Wilhelm von Polenz
Der Grabenhäger
Wilhelm von Polenz

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I.

Für Grabenhagen war heute ein wichtiger Tag; der Einzug der Herrschaft wurde erwartet. Herr von Kriebow war seit einem Vierteljahr verheiratet. Die Flitterwochen hatte das junge Paar in der Schweiz und in Oberitalien zugebracht. Schon seit Wochen erwartete Grabenhagen seinen Herrn, aber immer wieder war ein Brief gekommen, der die Ankunft hinausschob. Nun endlich, wo der größte Teil der Ernte schon eingebracht war, wollte er kommen, um die Zügel der Regierung selbst in die Hand zu nehmen.

Der Inspektor hatte den Kopf voll; es galt ja nicht nur Herrn von Kriebow würdig zu empfangen, der seit dem Tode seines Vaters, also nun schon seit fünf Jahren, Besitzer von Grabenhagen war, es galt heute vor allem auch, die junge Frau zu feiern, die ihren Fuß überhaupt noch nicht auf Grabenhäger Boden gesetzt hatte.

Das Wetter war so günstig wie nur möglich: ein klarer, warmer Augustnachmittag. Inspektor Heilmann hatte schon seit Tagen Vorbereitungen treffen lassen: zwei Ehrenpforten waren errichtet, eine am Eingang des Gutshofes, eine zweite dort, wo der Fahrweg eine scharfe Ecke macht, kurz ehe er auf dem breiten Platz vor dem Herrenhause ausmündet. Der Kies war sauber geharkt, die Rasenplätze frisch gemäht, die Prellsteine mit 2 Kalkfarbe gestrichen. Grabenhagen wollte sich an einem solchen Tage im besten Lichte zeigen.

Am Hause entlang waren die Dienstleute aufgestellt, eine stattliche Zahl: die Pferdeknechte und Ochsenknechte, die Kuh- und Schweinefütterer, die Mägde und Außenmädchen, der Statthalter, der Schäfermeister, der Schirrmeister und der Gärtner. Dann die Katenleute und die Hofegänger. Frauen mit Kindern auf dem Arme. Die Schuljugend, die vom Lehrer zu Ehren des Tages einen freien Nachmittag erhalten hatte. Sogar die fremden Schnitter, die der Inspektor gar nicht bestellt hatte, waren aus ihrer Akkordarbeit weggelaufen, um das große Ereignis mitzuerleben; die Neugier war doch zu groß gewesen!

Inspektor Heilmann hatte bisher völlig selbständig gewirtschaftet. Der Herr war nur selten und dann meist in Gesellschaft von Regimentskameraden von Berlin aus nach Grabenhagen gekommen. Bei solchen Gelegenheiten hatte Herr von Kriebow sich auch mehr dem Sport gewidmet als der Landwirtschaft. Der Beamte hatte nicht zu klagen gehabt. Einen liebenswürdigeren Herrn als den jungen Erich von Kriebow konnte man sich nicht wünschen: in den Gang der Wirtschaft hatte er niemals eingegriffen; ganz offen gestand er ein, daß ihn das langweile und daß er davon zu wenig verstehe.

Nach Ansicht des alten Beamten hatte Herr von Kriebow den Abschied viel zu zeitig genommen. Wäre es nach Heilmanns Wunsch gegangen, dann hätte sein Herr bis zum Eskadronschef, ja noch besser bis zum Regimentskommandeur weiterdienen können.

Es war doch alles so schön glatt abgegangen bisher! Die Hauptsache war immer gewesen, daß die Einkünfte des Gutes möglichst prompt eingingen. Das Geld 3 wurde an ein Berliner Bankhaus eingezahlt auf das Konto des Leutnants von Kriebow. Gelegentlich hatte der Herr auch außer der Zeit größere oder kleinere Summen verlangt, und auch das war beschafft worden. Halbjährlich schickte der Beamte die Bücher und Rechnungen ein an Herrn von Kriebow zur Prüfung. Ob der Herr sie überhaupt ansehe, wußte der Beamte nicht; jedenfalls hatte Kriebow nie Gelegenheit genommen, eine Ausstellung zu machen.

Warum also, wo alles so am Schnürchen ging, auf einmal diese Umwälzung!

Auch andere gab es noch auf dem Grabenhäger Hofe, die nicht zufrieden waren, daß Erich von Kriebow jetzt mit seiner jungen Frau nach Grabenhagen kommen und hier haushalten wollte.

Da war das Ehepaar Kruke. Sie hatten gute Tage gesehen, während der Herr in Berlin war. Ihr Amt bestand darin, das Haus in Ordnung zu halten während seiner Abwesenheit. Sie hatten es sich bei schönem Gehalt und guter Verpflegung wohl sein lassen. Ob das so weiter gehen würde wie bisher, wer konnte das wissen! Von dem Charakter der jungen Frau wußte man nichts; sie stammte nicht aus der Gegend; von weither hatte er sich die Braut geholt. Wes Geistes Kind mochte sie sein? –

Einmal hatte sich das Gerücht verbreitet, sie sei so arm, daß sie sich nicht einmal das Hochzeitskleid habe anschaffen können; aber dann erschienen einige Möbelwagen in Grabenhagen, die die Ausstattung der jungen Frau enthielten; die mächtigen Fahrzeuge machten gewaltiges Aufsehen und brachten dieses Gerücht zum Schweigen.

Man war wirklich sehr gespannt auf Erich von 4 Kriebows Gattin, nicht bloß in Grabenhagen selbst, nein, in der ganzen Gegend; es lag dieser Wißbegierde vielleicht etwas Verdruß zugrunde: es gab doch in der näheren Umgebung wirklich genug mannbare Töchter, daß ein junger, wohlsituierter Mann es nicht nötig hatte, eine Dame von auswärts zu freien, die niemand hier kannte. Und nun tat das junge Paar den neugierigen Gemütern auch noch den Kummer an, eine Hochzeitsreise von drei Monaten zu unternehmen! –

Eines Tages kam eine alte Dame in Grabenhagen an: Frau von Lenkstädt, die Mutter der jungen Frau von Kriebow. Sie wollte das Haus für das junge Paar einrichten, erklärte sie. Frau Kruke machte anfangs den Versuch, sich dem zu widersetzen; aber sie mußte die schmerzliche Erfahrung machen, daß sie hier an einen überlegenen Willen geraten sei. Das waren keine guten Aussichten, wenn die künftige Herrin der Mutter nur einigermaßen ähnelte; dann würde es wohl mit der bisherigen Behaglichkeit im Grabenhäger Hause vorbei sein.

Frau von Lenkstädt hatte sich einen Tischler und einen Tapezier mitgebracht; und das war gut, denn auf Grabenhagen gab es außer dem Schmied und dem Schirrmeister keine Handwerker. Mit Hilfe ihrer Leute hatte die alte Dame dann das in der Abwesenheit des Besitzers stark vernachlässigte Wohnhaus von unten bis oben neu aufgefrischt und hergestellt. – –

Jetzt wurde das Nahen des Wagens, der das junge Paar von der Bahnstation bringen sollte, gemeldet. Inspektor Heilmann hatte nämlich einen Tagelöhner auf den Oberboden geschickt. Von dort war ein meilenweiter Rundblick über dieses flache Gelände ermöglicht. Der Mann im Auslug hatte soeben von seinem Posten 5 herabgerufen, der Wagen sei in der Wegekrümmung an der Langendammer Grenze zu sehen.

Der Grabenhäger war also bereits auf eigenem Grund und Boden; aber es konnte noch eine geraume Weile dauern, ehe er auf seinem Hofe eintraf.

Der Schullehrer, ein alter Krieger, der drei Feldzüge mitgemacht hatte, ging immer wieder die Front ab, die Richtung korrigierend. Da war ein Knecht zu klein für das erste Glied; er wurde hintergesteckt und ein größerer vorgeholt. Dort paßte dem wählerischen Geschmacke des Dorfschulmeisters die Physiognomie einer Magd nicht; sie wurde durch eine gefälligere ersetzt. Ein Regimentskommandeur am Paradetage konnte nicht kritischer sein, als hier Küster Klinguth verfuhr. Wie der hagere Alte so einherstorchte, im engen, abgeschabten, ehemals schwarzen Rocke, mit verwilderter Perücke, die nach allen Richtungen sträubend unter der Angströhre von vorsintflutlicher Form hervorguckte, glich er einem gravitätischen Vogel mit dürren Beinen und aufgeblähtem Gefieder. Der Mann sah ein wenig verstaubt aus; dreißig Jahre in Grabenhagen Schulmeister mit tausend Mark jährlich, das war auch nicht danach, um stets im neuen Rock und blanken Zylinder einherzugehen. Seine jetzige Gewandung hatte er sich zur Hochzeit neu angeschafft, und das war nun auch schon so manch liebes Jahr her. Aber wenn der Rock auch verschossen war, es hingen einige blanke Denkmünzen daran: Ehrenzeichen, die Klinguth sich im Felde verdient hatte.

