Wilhelm von Polenz
Der Grabenhäger
Wilhelm von Polenz

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XI.

Der Pastor hatte zur Kirchenratssitzung eingeladen. Es handelte sich um Reparatur der Orgel. Sie war alt und ausgedient und begann den Dienst zu versagen.

Der frühere Geistliche hatte sich mit Reformen nicht das Leben schwer gemacht. Änderungsvorschläge wären bei seinen Leuten ja doch auf steinigen Boden gefallen, und der Zustand der Kirchkasse, in der chronische Ebbe herrschte, verbot jede Ausgabe. Bei einer Gemeinde, die zum größten Teile aus Gutstagelöhnern bestand, Opferwilligkeit und Interesse für kirchliche Zwecke vorauszusetzen, hatte der mit den Verhältnissen der Gegend vertraute alte Mann sich abgewöhnt. Und bei der Herrschaft war erst recht keine Lust vorhanden, sich 194 für dergleichen in Unkosten zu stürzen. Der selige Landesdirektor würde zwar den, der seine kirchliche Gesinnung angezweifelt hätte, wegen Beleidigung belangt haben; aber doch war unter seinem Patronat in der Grabenhäger Kirche alles beim alten geblieben.

Auch Pastor Grützinger wußte, daß es schwer halten werde, die Gemeinde für irgendeine Mehrausgabe zu gewinnen. Alles kam da auf den Patron an, denn die Mehrzahl der Kirchenväter waren Leute, die in Abhängigkeit vom Gutsherrn standen. Der Geistliche war daher gespannt, wie sich Herr von Kriebow in der Orgelfrage verhalten werde? Ob er ähnlich wie seine Vorfahren der Kirchfahrt mit dem Beispiele der Filzigkeit vorangehen werde? –

Grützinger stammte aus der Familie eines Subalternbeamten. Schon in der Kindheit hatte er bittere Not kennen gelernt; als Student mußte er sich durchhungern, der Vater konnte ihm nichts abgeben; mit Privatstundengeben verdiente er sich die Kolleggelder. Dann war er als Kandidat in dem Hause eines Großindustriellen gewesen. Dort hatte man ihn auf eine Stufe gestellt mit den Dienstboten, und eines Tages, als er sich's unterstanden, dem Zögling eine wohlverdiente Züchtigung angedeihen zu lassen, war er von dem entrüsteten Vater weggeschickt worden, wie man einen Hausknecht entläßt. Als er seine erste Pfarrstelle erhielt, verdarb er es sehr bald mit den Reichen und Mächtigen der Parochie; denn er wetterte von der Kanzel herab gegen Materialismus, Hochmut und Mammonismus. Ihm war von Jugend auf der Armeleutegeruch vertraut, er liebte die Geringen und Gedrückten als seinesgleichen, er glaubte das Christentum richtig auszulegen, wenn er es als das Evangelium der Armut auffaßte. Das Kämpfen 195 lag seiner Natur näher als das Ausgleichen und Begütigen. Er hielt es für seine Aufgabe, auch in andere als rein geistige Kämpfe einzugreifen, und stellte sich dorthin, wohin ihn seine Neigung und seine ganze Weltanschauung zog, auf die Seite des kleinen Mannes.

Natürlich liefen sehr bald Beschwerden über ihn ein; er wurde beschuldigt, den Klassenhaß zu schüren, Aufruhr zu predigen, ja, man warf ihm vor, er stehe im Dienste einer politischen Partei. Weitläufige Untersuchungen wurden darüber angestellt, aus denen er frei ausging. Aber unter der Hand bekam er Vermahnungen von seinen Oberen und den Rat, um des lieben Friedens willen ruhig zu sein.

Ein Temperament wie das Grützingers forderte solches Ansinnen nur noch schärfer heraus. Schließlich setzte er sich durch unbedachtes Kritisieren von Regierungsmaßnahmen in offenbares Unrecht; man benutzte die Gelegenheit, den unbequemen Mann seines Postens zu entheben.

Längere Zeit war er ohne Amt, da er eine Konsistorialstelle, die man ihm oktroyieren wollte, nicht annahm. Abermals begann das Hungern und Darben, diesmal mit Weib und Kindern. Unterricht erteilen und Schriftstellerei mußten ihm über die böse Zeit hinweghelfen.

