicht hebender Stimme fort: »Hanning weiß noch nichts! Ich meine auch, er ahnt noch immer nicht, wer sein Vater ist. Es wird nun immer schwieriger, es ihm zu verbergen. Denn als ob das Kind eine Stimme haben müßte in seinem unschuldigen Herzen; es zieht ihn ordentlich wie mit Gewalt hin zu Herrn von Kriebow. Wenn Hanning ihren Herrn Gemahl sieht, nur von weitem über das Feld reiten, da ist er gleich in Erregung. Der ist sein Höchstes, was Schöneres kann er sich nicht denken. So möchte er werden, so einer möchte er sein wie Herr von Kriebow. Dann fragt er allerhand, worauf man nicht weiß, was antworten. Ich denke, es wird besser sein, wenn er weg kommt von hier; wir wollen doch auch nicht, daß er Herrn von Kriebow lästig fällt. Es wird ihm ein Stein vom Herzen sein, wenn der Jung' nicht mehr hier ist. Darum will ich ihn mit mir nehmen; so wird für alle Frieden sein.«

Sie hatte das in ihrer schlichten, freundlichen Weise gesagt, die Hände vor sich im Schoße gefaltet, das kleine, verwitterte Altefrauengesicht umrahmt von der Witwenhaube. So saß sie da, ehrwürdig in ihrer Einfachheit.

»Ich wäre gern hier geblieben!« begann die Alte nach einer Pause von neuem, »drei Kinder habe ich da drüben liegen und meinen Alten. Da geht sich's schwer fort. Und gar wenn man so alt geworden ist, wie ich an diesem Orte. Vierzig Jahr sind's jetzt her, daß Jochen mich holen kam. Da wünscht man sich nur 513 noch eine Veränderung; aber das steht in Gottes Hand. Es muß eben sein! Denken Sie nicht etwa, Frau von Kriebow, daß meine Kinder mich von hier wegtreiben! Nein, die sind gut: beide Söhne und auch die junge Frau. Sie reden mir zu, ich soll bei ihnen bleiben bis zum Ende. Und sie meinen's auch so. Aber ich will man fort. Es ist zu vieles anders geworden, seit der gute Alte dort nicht mehr ist. Die Welt ändert sich, und die Jugend will ihr Recht haben. Darum will ich gehen; aber den Jungen, mein Hanning, den nehme ich mit mir. Ich bin so dankbar, daß ich ihn habe. Was wäre ich alte Frau ohne das Kind! Aller Kummer, den wir durch ihn gehabt haben, ist längst vergessen.«

Klara, ergriffen von soviel Zartgefühl und Herzensgüte, hatte ihre Hand in die der Alten gelegt. Sie war zu bewegt, um etwas zu sagen.

Mutter Tuleveit blickte die junge Frau eine Weile sinnend an, dann sagte sie: »Ich werde an Sie denken in den nächsten Monaten und will auch für Sie beten. Möge der liebe Gott Sie behüten, und möchten sich Ihre und Ihres Herrn Gemahls Wünsche erfüllen.«

Klara hatte das Haupt gesenkt; sie nahm die Worte der Alten hin wie einen Segen.

Beide schwiegen in Gedanken versunken, die junge Frau hinauseilend in die Zukunft mit ihren Hoffnungen, die alte zurückkehrend zur Vergangenheit in ihrer Erinnerung.

Dann lächelte Mutter Tuleveit, und dieses Lächeln ließ sie mit einem Male ganz verjüngt erscheinen. »Er war ein lieber Knabe, der junge Herr Erich, man mußte ihm gut sein! Ich werde ihn im Gedächtnis behalten mein Lebtag. Und unser Hanning wird ihm sehr 514 ähnlich.« Voll Stolz ruhte dabei ihr Blick auf der schlanken Gestalt des Knaben, der in der Nähe spielte. Sie rief Hanning heran. »Wir wollen nun gehen, Frau von Kriebow!«

Klara standen die Augen voll Tränen. Sie umarmte die alte Frau zum Abschied statt aller Worte. Und als Hanning auf Befehl der Großmutter die Mütze abnahm und ihr noch einmal sein errötendes Kinderangesicht zeigte, da legte sie ihm in einer plötzlichen heißen Aufwallung die Hände um den Nacken, beugte sich hinab und blickte ihm in die unschuldigen Augen.

Der Knabe wußte nicht, wie ihm geschah, verwirrt blickte er nach der Großmutter hin. Und als er nun gar beide Frauen weinen sah, wurde ihm bang zumute; er versuchte sich loszumachen. Klara strich ihm über das Haar und entließ ihn.

»Kumm, Hanning! Wi willen nu gahn. Un vergeet dit heer all dien Lewdag nich! Eens wast du ook verstahn, mien Jung', wat all dit tau bedüden hett,« sagte die alte Frau und schritt mit dem Enkelkinde an der Hand langsam von dannen.

Als sie an der Kirchhofseinfriedigung stand, wandte sie sich um. Beide Frauen winkten einander noch einmal zu.

 


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