Jetzt kam auch auf einem Seitenwege durch den Park der Herr Pastor herbei mit seiner Ehehälfte. Ein kleiner, schmächtiger Mann, der Pfarrherr, von bleicher Gesichtsfarbe, unscheinbar wie sein Kirchlein, dessen schindelgedeckter Turm mit dem stumpfen Helm von den 6 Bäumen der herrschaftlichen Anlagen völlig in Schatten gestellt wurde. Aber dafür hatte die Frau Pastorin alles, was ihrem Gatten an Liebreiz und Stattlichkeit abging, in ihrem rosig frischen Gesicht und ihrer rundlichen, von Gesundheit strotzenden Gestalt vereinigt.

Im Herrenhaus öffnete sich im ersten Stockwerk ein Fenster; das würdige Gesicht einer älteren Dame erschien dort; Herr und Frau Pastor möchten doch heraufkommen. Der Geistliche grüßte mit dem Hute, und die Frau Pastorin knickste ihren schönsten Knicks, der trotz ihrer Fülle äußerst zierlich ausfiel. Frau von Lenkstädts Aufforderung lehnten sie jedoch ab; der Pastor meinte, er wolle bei den Leuten bleiben zum Empfange des Patrons.

Und nun kam der Wagen endlich, davor die bekannten Füchse, die Leutnant von Kriebow schon in Berlin gefahren hatte. Franz, sein ehemaliger Bursche und nunmehriger Leibkutscher, auf dem Bocke.

Aller Blicke waren gespannt; vor allem, wie die junge Frau aussehe, wollte ein jeder wissen, natürlich. Wie die Füchse in schlankem Trabe an der Reihe der Harrenden vorbeisausten, erblickte man im Rücksitze des Wagens etwas Lichtes, Duftiges, unter einem Strohhut mit flatterndem Schleier ein schmales, feines Gesicht..

Der Wagen hielt noch kaum vor der Haustür, als Kriebow auch schon herausgesprungen war, um seiner Gattin beim Aussteigen zu helfen. Dann sah man neben der kräftigen Gestalt des Grabenhägers die schlanke und schmiegsame seiner jungen Frau.

Das also war die neue Herrin! – Krischan Wurten, der alte Schmied, der am Flügel stand, und der so der jungen Frau aus nächster Nähe ins Gesicht blicken konnte, sagte zu sich: »De Fru de is wat! dor is hei nich mit bedragen.« Und Krischan Wurten war ein Kenner. Er 7 hatte als so eine Art von Viehdoktor geheime Kunde vom Zusammenhange des Leibes und der Seele. Er gab viel auf den ersten Eindruck, den eine Physiognomie machte, sei es, daß es sich um Tier oder Mensch handelte. Wenn Krischan von einem Fohlen sagte: »Dat is 'n Fahlen, dor kann en gaud Pird ut warden« – dann konnte man sich darauf verlassen, dann war es so.

Kriebow war überrascht durch den Empfang; das hatte er nicht erwartet. Er hieß Franz beiseite fahren, dann sagte er seiner Frau halblaut etwas ins Ohr und schritt mit ihr auf den Inspektor zu, der mit entblößtem Haupte vor der Front stand.

»Guten Tag, Heilmann! Was macht Ihr denn für großartige Geschichten! Das ist ja, als ob ein Fürst Einzug hielte!«

Heilmann murmelte: die Leute hätten sich's nun mal nicht nehmen lassen. –

»Der Herr Pastor, und die Frau Pastorin sogar!« rief Kriebow.

Die rosige Frau Pastorin wußte einen ihrer appetitlichen Knickse anzubringen.

»Kläre! Hier ist unser Herr Lehrer Klinguth. Kann mich auf seinen Rohrstock noch ganz gut besinnen! Was alter Krieger! Wissen Sie noch?«

Der Angeredete stand stramm in militärischer Haltung, er verzog das verwitterte, graubärtige Angesicht zu einem erfreuten Grinsen, sichtlich geehrt, daß Herr von Kriebow seine erzieherische Einwirkung auf ihn nachträglich so günstig beurteilte.

»Und hier ist unser Statthalter! Na, Kraug, wo geiht dat? Und oller Panse, wat maakt dat Swintüg? – Das ist nämlich der Schweinefütterer, ein wichtiger Posten!« – fügte er erläuternd hinzu.

8 So ging es weiter mit Händedrücken und Anreden. Alle Leute, auf deren Namen und Beschäftigung er sich nur irgend besinnen konnte, stellte Kriebow der jungen Frau vor.

Als sie die Reihe durch waren und dem Hause zuschritten, kommandierte der Schulmeister ein Hoch auf die Herrschaft, in das alle laut und kräftig einfielen.

In der Tür kehrte die junge Frau noch einmal um, als sei ihr etwas eingefallen. Sie trat zu der Pastorin: ob sie nicht mit dem Herrn Pastor hereinkommen wolle? Die Frau Pastorin errötete und versicherte unter zahlreichen Knicksen: man wolle die Herrschaften heute nicht stören, ein andermal aber werde man sich erlauben. –

Nachdem der Empfang glücklich überstanden war, eilte Klara ins Haus, an ihrem Manne vorbei, die Treppe hinauf. »Warte nur, Klärchen! Warte doch auf mich!« rief ihr Kriebow nach. »Du kennst ja den Weg noch gar nicht!« Aber da gab es kein Halten; »Mamachen!« – Sie hatte bei der Anfahrt die Mutter oben am Fenster erkannt, die Mutter, die sie seit dem Abend des Hochzeitstages nicht mehr gesehen hatte.

Frau von Lenkstädt war ihr zur Treppe entgegengegangen. Von oben aus hatte sie die Tochter längst mit Auge und Hand begrüßt.

»Mamachen! ach, Mamachen!« . . . . . . Das übrige erstickte die Umarmung.

»Komm, Kind! Wir wollen ins Zimmer gehen. Hier ist's so dunkel; ich kann gar nicht mal erkennen, wie du eigentlich aussiehst.«

Die alte Dame öffnete die nächste Tür. »Nu will ich nur mal« . . . . . .

Aber Klara ließ die Mutter nicht dazu kommen, 9 sie in Ruhe zu betrachten. Sie hatte ungezählte Fragen: nach dem Vater, nach den Brüdern, wie alles gehe und stehe in Burgwerda.

Die Mutter gab lächelnd Antwort: »Wir sind in Grabenhagen. Sieh dich doch nur mal erst hier um, Klärchen!«

Die junge Frau warf einen Blick auf das Zimmer: alles glänzte vor Neuheit. »Ach Gott, meine Ausstattung! Wie sich das hier ganz anders ausnimmt!« – Damit schien Klaras Interesse hieran erschöpft. Wieder ging es ans Fragen: wie die Eltern ihre Zeit zugebracht hätten seit der Hochzeit. Wie es mit der Gesundheit des Vaters stehe, ob ihn in diesem Herbst der Rheumatismus heimgesucht habe. Und dann die Freunde in Burgwerda selbst und der Nachbarschaft. Wie ging es Elise, und was machten die Radenhausens? –

Frau von Lenkstädt berichtete in Kürze, was sie wußte. Daß Klärchen nach allen diesen Dingen jetzt fragte! – Sie hätte lieber über ganz anderes mit der jungen Frau gesprochen. Jetzt wo sie verheiratet war, konnte man doch endlich ein offenes Wort mit ihr reden. Klärchen hatte ihr doch gewiß etwas zu berichten, mußte doch Neuigkeiten für sie haben. –

An dem forschenden Blicke, der auf ihr ruhte, erkannte Klara mit einem Male, was die Mutter eigentlich von ihr wissen wolle. Sie verstummte mit verlegener Miene, war auf einmal wie verschlossen.

Frau von Lenkstädt erkannte darin ihre Klara wieder. Also, das hatte sich nicht geändert!