Auch jetzt, wo er wieder ein Amt hatte, war Grützinger nicht auf Rosen gebettet. Die Grabenhäger Stelle war nur gering honoriert; dazu mußte er alte Schulden abzahlen. Die Haupteinnahmen kamen aus dem Pfarracker, mit dem die Stelle dotiert war.

Und auch über vieles andere, was er in der neuen Stelle vorfand, wollte ihm anfangs das Herz vor die Füße fallen. Er war von der Gegend, aus der er 196 stammte, große Ortschaften gewöhnt, ein buntes Durcheinanderleben und Zusammenwirken von verschiedenen Ständen, Klassen und Berufen, damit verbunden ein reges politisches und geistiges Leben. Und nun dieser Abstand! Monoton die Landschaft, monoton die Bevölkerung, monoton der Charakter der Leute – so schien es ihm. Das Land weit und breit in der Hand des Junkers. Bauern gab es hie und da einige, aber sie wurden einem wie eine Seltenheit gezeigt. Im übrigen Tagelöhner, nichts als Tagelöhner und das Gesinde auf den Gutshöfen.

Umsonst sah er sich um nach Leuten, mit denen er hätte einen geistigen Verkehr aufrechterhalten können. Die Amtsbrüder hielten sich ihm gegenüber vorsichtig zurück; er war anrüchig als disziplinierter Geistlicher. Von den Vorgesetzten fühlte er sich bewacht. Dann noch die paar Lehrer in den Dörfern ringsum. Die waren meist bedrückt von häuslicher Not und Sorgen um das tägliche Brot; auch von ihnen war nichts zu erwarten für eine edlere Art von Geselligkeit.

Und trotzdem pries er Gott, daß er ihm die Stelle gegeben, daß er ihm eine Herde ans Herz gelegt hatte, die der Hilfe so bedürftig war wie diese. Hier war ein reiches Feld der Tätigkeit, denn hier mußte so ziemlich zu allem erst der Grund gelegt werden.

Daß Sonntags die Kirche gähnend leer war, erschien ihm nicht als das Schlimmste. Er wußte, daß das Kirchgehen eine Angewohnheit ist; und Angewohnheiten lassen sich anerziehen. Was ihn aber wahrhaft erschreckte, das war die Stumpfheit der Gemüter, das Schlafen der Gewissen, die Laxheit in sittlichen Begriffen, die er bei groß und klein vorfand.

Grützinger war nicht der Mann dazu, solchen 197 Erscheinungen gegenüber die Hände in den Schoß zu legen, sie kühlen Blutes als eine Tatsache zu konstatieren. Es mußte Abhilfe dafür geben! Mancherlei Mittel boten sich ihm an: die Predigt, der Konfirmationsunterricht, Verbreitung guten Lesestoffes, im schlimmsten Falle: kirchliche Zuchtmittel.

Aber das waren ja allzu linde Salben einem alten eingefressenen Schaden gegenüber! Mit den Strafen konnte er ja doch nur den offenkundig Gefallenen beikommen; Tadel und Ermahnung von der Kanzel gingen zu einem Ohre hinein und zum anderen wieder hinaus. Außerdem, was nutzte alles Predigen, wenn die Leute nicht ins Gotteshaus kamen? Was fruchtete das Anbieten der Gnadenmittel, da die Seelen kein Verlangen danach trugen?

Nein! Hier konnte nur eines helfen: die volle persönliche Hingabe an die ihm Anvertrauten. Wenn er den Leuten etwas sein wollte, dann mußte er ihre Leiden zu den seinen machen und zusehen, ob er ihnen Arzt und Helfer sein könne. Dann erst, wenn er sie ganz verstand, hatte er das Recht, sie zu belehren und zu führen.

Je länger er im neuen Amte war, desto tiefer lernte er die Eigenart und die Bedürfnisse der Leute kennen. Es gab in der ganzen weitläufigen Parochie bald kein Haus, in dem er nicht heimisch gewesen wäre. Manches Geheimnis wurde seinem forschenden Auge kund, bis er schließlich in dem Charakter der einzelnen und in den Geschicken ganzer Familien zu lesen imstande war, wie in einem Buche, das vor ihm aufgeschlagen lag. Während er zu Anfang noch oft im finstern getappt mit seinem Urteil, dort zu scharf, dort zu milde gerichtet hatte, begann sich jetzt vor seinem Auge Schatten und 198 Licht richtiger zu verteilen. Er erkannte neben Laster und manchem offenen und verborgenen Unrecht doch auch viel Tüchtigkeit. Und wo er früher Stumpfheit und geistigen Tod erblickt hatte, fand er bei schärferem Hinsehen manch einen hoffnungsvollen Trieb, der nur der Pflege bedurfte, um sich zu entfalten.

Was aber seine höchste Freude war: von dem Samen, den er selbst ausgestreut, begann hie und da ein Korn aufzugehen. Noch hatte er zwar keine volle Kirche, und nur wenig Gäste sah er zum Tisch des Herrn kommen; aber das würde sich bessern, wie es schon angefangen hatte, unmerklich besser zu werden. Die Hauptsache war ihm, daß er fühlte, wie er langsam aber sicher in das Vertrauen der Leute hineinwuchs.

Die Art hierzulande war verschlossen und unzugänglich; man mußte lange klopfen, ehe man Einlaß erhielt. Aber war erst einmal das Mißtrauen überwunden, dann konnte man sich auf ihre Treue verlassen. Daß er sie nicht zur Kirche trieb, daß er so als Vertrauter zu ihnen sprach, das rechneten sie ihm besonders hoch an. Besser als noch so viele schulmeisternde Ermahnungen oder salbungsvolle Redensarten schlug eine menschlich teilnehmende Frage oder ein schlichter Rat an. Sie sahen es: der Herr Pastor hatte nicht den Hochmut des Studierten, er begriff ihre Wünsche, teilte ihre Leiden und Freuden, als sei er einer von ihnen.

Und schon war er so weit, daß er die bessernde Hand anlegen dürfte, daß er tadeln und rügen konnte, und daß sein Tadel nicht spurlos verhallte. Es war den Leuten nicht mehr gleichgültig, was ihr Pastor von ihnen dachte. Damit glaubte er viel gewonnen zu haben. Denn wenn erst das Bewußtsein des Übels sich regte, wenn die Scham zu erwachen begann, dann würde ja 199 auch bald der Wunsch kommen nach Besserung, das Verlangen nach Höherem, und damit war vielleicht der Bann gebrochen, die Decke doch etwas gelüftet, die jetzt noch auf den Gemütern lag.

So gewann er allmählich Boden, vorsichtig seine Deiche vorschiebend, jeden Schritt breit der feindlichen See abtrotzend. Niemand half ihm dabei; er war auf sich allein angewiesen. Der alte Grabenhäger Küster und Dorfschullehrer war ein prächtiger Mann; Grützinger lernte ihn seines biederen Charakters wegen schätzen, aber zum Gehilfen in solcher Arbeit eignete er sich nicht.

Klinguth war das Kind einer anderen Zeit, deren Motto Gehorsam ohne Nachdenken gewesen war. Auf den Einfall, eine eigene Meinung zu haben, wäre Klinguth nie gekommen. Selbst wenn es jemandem gelungen wäre, ihn zu überzeugen, daß die Verhältnisse um ihn her reformbedürftig seien, er würde erklärt haben, sie sollten bleiben, wie sie seien. Das war keine niedrige Knechtsseligkeit bei dem Alten; er war ein strammer Bursche, mit steifem Rückgrat, der seinen Mann in Feldzügen gestanden, er hatte seinen Stolz; aber die Freude am Gehorchen war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Wie die Welt gehe, war ihm sehr gleichgültig; auf Recht und Ordnung zu sehen, dazu hatte der König den Herrn Landrat ernannt, und andere hohe weltliche und geistliche Beamte waren da, die für das Wohl des Volkes sorgten, und schließlich hatten sie ja auch ihren gnädigen Herrn von Kriebow. Was diese Herren bestimmten, war recht und gut, und daran war nicht zu rütteln.

Einen Verbündeten fand also Pastor Grützinger nicht in Grabenhagen; anstatt dessen aber erstand ihm sehr bald ein heftiger Gegner.

200 Es war nicht Bosheit, was Inspektor Heilmann antrieb, gegen den Geistlichen aufzutreten; er sah in Grützinger einen gefährlichen Neuerer, er fürchtete von ihm Unterminierung seiner ganzen mühsam aufgerichteten Gutsordnung. Heilmann befand sich geradezu im Zustande sittlicher Entrüstung über diesen jungen Menschen. In seinen Augen war so ein Pastor dazu da, die Ordnung aufrechterhalten zu helfen, die Leute zu Gehorsam, Bescheidenheit und Zufriedenheit zu ermahnen und vor allem, sie vor den Verführungen der Demagogen zu warnen – so eine Art von Gendarm für die Seelen sollte der Pfarrer sein, wenn es nach Herrn Heilmanns Kopfe gegangen wäre. – Und nun kam da so einer her, der, statt die Leute zu ihrer verdammten Pflicht und Schuldigkeit anzuhalten, statt sie gefügig zu machen, ihnen den Rücken steifte und allerhand Ungünstiges für die Herrschaft aufstöberte.