Daß die Ehe damit nicht aufgeräumt hatte! Närrisches Kind! Deshalb sich so anzustellen! – Es war so natürlich für Frau von Lenkstädt, eine Mutter von sechs 10 Kindern, daran in erster Linie, als an das Wissenswerteste von allem, zu denken.

Jetzt kam Erich. Seine Begrüßung mit der alten Dame war herzlich. Er hatte schnell einen Rundgang durch das Haus gemacht und war entzückt.

»Das müßtest du nur alles mal vorher gesehen haben, wie das aussah. Ich hab's gar nicht gewagt, dich hierher zu bringen; du würdest dich wahrscheinlich geweigert haben, einen Menschen mit solch einer Behausung zu nehmen. Die Tapeten verschossen und in Fetzen, die Scheiben blind, keine Tür richtig schließend, kalt und modrig die ganze Geschichte – so war's bei mir. Und jetzt alles so schick und komfortabel. Man traut seinen Augen kaum! – Mama, gestatte, daß ich dir die Hand küsse.«

Frau von Lenkstädt wußte das zu verhindern, küßte ihren Schwiegersohn aber anstatt dessen herzhaft auf die Wange.

»Kinder, ich hoffe, ich habe das Richtige getroffen!– Aber, nun will ich was von euch wissen, nun erzählt mir mal! – Und überhaupt, wenn man so vier Wochen ganz allein gehaust hat, da wird man neugierig!«

Erich ließ sich das nicht zweimal sagen. Er war voll von neuen Eindrücken und Erlebnissen. Er begann zu berichten: von den Städten, die sie gesehen, den Menschen, den kleinen Reiseabenteuern. Einzelne Hotels hob er lobend hervor, in anderen war das Essen schlecht, oder die Betten miserabel, oder die Bedienung ließ zu wünschen übrig. Das Wetter war gut gewesen bis auf einige Tage, wo es geregnet; da hatten sie meist Briefe geschrieben. Schließlich, als Kriebow gar nichts mehr wußte, begann er von Kirchen zu erzählen, in denen sie gewesen, und von Kunstwerken, die sie betrachtet hatten.

11 Frau von Lenkstädt hörte ihm lächelnd zu, wie er voll Lebhaftigkeit erzählte und von Zeit zu Zeit Klärchen zum Zeugen anrief, daß es so richtig sei. Seine liebenswürdige Art nahm auch jetzt wieder die Schwiegermutter völlig gefangen.

Aber, was sie so gern gewußt hätte, erfuhr sie auch von ihm nicht.

* * *

Als die junge Frau am nächsten Morgen erwachte, sah sie sich erstaunt um; es bedurfte einiger Überlegung, bis sie sich klar geworden, wo sie sich eigentlich befinde: in der neuen Heimat! –

Ein freudiger Schreck durchfuhr sie.

Sie sah sich im Zimmer um. Durch die Fenstervorhänge fiel ein rötlicher Schimmer: die Frühsonne! auf dem weißen Linnen des Bettüberzuges lagen zitternde Streifen und Vierecke, der Widerschein des Lichtes von draußen.

Die seidenen Vorhänge des Himmelbettes, die Malerei an der Decke, das großblumige Muster der Tapete, alles neu und interessant. Dann fiel ihr Blick auf bekanntere Gegenstände; sie erkannte ihre Ausstattung wieder. Welch ein sonderbares Gefühl, diese Sachen jetzt alle hier zu sehen. Dort auf dem Toilettentisch der silberumrahmte Spiegel, das Erbstück von einer Pate, das sie Zeit ihres Lebens begleitet hatte. Auf dem Kaminsims die kleine Figur, einen zierlichen Hirsch darstellend, aus mattem Glas auf einem Untersatz von schwarzem Ebenholz. Hieran knüpfte sich in ihrer Erinnerung eine ganze Geschichte: den Hirsch hatte ihr der Vater geschenkt, als sie siebenjährig zum ersten Male in ihrem Leben in die Stadt gekommen war. Der 12 Vater hatte sie auf dem Rückwege gefragt, was in der Stadt ihr am besten gefallen habe; ihre Antwort war gewesen: jenes gläserne Hirschlein, das sie in einem Schaufenster gesehen. Nie hatte das Kind es für möglich gehalten, daß man einen solchen Schatz erwerben könne, denn die Leute, die etwas so Entzückendes besaßen, würden es doch sicherlich niemals hergeben. Darauf fand sie am nächsten Morgen, beim Erwachen, das Figürchen vor sich auf dem Bette. Unvergeßlich war ihr durch all die Jahre hindurch die Freude geblieben, die sie damals empfunden. Ihr Herz jubelte auch heute wieder, als sie diesen Freund aus ihrer Kinderzeit wiedererkannte. Ihr guter Vater! – Diese Überraschung war so charakteristisch für seine freundliche Art. Daß sie sich von dem Vater hatte trennen müssen, das war doch das Schwerste gewesen von allem.

Ein Vierteljahr lag zwischen heute und dem Hochzeitstage. Wie wenig war das, wenn man nach dem Kalender rechnete: ein Sommer, weiter nichts! Und wieviel bedeutete der Abschnitt für ihr Leben! – zwischen damals und jetzt lag eine Kluft, in der vieles versunken, was ihr kostbar gewesen war und teuer. Viel, viel mehr hatte sie aufgegeben, als bloß ihren Namen. Eines war unwiederbringlich für sie verloren: ihr Mädchentum.

Nie war sie sich dessen so bewußt geworden wie an diesem Morgen, wo die altvertrauten Zeugen ihrer Kindheit sie so fremd ansahen im neuen Heim.

Es war Klara einen Augenblick, als solle sie trauern; aber sie überwand diese Regung. Wenn es auch schmerzlich gewesen, aufzugeben, was man bis dahin als sein eigenstes und kostbarstes Heiligtum bewahrt hatte, so war es doch geschehen um der Liebe willen. Sie hatte gewußt, was sie tat. Jedes Glück 13 will mit Schmerz bezahlt sein. Und sie hatte ein Glück gewonnen.

Ihr war zu Sinn an diesem Morgen wie einem Menschen, der eine Weile rüstig vor sich hin geschritten ist und der nun, wo er für einen Augenblick Halt macht und sich umschaut, erst sieht, wieviel Luft sich zwischen ihn und seinen Ausgang geschoben. Ganz da unten in der Ruhe weiter Fernen lag die Heimat, die Kindheit, die Jungfrauschaft; als könne sie es mit der Hand greifen, und doch so unendlich weit entrückt. Sie sagte sich, ohne zu frösteln, daß sie alles das gehabt habe, und daß sie nie wieder, als dieselbe, denselben Weg betreten könne.

Es war nur ein kurzes Verweilen, ein Fazit, wie wir es manchmal in einer nachdenklichen Minute vom ganzen Leben ziehen; dann erhob sie sich auch schon wieder von der Rast, gesonnen, mutig weiterzuschreiten.

Jetzt vernahm man allerhand Töne und Stimmen von draußen, die den anbrechenden Arbeitstag verkündeten: das Rasseln der Hofeklapper, welche die Arbeiter zusammenrief, menschliche Stimmen, dazwischen das Blöken des Viehs, Hufklappern und Wagengeratter.

Wie mochte es da draußen aussehen? Klara richtete sich in den Kissen auf, durch einen Blick überzeugte sie sich, daß Erich noch fest schlafe. Sie erhob sich, wohl darauf bedacht, ihn nicht zu wecken. Am Abend zuvor hatten sie die Fenster offen gelassen hinter den Rollvorhängen. Sie zog den einen in die Höhe und blickte hinaus.

Also das war Grabenhagen!

Vor ihr lag das Dorf: einige dreißig meist strohgedeckter Katen. Hinter den bescheidenen Häuschen mit ihren Holzställchen und eingezäuntem Gemüseland 14 begann sogleich das Feld. Nichts Großes war in dieser Landschaft ohne Hintergrund, der Horizont flach, keine Abwechslung von Berg und Tal.

Wie verschieden dieser Anblick von dem, was sie von der Heimat her gewohnt war. Wenn sie in Burgwerda zum Fenster hinausblickte, sah sie tief unten am Fuße des Burgfelsens das Städtchen liegen – das mit dem väterlichen Schlosse gleichen Namen hatte –, Häuser und Gassenplätze eng zusammengedrängt in das schmale Tal eines Flüßchens. Und wenn ihr Blick weiter hinausschweifte, dann versank er in dem dunklen Grün herrlicher Waldungen, welche die Abhänge der heimischen Bergketten bedeckten.

Und dagegen hier die Kahlheit der Ackerebene!

Und doch war auch in diesem Bilde Schönheit, wenn sie sich auch nicht aufdrängte. Wogende Ährenfelder und saftig grüne Wiesen, daneben schon die Leichenfarbe der Ackerscholle. Hie und da ein einzelner Baum wie ein Riesenpilz mit seiner breiten Krone. Dort ein kecker Pinselstrich: ein safrangelbes Lupinenfeld. Und weiter draußen der duftige Übergang der einzelnen Töne in den Dunst der Ferne. Darüber der wolkenlose Augusthimmel.

Im Dorfe war Leben. Da marschierte eine Abteilung Schnitter, die Sensen wohlverwahrt im Schuh, über der Schulter, auf der staubigen Straße hinaus. Dann kamen Erntewagen, mit Vieren bespannt; spielend zogen die starken Pferde die leeren Wagen, querfeldein über den Stoppel, daß Burschen und Mädchen, die darin saßen, sich an den Stricken festhalten mußten. Hell leuchteten die weißen Hemdsärmel und die bunten Tücher im grellen Sonnenschein. Langsam zogen Schafe auf die Brache hinaus, an jedem Hälmchen unterwegs 15 zupfend in unruhigem Gewimmel, eine weißliche Wolke Staubes auftreibend; gemächlich schritt der alte Schäfer hinterdrein, dem Hunde die Leitung der Herde überlassend.

Aus den Essen der Katen wirbelte der Rauch auf; die Hausfrauen waren also tätig. Wer mochte in diesen Hütten wohnen?

Das waren ihre Katen! Erich hatte es ihr ja mit Stolz wiederholt gesagt: kein Fuß breit Land war in Grabenhagen, der nicht ihm gehörte; das Dorf, mit allem was darinnen, eingerechnet. Er hatte ihr begeisterte Schilderungen gegeben von dem Charakter seiner Leute: wie treu sie seien, wie ehrlich und wie anhänglich an die Herrschaft. Ganz anders müsse sie sich das Leben hier vorstellen als in ihrer Heimat, wo von wirklich »patriarchalischen Zuständen« keine Rede mehr sei.

Und hier war sie nun die Herrin! Dies sollte in Zukunft ihr Bereich sein, ihr Wirkungskreis. Denn das hatte ihr Erich auch schon erklärt: so wie es die Damen in anderen Gegenden vielfach machten, auf dem Lande leben wie die Städterinnen, um nichts sich kümmernd, alles den Dienstboten überlassend, das war hier unmöglich. Er hatte ihr den weitläufigen Apparat der Gutswirtschaft auseinanderzusetzen versucht: das Hauswesen, die Außenwirtschaft und wie das alles ineinandergriff. Er hatte sie auch darauf vorbereitet, wie schwer sie sich in das Getriebe finden werde. Aber sie hatte sich nicht bange machen lassen. Wenn man mit Liebe heranging an Menschen und Dinge, dann mußten sie sich fügen! Und sie liebte dieses Grabenhagen ja schon: das Dorf da unten, die Katen, die Menschen darinnen, ohne sie zu kennen. Denn diese da waren ihr anvertraut, mit allen ihren Sorgen und Nöten; sie sollten ihr ja 16 auch einen Ersatz bieten für die Armen, die sie daheim in Burgwerda hatte verlassen müssen.

Jetzt öffnete sich hier und da eine Tür. Kinder traten hinaus und eilten am Herrenhause vorbei alle in einer Richtung von dannen. Dort hinten müsse wohl also die Schule liegen, folgerte Klara. Das war ein Zwitschern wie von einem Flug Stare. Sie neckten und haschten sich, den Schulweg zum Spielen benutzend, eines guckte noch schnell ins Buch, wohl im Bewußtsein, daß die Lektion nicht ganz fest sitze.

Jetzt trat aus der Tür der nächstgelegenen Kate eine Frau, an der Hand einen Knaben führend. Es war ein winziges Kerlchen, schleppte sich aber schon mit Büchern, Tafel und Heften.

Klara konnte die Züge von Mutter und Kind genau erkennen.. Die Frau war sauber gekleidet und hatte ein angenehmes Gesicht. Sie ging ein Stückchen Wegs mit dem Kinde, dann beugte sie sich nieder und sagte ihm etwas. Die Worte waren für Klara unverständlich, aber aus jeder Bewegung war Zärtlichkeit zu lesen. Der Junge, der die ganze Zeit über schon den anderen Kindern nachgeblickt hatte, nickte nur mit dem Kopfe und sprang, sobald ihn die Mutter freigelassen, ausgelassen wie ein Böckchen den Kameraden nach.

Die Frau blieb noch eine Weile auf ihrem Platze, die Hand über die Augen haltend zum Schutz gegen die Sonne. Wie sie so stand, war zu erkennen, daß sie erwarte.

Es war ein durchaus einfacher Vorgang, aber Klara war ihm mit atemloser Spannung gefolgt. Was sie daran so ergreifend fand, daß es ihr die Tränen zu den Augen trieb, wußte sie selbst nicht.

* * *

17 Währenddessen saß einen Stock tiefer im Eßzimmer Frau von Lenkstädt am Frühstückstisch. Sie hatte längst ihren Tee getrunken und wartete nun auf die Kinder.

Daß Klärchen sich so gar nicht verändert hatte! Nur den Namen hatte sie gewechselt, sonst schien alles beim alten geblieben zu sein. Sie war ja eben schon als Mädchen so fertig gewesen; man hätte sich das eigentlich denken können.

Als Kind schon war sie ein kleiner Starrkopf, schwer zu verstehen in ihren Bedürfnissen und schwer zu behandeln. Nur der Vater mit seiner Milde hatte etwas bei der Kleinen durchzusetzen vermocht. Und was sich im frühen Kindesalter wie Laune ausgenommen, entwickelte sich bei der Jungfrau zu einem ungewöhnlich starken Selbstbewußtsein. Was hatte es für Kämpfe gegeben mit den Brüdern! Eigentlich waren die wilden Jungens ja alle verliebt in die einzige Schwester, unendlich stolz fühlten sie sich auf ihre Kläre; aber natürlich versuchten sie auch an ihr zu erziehen, und das war bei Klara schlecht angebracht.

Eigentümlich war es, daß Klara niemals Hilfe bei der Mutter suchte; alle ihre Kämpfe wurden von ihr allein durchgefochten. Nie, seit die Kleine den Unarten der Kinderstube entwachsen, hatte Frau von Lenkstädt Grund zu Klagen gehabt über Klara; sie war voll Respekt gegen die Mutter, aber das Vertrauen, die rückhaltlose Hingabe ihres Kindes, hatte Frau von Lenkstädt niemals besessen.

Viel inniger war das Verhältnis zwischen Tochter und Vater. Das Mitleid hatte das Gemüt des Kindes zu dem gichtischen, häufig an den Krankenstuhl gefesselten Mann gezogen. Vielleicht sprach da auch das Gerechtigkeitsgefühl mit, das frühzeitg bei dem jungen Mädchen 18 entwickelt war: Sie sah, daß der zarte, kränkelnde Vater nicht zu voller Geltung kam der kerngesunden, lebhaften energischen Mutter gegenüber. Unwillkürlich nahm da das Kind Partei; der Vater aber brauchte den Umgang mit dem Kinde wie das tägliche Brot. Mit dem Egoismus des Kranken nahm er das junge Leben ganz für sich in Anspruch. In einem Alter, wo andere junge Mädchen dem Vergnügen nachgehen, oder wo sie im Ballsaale von den Eltern auf die Suche nach dem Manne geführt werden, blieb Klara in dem einsamen Burgwerda, ganz dem Samariterdienste gewidmet.

Außer dem Vater gab es da noch viele andere, die ihre Hilfe in Anspruch nahmen. Helfen, das war die natürliche Betätigung, in der sie sich wohl fühlte. Sie suchte nicht nach dem Elend, aber wo es ihr in den Weg trat, griff sie zu. Es war mit der Zeit in Burgwerda ganz selbstverständlich geworden für die Hilfsbedürftigen, sich mit seinen Anliegen an Kläre von Lenkstädt zu wenden.