Der Gedanke, daß der Geistliche damit nur seinen Beruf zu erfüllen glaubte, daß ihn eine Überzeugung trieb bei solchem Tun, konnte einem subalternen Geiste wie Heilmann nicht beikommen. Das war Schikane von dem Pastor, weiter nichts! – Aber, Gott sei Dank, es gab ja noch Mittel, so einem das Handwerk zu legen. Wenn man ihm zum Beispiel den Pfarracker nicht mehr abpachtete, dann würde er's bald verspüren, was es hieß, sich das Rittergut zum Feinde gemacht zu haben.

Der Pfarracker war seit Menschengedenken vom Gutshofe aus bewirtschaftet worden, er wurde eigentlich als ein Schlag des Rittergutes angesehen; daß ein Fremder dazwischen kommen und das Feld bewirtschaften könne, hielt der Inspektor einfach für unmöglich. Daran, das Stück nicht wieder zu pachten, dachte 201 Heilmann gar nicht im Ernste, das würde ihm ja seine ganze Rotation umgeworfen haben; aber um den Pastor kirre zu machen, schien es wirksam, damit zu drohen. Selbst wirtschaften würde der Geistliche doch kaum, und ohne die Einnahmen aus dem Pfarracker konnte er nicht bestehen.

Aber mit diesem Plane sollte sich Inspektor Heilmann verrechnet haben. Noch ehe es zu einer Neuausbietung des Pfarrackers kam, kündigte Pastor Grützinger die Pachtung mit der Erklärung: der alte Tuleveit vom Schulzenhofe werde in Zukunft die Bewirtschaftung übernehmen.

Jochen Tuleveit, mit dem das Rittergut verfeindet war, Pächter des Pastorackers! – Das war nun wieder die reine Niedertracht! Die beiden: der Pastor und der alte Jochen hatten das verabredet, um die Herrschaft zu schädigen.

Grützinger war sich des erbitterten Hasses, den er in der Seele des Gutsbeamten entzündet hatte, wohl bewußt. Konnte er es ändern? – Vor den Interessen des Rittergutes ehrfurchtsvoll Halt machen, war nicht seine Sache. Scheu vor der Tradition kannte er nicht, wenn er sah, daß das Althergebrachte nur den Deckmantel abgeben sollte für eingerosteten Mißbrauch und Eigennutz.

Auch hier wieder fand Grützinger den Feind, gegen den er schon in seiner vorigen Stelle zu Felde gezogen war: den eingefleischten Egoismus der Mächtigen und Besitzenden. Freilich trat er in ganz anderer Form auf, hier war er durch eine Jahrhunderte alte Entwicklung gefestigt; nicht parvenuhaftes Protzentum war sein Gewand, sondern die altmodischen Überbleibsel einer ritterlich-patriarchalischen Rüstung. Aber im Grunde 202 war es doch dasselbe, trotz des verschiedenen Kleides. Überfluß an allem: an Machtmitteln und Vermögen auf der einen Seite und damit verbundene Hoffart, Selbstsucht und Dünkel gegen die Geringeren, Hartherzigkeit und Engigkeit, sowie es sich darum handelte, etwas aufzugeben von seinem Überflusse zugunsten der minder vom Glück Begünstigten. Und auch hier die furchtbare Erscheinung: Ausbeutung des Menschen durch den Menschen.

Das waren keine gottgewollten Zustände; darunter litten nicht allein die Leiber, auch der göttliche Teil des Menschen kam zu kurz. Die Gemüter verwahrlosten in dem aufreibenden Kampf um das tägliche Brot, im trostlosen Einerlei des Werkeltages stumpften die Seelen ab, wurden gleichgültig gegen das Laster.