Die Lücke war groß, die hier durch Klaras Weggang gerissen wurde. Der Vater erschien mit einem Male um Jahre gealtert, sank vollends in sich zusammen. Die Brüder zeigten sich, wenn sie fortan ins väterliche Haus kamen, lauter und ungenierter als früher. Jetzt erst kam zutage, was dieses Mädchen seiner Umgebung bedeutet hatte. Alles schien nüchterner und gewöhnlicher geworden; als ob ein feiner Duft durch ihr Scheiden von den Dingen genommen wäre. Daß sich Klara zum Heiraten entschlossen, war für alle Welt eine große Überraschung gewesen, nicht am wenigsten für ihre eigene Mutter.

Sie hatten sich in Wildbad kennen gelernt. Klara war mit ihrem Vater dort, dem das Baden zur 19 Kräftigung verordnet worden war, und Erich, bei dem sich hin und wieder die Folgen einer beim Sturz auf der Rennbahn erlittenen Verletzung fühlbar machten, brauchte ebenfalls die Heilquellen.

Die Aufmerksamkeit des jungen Mannes war bei Klaras erstem Anblick rege geworden. Ihre liebliche Erscheinung, ihr einfaches und dabei vornehmes Auftreten, die das wohlerzogene Mädchen aus guter Familie verrieten, die reizende Art und Weise, wie sie den alten Herrn unterhielt und stützte, hatten ihm das Herz gefangen genommen. Es war ein Vergnügen, dem von fern zuzusehen; aber bald regte sich bei Erich der Wunsch, die liebenswürdige Krankenpflegerin auch persönlich kennen zu lernen. Dazu bedurfte es einiger Zeit; denn Vater und Tochter lebten zurückgezogen von der übrigen Badegesellschaft. Aber schließlich glückte es doch.

Bald gab es für ihn nur noch einen Wunsch: wie es ihm gelingen möchte, sich dieses Mädchen zu gewinnen. Er sah, daß er mit den Künsten, die er anderen jungen Damen gegenüber erfolgreich angewendet hatte, bei ihr nichts erreichen werde. Beim leichten Flirt, als Courmacher junger Frauen, in Liaisons, die nicht salonfähig waren, hatte Erich von Kriebow sich ein verächtliches Gehenlassen, eine absichtliche Arroganz des Tones in der Unterhaltung angewöhnt.

Er hatte das Unglück gehabt, die Mutter zeitig zu verlieren; die edelste und reinste Beeinflussung also des Mannes durch das Weib war ihm versagt geblieben.

Die Bekanntschaft mit Fräulein von Lenkstädt brachte ihm eine völlig neue Erfahrung: ein Mädchen, das sein Selbstgefühl behauptete ihm gegenüber, eine weibliche Person, die gerade die Eigenschaften an ihm, welche alle anderen bewunderten, kalt ablehnte, ja, die 20 ihm deutlich zu verstehen gab, daß er erst mal die Unarten des verhätschelten Löwen der Salons beiseite lassen müsse, ehe sie sich überhaupt mit ihm abgeben könne; eine solche Frau mußte ihm schon durch das Ungewohnte imponieren. Er beugte sich unwillkürlich vor der sittlichen Überlegenheit dieses jungen Dinges. Ihr klarer Blick, die unbestechliche Sicherheit ihres Urteils verwirrten und beschämten ihn. Und dabei hatte Klara nichts gesehen, nichts mitgemacht, jede Routine fehlte ihr; sie hatte seiner Lebemannserfahrung nichts entgegenzustellen als ihren natürlichen Takt. Da blieb gar nichts anderes für ihn übrig, als sich ganz einfach zu zeigen wie er war, nicht besser und nicht schlechter. Ihr gegenüber ließ er die Maske gesellschaftlicher Blasiertheit, als nutzlos, einmal völlig fallen.

Er gab sich dieser ersten reinen Neigung, die er empfinden durfte, mit rückhaltlosem Entzücken hin; wie Männer, die lange getändelt haben und genascht, wenn sie endlich auf den Geschmack der echten Liebe kommen, sich meist völlig an sie verlieren.

Aber irgendein Geständnis wagte er ihr nicht zu machen, aus Furcht, sie sich für immer zu verscherzen. Erst nachdem Herr von Lenkstädt mit Klara das Wildbad verlassen hatte, schrieb Kriebow einen Brief an den Vater, in dem er um die Hand der Tochter anhielt.

Er selbst war seiner Sache durchaus unsicher; kaum für möglich hielt er es, daß sie einwilligen werde. Aber die Antwort lautete glückverheißend; er wurde aufgefordert, nach Burgwerda zu kommen und sich der Familie vorzustellen.

Frau von Lenkstädt war von vornherein für die Verbindung eingenommen. Erich von Kriebow war ganz der Mann dazu, der alten Dame mit dem jungen 21 Herzen zu gefallen. Und dann: welche Mutter sähe ihre Tochter nicht gern unter der Haube! Sie vor allem, die mit sechzig Jahren noch nicht das Glück genossen hatte, ein Enkelkind in den Armen zu wiegen.

Auch vom Standpunkte der Versorgung bedeutete Klaras Verheiratung ein Glück. In der Lenkstädtschen Familie waren fünf Söhne; da blieb wenig übrig, die Zukunft der Tochter sicherzustellen. Klara machte für ein Mädchen, dem die Eltern nur die Ausstattung mitgeben konnten, eine gute Partie. Freilich hütete sich Frau von Lenkstädt, ihre Befriedigung darüber der Tochter merken zu lassen. Darin kannte sie Klara; das wäre das letzte gewesen, was diese zu ertragen vermocht hätte.

Das einzige, was die Mutter hätte bedenklich machen können, wenn sie sich Klara als Gattin dachte, war jenes Selbstbewußtsein, das diesem Kinde nun einmal angeboren war. Würde sie sich schicken wollen? würde sie sich fügen können? Wie würde ein Mann ihre herbe Eigenart ertragen? –

Frau von Lenkstädt hatte genug vom Leben und von den Menschen gesehen, um zu wissen, daß ein guter Teil der männlichen Neigung darauf beruht, sich als Beschützer und Erzieher fühlen zu wollen der schwachen Frau gegenüber. Sollte Kriebow darin anders sein als die anderen? Wenn er etwa auf den Einfall kam, Erziehungsversuche zu machen an Klara, dann war das Spiel verloren. Und auf der anderen Seite, sollte man von einem jungen, lebhaften, vom Geschick und der Gesellschaft stark verwöhnten Manne soviel Mäßigung erwarten, daß er auf das Recht, die angetraute Frau nach seinem Willen zu ziehen, gänzlich verzichtete? – War es nicht als sicher vorauszusehen, daß es hier zu starken Reibungen kommen mußte? –

22 Das, was die alte Dame allein bei solchen Befürchtungen zu trösten vermochte, war die Erkenntnis, daß Klara ihren Bräutigam wirklich liebte. Wer hätte diesem bis zur Sprödigkeit zurückhaltenden Mädchen jemals solche Zärtlichkeit und Hingebung zugetraut, wie sie Klara als Braut ganz offen an den Tag legte! Durch eine seltene Fügung, für die sie Gott nicht genug danken konnte, schien wirklich ihr Kind den rechten Mann gefunden zu haben.

Und vollends beruhigt hatten die alte Dame die Briefe, welche das junge Paar von der Hochzeitsreise geschickt. Sie pflegten gemeinsam zu schreiben. Erich, der keine Eltern mehr besaß, nannte die alten Lenkstädts jetzt »Vater« und »Mutter«. – Diese Briefe hatten nur von Glück zu erzählen gewußt.

Nun hatte die Mutter also das Nest für die Jungen vorbereitet. Sie war darüber selbst wieder ganz jung geworden. Während die alte Dame die Möbel stellen, die Bilder aufhängen und die Teppiche legen ließ, Küche und Kammern mit Vorräten versah und die Wäsche in die Schränke räumte, hatte die Erinnerung an den eigenen glücklichen Brautstand immer als freundliches Bild vor ihrem inneren Gesicht gestanden.

Das Grabenhäger Haus war ein altes, großes Familienhaus, an dem jede Generation etwas verändert hatte, so daß von dem ursprünglichen Bau nicht mehr viel übrig sein mochte. Es gab da eine Menge Gewölbe, Gänge, Winkel, Treppen und Treppchen, daß man als Fremder einige Zeit brauchte, sich zurechtzufinden. Kaum ein Zimmer hatte gleiche Ebene mit dem anderen. Auf Luxus und große Bequemlichkeit hatten die biederen Landedelleute, die hier gehaust, nicht viel gehalten, aber um so mehr auf Festigkeit und auf Raum. Daß hier 23 ehemals kampflustige Rittersleute gesessen hatten, davon gaben noch heute die kugelfesten Gewölbe im Grundstock, die vergitterten Schießscharten und manch anderer Überrest aus kriegerischer Zeit Kunde.

Frau von Lenkstädt mußte sehr bald einsehen, daß sie höchstens die Hälfte des geräumigen Hauses einrichten könne mit Klaras Ausstattung. Es waren zwar auch alte Möbel da, die zum Fideikommiß der Kriebowschen Familie gehörten; aber das war solch altes abgenutztes Gerümpel, daß man es besser in den Dachkammern aufgehoben ließ.

Die Zimmer, die jetzt noch leerstehen blieben, würden sich schon noch füllen mit der Zeit! – Mit innigem Vergnügen dachte die alte Dame an diese Aussichten. Eine Wiege hatte sie auf dem Boden auch gefunden; also da war vorgesehen! Ob man die schon aufstellen durfte? Es konnte der Mutter gar nicht schnell genug gehen. Aber schließlich ließ sie auch dieses Möbel wo es war; es schien am Ende doch besser mit solchen Vorkehrungen zu warten, bis man Näheres wissen würde.

Und dann war das junge Paar endlich gekommen. Frau von Lenkstädt war enttäuscht; eine bestimmte Annahme hatte sich so bei ihr festgesetzt, daß sie sie nur ärgerlich aufgab.

Wie lange sie heute ausblieben! Aber war es ihnen denn nicht zu gönnen: die erste Nacht im neuen Heim! Die alte Dame mußte unwillkürlich lächeln; wie gern wollte sie noch länger warten, da sie wußte, daß die Kinder ihr Glück genossen.

Endlich kamen sie: beide aufgeräumt, heiter und frisch, daß sich die Mutter wie angestrahlt fühlte von solchem Sonnenschein. Nun schwand der letzte Rest 24 ihrer Bedenklichkeit. Die beiden gehörten zusammen; für alles weitere wollte sie den lieben Gott sorgen lassen und die jungen Leute. –

Erich entwickelte während des Frühstücks einen Plan für den Tag. Die Mutter sollte Klara im Hause herumführen, sie in alle Geheimnisse ihrer Einrichtung einweihen. Er wollte unterdessen ausreiten, um sich die Außenwirtschaft zu besehen.

»Du mußt nämlich wissen, Mudding, ich muß jetzt enorm praktisch werden. Ich will jeden Morgen um fünf Uhr aufstehen.«

»Den Anfang hast du ja heute schon gemacht, Erich!« warf ihm die alte Dame ein, der der Schalk gelegentlich im Nacken saß.

»Ach heute! Das gilt noch nicht. Nach solcher Strapaze will man ausruhen, weißt du. – Aber von morgen ab – du wirst schon sehen – Mudding! Ich werde ein sehr genauer Herr sein, habe ich mir vorgenommen.« –

* * *

Kriebow ging, nachdem er sich im Hausflur unter dem dort aufbewahrten halben Dutzend Reitstöcken und Peitschen etwas Passendes ausgesucht hatte, nach dem Wirtschaftshof. Im Vorübergehen rief er Franzen zu, der, den gestern gebrauchten Wagen waschend, vor der Wagenremise stand, er möge ihm die »Zigeunerin« fertig machen.

Auf dem Hofe wurde der Herr längst erwartet. Der Inspektor hatte bereits seit einigen Tagen alles in besten Stand setzen lassen. Der gepflasterte Gang war gekehrt, in allen Ecken und Winkeln aufgeräumt, in den Ställen frische Streu aufgeschüttet. Die 25 Wagenburg stand tadellos aufgerichtet, jede Deichsel, wie es sich gehört, durch einen Pfahl gestützt. Im Schauer hatte der Schirrmeister Ordnung machen müssen unter den mannigfachen Geräten und Maschinen, die für gewöhnlich dort etwas kunterbunt durcheinander standen. Nichts war unterlassen worden, dem Ganzen einen sauberen und wohlgefälligen Anstrich zu geben, um das Auge des Herrn zu erfreuen.

Heilmann war seit etwa dreißig Jahren in Grabenhagen angestellt. Erichs Vater, Landesdirektor von Kriebow, hatte Heilmanns Begabung entdeckt und sich ihn herangezogen. Der alte Herr, der eine ganze Anzahl wichtiger Ämter in Kreis und Provinz innehatte, brauchte zur Vertretung auf seinem ausgedehnten Besitz einen durchaus zuverlässigen Mann, zumal seine Interessen mehr auf dem Gebiete der Politik lagen als auf dem der Landwirtschaft. Während eines großen Teils des Jahres hielt sich der Landesdirektor in Berlin auf, wo es ihm besser gefiel als in dem einsamen Grabenhagen; da er Abgeordneter für den Kreis war, hatte er auch stets einen passenden Vorwand, in der Hauptstadt zu leben. Als seine Gattin gestorben, und als schließlich Erich, sein einziges Kind, in Berlin eingetreten war, zog der alte Herr dann ganz in die Stadt.

Ohne einen Beamten wie Heilmann, dem er volles Vertrauen schenken durfte, wäre ihm das Fernleben von seinen Gütern kaum möglich gewesen. Und Erich, der sich, als sein Vater starb, noch nicht vom bunten Rocke trennen wollte, erblickte in dem alten Inspektor ein Juwel, dessen Wert man nicht hoch genug anschlagen konnte.

Mit abgezogenem Hute näherte sich Inspektor Heilmann seinem Herrn. »Bedecken, bitte bedecken!« rief 26 ihm Kriebow zu und reichte dem Alten die Hand. »Wie geht's denn mit dem Asthma, dies Jahr?«

»Es mahnt mich manchmal, gnädiger Herr! Aber ein paar Jahr, denke ich, mache ich trotzdem noch mit.«

»Das will ich mir ausgebeten haben, Heilmann! Jetzt kriegen Sie noch keinen Urlaub zu der Reise, mein Alter! Was sollte ich denn ohne Sie anfangen!«

»Sehr gnädig!« murmelte der Alte. »Sehr gnädig!«

Man war in den Kuhstall getreten. Reihe an Reihe standen hier die schönen Tiere, mit langen, geraden Rücken und kleinen Köpfen, von großer Gleichmäßigkeit in der Figur, das Produkt einer durch Jahrzehnte mit Sorgfalt getriebenen Züchtung. Der Viehstand war die starke Seite der Wirtschaft; durch seine fette Weide eignete sich Grabenhagen auch besonders zur Rindviehhaltung. Seine schwarzweiße Herde war Inspektor Heilmanns ganzer Stolz. Er machte den Herrn auf einzelne Tiere aufmerksam, rühmte ihre Vorzüge, nannte die Eltern. So ging es von einem Stand zum anderen, durch den ganzen weitläufigen Stall.

Dem jungen Gutsherrn wurde die Zeit schließlich lang. Merken konnte man sich das ja doch nicht, selbst wenn man sich Mühe gegeben hätte, wieviel die »Lark« täglich Milchertrag gab, ob die »Lisch« kürzlich gekalbt habe oder daß die »Im'm« altmelk sei. Aber, man mußte schließlich dem alten Manne zu Liebe Aufmerksamkeit an den Tag legen, um ihn nicht vor den Kopf zu stoßen.

Durch den Zugviehstall ging's in schnellerem Tempo, denn die Gespanne waren zum größeren Teil auf dem Acker. Auch die Schafe waren nicht zu Haus. Den Schweinen wurde noch ein Besuch abgestattet.

Heilmann klagte, daß es in diesem Jahre mit der 27 Schweinezucht nicht gut gegangen sei. Er habe starke Verluste durch die Rotlaufseuche gehabt. Überhaupt der Sommer sei schlecht gewesen, erklärte er: eine geringe Weizenernte, Gerste und Raps auch nicht glänzend; die Erträge aus der Holländerei zwar wie immer gute, aber dafür der Ausfall bei den Schweinen, und jetzt die niedrigen Fleischpreise, auch die Wollschafe sei er in anderen Jahren besser losgeworden. Nun stehe die ganze Hoffnung nur noch auf den Rüben. – Er müsse den Herrn darauf vorbereiten, daß der Jahresabschluß kein günstiger sein werde.

Kriebow nahm das nicht allzu ernst. Er kannte die Eigentümlichkeit des Alten: der malte gern etwas schwarz. Vielleicht war das sogar ein Kniff von ihm, um durch günstigere Resultate dann um so angenehmer zu überraschen. Wenn er auch noch so gefährlich getan, bis jetzt hatte der Inspektor das Geld, soviel von ihm verlangt worden war, doch noch immer zur rechten Zeit abgeliefert.

»Können Sie einen Ritt vertragen, Heilmann?« fragte Kriebow. »Ich wäre gern mal mit Ihnen über die Felder geritten.«

»Mit dem Reiten macht sich's noch so halbwegs. Der gnädige Herr müssen freilich Nachsicht haben; Carriere geht der alte ›Jacob‹ nicht mehr.«

Er bestellte sich bei einem der Knechte, der eben mit dem Viergespann vom Acker heimkehrte, seinen Schimmel. »Jacob« war ein ausrangiertes Soldatenpferd von der nahen Kavalleriegarnison. Seiner kräftigen Statur wegen war das Tier von Heilmann erstanden worden, der gut seine zwei Zentner in den Sattel brachte.

Man ritt auf dem Wege nach Langendamm zu, zuerst im Schritt; als aber Kriebow sah, daß sich der 28 alte Mann im Sattel ganz wohl zu fühlen schien, ließ er die »Zigeunerin«, eine Halbblutstute, die unter ihm manche Steeplechase mitgemacht, in Trab fallen.

In einiger Entfernung tauchten jetzt die Gespanne des Gutes auf. Kriebow litt es da nicht länger auf der Landstraße. Er rief dem Inspektor zu, er solle auf dem Wege weiterreiten; er selbst ließ die Braune über den Graben springen und sauste im Galopp über den Acker auf die Gespanne zu. Er ritt an jeden einzelnen der aus dem Sattel lenkenden Knechte heran, fragte nach den Pferden, ob sie gut fräßen und wie lange der Mann sie schon fahre. Dabei suchte er sich die Physiognomien der Leute einzuprägen. Das war ihm immer so schwer gefallen; für sein Pferdegedächtnis hingegen war er bei der Truppe bekannt gewesen. Nachdem er so die acht Gespanne, die hier arbeiteten, durchgesehen hatte, sprengte er zu seinem Inspektor zurück.

Man ritt weiter. Der junge Gutsherr hob sich wiederholt im Sattel, Umschau haltend. Was er von hier aus mit dem Blick umspannte, war sein Eigentum: Felder, Wiesen, Weiden, Koppeln, Gewässer, Wald. Nur ganz fern am Horizont eine kanggestreckte blaue Linie, das waren die Pröklitzer Tannen, die seinem Nachbar, Herrn Merten, dem Besitzer von Pröklitz, gehörten.

Welch ein Gefühl, sich so auf eigenem Grund und Boden zu wissen! Kriebow hatte dieses stolze Herrscherbewußtsein noch nie so stark empfunden wie an diesem Herbstmorgen.

Früher hatte er sich das gar nicht so klar gemacht, was es bedeute, ein Stück Erde ganz zu eigen zu haben, darauf schalten und walten zu dürfen, daraus machen zu können, was man für recht hielt. Als sein Vater unerwartet starb, war Erich von Kriebow kaum 29 vorbereitet, einen so umfangreichen und wertvollen Besitz zu übernehmen. Fast wie eine Last erschien ihm dieses Familienfideikommiß, das ihm, dem einzigen Nachkommen der ältesten Linie, zufiel. Mit bewußter Blasiertheit pflegte er im Kasino oder Klub von seiner »Hitsche dahinten« zu sprechen. Im Alter, meinte er, wolle er sich dahin zurückziehen, um seinen Kohl zu bauen und Kartoffelfurchen auszurichten.

Damals war er noch mit Passion Offizier. Stets hatte er bevorzugte Kommandos. Er war auf Kriegsakademie gewesen und wurde für zwei Jahre als Militärattaché nach Wien kommandiert. Die große Geselligkeit, der er durch Geburt, Haltung und durch sein Vermögen angehörte, hatte ihm einige Jahre lang volle Befriedigung gewährt. Dann trat Ermüdung ein. Die Premierleutnantsmelancholie machte sich bei Erich von Kriebow besonders stark geltend. Seit er etwas von der Welt gesehen und seit er angefangen hatte, nachdenklich zu werden, wollte es ihm nicht in den Kopf, daß es sein Lebensberuf sein solle, Rekruten auszubilden und Pferde zu dressieren. Ebensowenig sagten ihm aber jetzt noch Ballgespräche zu mit jungen Gänschen, steife Diners und der elegante Zeittotschlag des Klublebens.

In diesem Stadium seiner Entwicklung trat Grabenhagen wieder mehr in den Vordergrund seiner Interessen. Grabenhagen, das er nur seiner Revenuen wegen geschätzt, und das er außerdem nur gelegentlich als Absteigequartier zu Hühnerjagd oder Schnepfenstrich benutzt hatte.

Die Erinnerungen der Kindheit wurden wach. Kriebow hatte seine Knabenzeit größtenteils in Grabenhagen verlebt. Der Dorfschulmeister war mit dem ehrenvollen, aber schwierigen Amte betraut worden, den 30 zukünftigen gnädigen Herrn in die Geheimnisse der Lese-, Schreib- und Rechenkunst einzuweihen. Allzuschwer hatte es der alte Klinguth dem Junker allerdings nicht gemacht. Zeit zum Schießen, Reiten, Botfahren, Krebsen und Angeln war reichlich geblieben. Dann, als Klinguths sämtliche Kenntnisse auf den Schüler übergegangen, war der angehende Jüngling auf das Gymnasium der Kreisstadt geschickt worden. Für freie Nachmittage, Feiertage und für die Ferienzeit blieb die väterliche Besitzung der nur zu gern aufgesuchte Tummelplatz.

Erst mit dem Eintritt bei der Truppe begann sich der junge Mann der Heimat zu entfremden. Und jetzt, nachdem er das Leben der Großstadt in jeder Form kennengelernt hatte, und da er schon seinen schalen Bodensatz zu schmecken begann, zog es den angehenden Dreißiger wieder zu dem Fleck Erde zurück, dem er entsprossen war.

Daß er seinen Beruf als Landwirt auch nicht ganz unvorbereitet antreten könne, hatte sich Kriebow nicht verhehlt. Er schaffte sich Bücher an; man sah ihn versenkt in landwirtschaftliche Fachblätter und Broschüren.

Im Grabenhäger Hause war eine Bibliothek. Jeder Besitzer hatte da die Bücher eingebracht, die seiner Laune und seinem besonderen Geschmacke entsprachen. So hatte die Bücherei ein recht buntscheckiges Ansehen bekommen. Erichs Großvater war passionierter Landwirt gewesen. Er hatte in der Zeit des großen Aufschwunges gelebt, den die landwirtschaftliche Wissenschaft und Technik während der ersten Hälfte des Jahrhunderts nahm. Von Thaer bis Liebig waren da alle wichtigeren Werke aus jener Periode vertreten. Jahrzehntelang hatten sie verstaubt in der Grabenhäger Bibliothek gestanden, bis der Enkel, der höchstens einmal an den schönen 31 Einbänden seine Freude gehabt hatte, sich diese dickleibigen Bücher in plötzlich erwachtem Interesse nach Berlin in seine Leutnantswohnung kommen ließ.

Kriebow, der, seit er die Kriegsakademie besucht hatte, geneigt war, sich auf seine Kenntnisse etwas zugute zu tun, mußte einsehen, daß es hier weite Gebiete des Wissens gab, von denen er bisher keine Ahnung gehabt hatte.

In seiner Umgebung lächelte man über den Eifer, den er nun zu entwickeln begann; die Kameraden schüttelten den Kopf und spöttelten: »Kriebow will mit Dampf Agrarier lernen.«

Erichs Verlobung brachte seinen Plan, mit dem er sich schon seit einiger Zeit getragen hatte: den Abschied zu nehmen, zu schnellerer Ausführung. Klara wünschte sich gar nichts Besseres, als auf dem Lande zu wohnen. Sie würde sich ihm zu Liebe ja auch in das Garnisonsleben gefunden haben; aber es war doch etwas anderes, im eigenem Hause auf eigenem Grund und Boden zu sitzen. Klara hatte zudem mit dem Instinkte der Liebe erkannt, daß es Erichs Pflicht sei, das ererbte Gut zu bewirtschaften, und daß er allein in diesem Berufe Befriedigung finden könne. Sie war die erste Frau, die das Tüchtige in seiner Natur herausfand. Sie begriff, daß Tätigkeit, ein Auswirken seiner Gaben und Kräfte, für ihn notwendig sei. Darin schlummerte für die Zukunft sein und ihr Glück.

Es war von vornherein klar, daß Erich von Kriebow mit den lückenhaften Kenntnissen, die er sich von der Landwirtschaft hie und da aufgelesen, nicht an die Bewirtschaftung eines großen Besitzes wie Grabenhagen herangehen konnte, selbst wenn er einen noch so guten Inspektor hatte. Denn ein Herr, der gar nichts von der 32 Sache verstand, war einfach in die Hand seines Beamten gegeben. Auf die Oberleitung aber gänzlich zu verzichten, wie es sein Vater getan hatte, war er nicht gesonnen.

Er besuchte also eine landwirtschaftliche Akademie, setzte sich als älterer Premier noch einmal auf die Schulbank. Er hatte eine Landwirtschaftsschule in Mitteldeutschland gewählt, um doch nicht allzuweit von seiner Braut entfernt zu sein.

Ein Jahr lang dauerte das Studium; dann brachte er ein paar Monate in einer Musterwirtschaft zu, um einige praktische Übung des Erlernten und Einblick in die Buchführung zu gewinnen. Nach Grabenhagen war er in dieser Periode überhaupt nicht gekommen; was er an freier Zeit erübrigen konnte, verbrachte er natürlich in Burgwerda. – –

Der junge Grabenhäger machte das Sprichwort wahr: »Neue Besen kehren gut!« Er schien seine Augen überall zu haben. Der Beamte neben ihm hatte keine Zeit, alle seine Fragen zu beantworten. Gelegentlich kritisierte er auch oder sprach einen Tadel aus; er wollte doch das, was er an Kenntnissen angesammelt hatte, an den Mann bringen. Der alte Heilmann sollte sich nicht einbilden, daß er es mit einem Neuling zu tun habe! Er hielt dem Inspektor einen kleinen Vortrag aus dem Stegreif über die Vorzüge der Gründüngung. Dann ordnete er an, daß im nächsten Jahre mehr Lupinen gebaut werden sollten. Dem Inspektor paßte das zwar gar nicht mit der Fruchtfolge, er antwortete jedoch: »Zu Befehl!« im stillen darauf rechnend, daß bis zum nächsten Jahre diese Anordnung in Vergessenheit geraten sein dürfte.

Nun kamen sie an den großen Weizenschlag. Während an einem Ende die Schnitter noch damit beschäftigt 33 waren, auf Schwad zu mähen, standen in der Mitte des ausgedehnten Schlages die Hocken in langen Parallelreihen ausgerichtet wie die Soldaten. An einer Ecke wurde mit Einfahren angefangen, und einige Pflüger waren bereits daran, der Stoppel die erste Furche zu geben.

Kriebow erkundigte sich nach der Vorfrucht, wie weit der Weizen gedrillt sei, wie oft man die Pferdehacke gegeben, ob er Kopfdüngung erhalten habe, kurz, stellte eine Anzahl Fragen, die wohl geeignet waren, zu beweisen, daß er sein Lehrgeld als Landwirt nicht umsonst gezahlt habe.

Und um zu zeigen, daß er die Sache auch praktisch verstehe, stieg er ab, rief sich einen der Mäher heran, das Pferd zu halten, dann trat er an eine Hocke, untersuchte, ob die Garben ordentlich steil gesetzt seien und ob sich im Innern etwa Nässe fühlen lasse. Auch auf das Auswachsen des Getreides, das Ausfallen der Körner und das Mutterkorn lenkte er seine Aufmerksamkeit.

Dann begab er sich zu den Mähern. Es war eine Lust, den Leuten zuzuschauen, wie die sehnigen, sonnengebräunten Arme flogen, voll geschmeidiger Kraft. Da war ein Schwung wie der andere. Dicht am Boden faßte die Sense das Stroh und legte es in schönem, glattem Schwad hinter sich. Da blieb kein einzelner Halm stehen, da gab es keine Treppen und keine Mulden in der Stoppel; denn das waren die besten Leute vom Gute, alte, erfahrene Mäher. Keiner drängte den anderen, indem er ihm auf die Hacken kam; der Abstand blieb immer der gleiche. Eine Maschine hätte nicht akkurater arbeiten können als dieses Dutzend menschlicher Arme.

Der Gutsherr lobte, was er gesehen hatte, bestieg 34 sein Pferd wieder und ritt im Schritt weiter. Auf demselben Schlage, abgesondert von den anderen, traf man eine zweite, größere Abteilung beim Mähen. Kriebow fragte nicht, um seine Unkenntnis vor dem Beamten nicht zu offenbaren; aber im stillen wunderte er sich: hatte er denn so viele Tagelöhner auf Grabenhagen? – »Das sind die Schnitter!« kam ihm Heilmann zur Hilfe. Richtig! er beschäftigte ja Wanderarbeiter!

Er fragte den Inspektor, warum er denn nicht, statt so viele Fremde kommen zu lassen, lieber mehr Gutsarbeiter angenommen hätte? Der Beamte erklärte: man müsse froh sein, daß man die Fremden hätte; Tagelöhner seien jetzt zu schwer zu bekommen; die Einheimischen würden immer unverschämter in ihren Forderungen. Sagen wollten sie sich absolut nichts mehr lassen, und wenn man sich's mal beikommen ließe, einen solchen Faulpelz etwas anzufrischen – er machte dazu die erklärende Handbewegung –, dann setzte er einem gleich den Stuhl vor die Tür. Die Fremden seien da weit bescheidener und anspruchsloser; sie hätten überdies den Vorzug, daß man sie den Winter über nicht durchzufüttern habe. Dem jungen Gutsherrn leuchteten diese Gründe ein; er nickte befriedigt mit dem Kopfe.

Man besichtigte noch die Schafe auf der Stoppelweide, nahm im Vorbeireiten die Koppel mit den jungen Pferden in Augenschein; dann schlug Kriebow den Rückweg ein. Der junge Ehemann wollte sich heute, wo er zum ersten Male am eigenen Tische speisen sollte, um keinen Preis verspäten. Um abzuschneiden, ritt er querfeldein.

Bis dahin war der Grabenhäger nicht von seinem Grund und Boden heruntergekommen; jetzt aber kam ein Strich, wo sein Bereich aufhörte. Ein einzelner 35 Hof lag hier: das Tuleveitsche Bauerngut. Im übrigen war längst der bäuerliche Grundbesitz weit und breit im ritterschaftlichen aufgegangen.

Erich von Kriebow war in früheren Zeiten hier viel aus- und eingegangen; jetzt freilich hatte ihn das »Schulzengut« seit Jahren nicht mehr zu sehen bekommen – unter diesem Namen war der einzeln gelegene Hof weit und breit bekannt. Seine Besitzer hatten ehemals das Erbschulzenamt innegehabt.

Wie alte gute Bekannte, die ihm mancherlei zu erzählen wußten, blickten ihn die Fenster des weißgetünchten Bauernhauses an, unter dem hohen, rohrgedeckten Dache hervor. Früher wäre er hier sicherlich nicht so vorbeigehastet; da wäre er herangeritten, hätte den alten Jochen Tuleveit begrüßt, hätte ein freundnachbarliches Gespräch mit ihm angeknüpft über das Wetter und dergleichen.

Aber zwischen damals und heute lag mancherlei. –

Inspektor Heilmann, der bis dahin immer respektvoll die Anrede seines Herrn abgewartet hatte, ehe er eine Meinung äußerte, trieb jetzt seinen alten Gaul näher an die Zigeunerin heran und berichtete, obgleich weit und breit kein Hörer war, halblaut: mit der Gesundheit des alten Tuleveit stehe es neuerdings wackelig. Vielleicht sei das eine günstige Gelegenheit – – Ob er einen Versuch machen solle . . . .

Kriebow hatte sich verfärbt. Er solle ihn mit der Angelegenheit ungeschoren lassen, bedeutete er in ungewohnt barschem Tone dem Beamten. Dann gab er der Zigeunerin den Galoppsporn, um möglichst schnell von hier weg auf eigenen Grund und Boden zu gelangen. 36

 


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