Dem entgegenzutreten hielt er für seine Seelsorgerpflicht, wenn es ging auf gütlichem Wege, durch Erweckung des Gewissens bei denen, welche die Macht in Händen hatten; wenn diese jedoch ihre Herzen verstockten, dann in ehrlicher Gegnerschaft. Dem offenbaren Unrecht gegenüber die Segel zu streichen, sich um des lieben Friedens willen darein zu schicken, hielt er nicht für vereinbar mit seinem Amte.

Seinen Patron, den Leutnant von Kriebow, lernte er erst kennen, als er schon ein Jahr in der Grabenhäger Stelle war. Der Augenblick war nicht glücklich für das Bekanntwerden der beiden. Erich von Kriebow hatte allerhand Ungünstiges über den neuen Pastor zu hören bekommen und gab sich keine Mühe, seine Unzufriedenheit zu verbergen. Grützinger zeigte sich geflissentlich trotzig und unliebenswürdig, um sich nur ja nichts dem Edelmanne gegenüber zu vergeben. – Und so gingen sie auseinander, jeder bestärkt in seiner 203 schlechten Meinung von dem anderen. Kriebow fand bestätigt, daß dieser Pastor ein Plebejer sei, und Grützinger hatte in seinem Patron nur einen hochfahrenden Junker mehr gesehen.

* * *

Kriebow sah der Kirchenratssitzung mit wenig Freude entgegen. Heilmann hatte ihm schon vorher den Kopf heiß zu machen versucht: der Pastor werde mit dem Vorschlage einer Orgelreparatur kommen. Der gnädige Herr möchte darauf auf keinen Fall eingehen; denn einmal sei es eine unnütze Ausgabe, und außerdem müsse der Begehrlichkeit des Pastors von vornherein ein Damm entgegengesetzt werden. Mit der Orgel fange es an, dann wären die Glocken nicht mehr gut genug, nachher müsse das Dach neu gedeckt werden, und so werde allmählich die ganze Kirche renoviert – man kenne das schon!

Der Gutsherr gab in diesem Falle nicht allzuviel auf die Reden seines Inspektors; denn hiervon verstand Heilmann nichts. Die Orgel war alt und schwach, soviel stand nun mal fest, und er hatte sich schon vor Klärchen geschämt, die jeden Sonntag dieses Quietschen und Pusten mit anhören mußte, das Musik vorstellen sollte.

Nein, der Gedanke, hier etwas zu bessern, war gar nicht so unberechtigt; Kriebow meinte nur, der Pastor hätte darüber füglich mit ihm, dem Patron, Rücksprache nehmen, sich seine Zustimmung einholen können, ehe er damit vor die Kirchenväter trat. Aber solche Eigenmächtigkeit war ja nur charakteristisch für die Gesinnung des Mannes. Es war nicht unwahrscheinlich, daß sie bei dieser Gelegenheit aneinander geraten würden. Irgend 204 etwas einzustecken, eine Taktlosigkeit etwa von seiten des Geistlichen ruhig hinzunehmen, war Kriebow auf keinen Fall gesonnen.

Unbehagen bereitete ihm die Aussicht auf diese Sitzung noch aus einem ganz anderen Grunde: Jochen Tuleveit gehörte zu den Kirchenvätern. Sie grüßten einander nicht, der Gutsherr und der Bauer, wenn sie – was nicht immer zu vermeiden war – sich einmal im Dorfe oder auf dem Felde begegneten. Und nun mit dem Alten zusammen in einem Zimmer! Dazu der Pastor als Vorsitzender und, um das Maß des Peinlichen voll zu machen, eine Anzahl seiner eigenen Leute dabei, Leute, die zehn Jahr und länger zurückdenken konnten und genau wußten, was sich damals zwischen dem Rittergute und dem Schulzenhofe abgespielt hatte. –

Es war doch vielleicht besser, er ging nicht ins Pfarrhaus; er konnte ja Heilmann schicken als seinen Bevollmächtigten, dann kam er um alle diese Unannehmlichkeiten herum. Zu späteren Sitzungen würde er wieder gehen; vielleicht war da inzwischen der Handel um den Schulzenhof zum Abschluß gekommen, wenn Isidor Feige Wort hielt.

Aber schließlich sagte er sich, daß es doch geradezu eine Schlappheit sei, so vor der Begegnung mit einem Menschen zu zittern. Unter Kameraden würde man das »Kneifen« genannt haben. Ja, es wäre schlapp und es wäre außerdem auch unklug gewesen! Sein Fernbleiben würde auffallen, und die Leute würden erst recht auf die Vermutung kommen, er habe kein reines Gewissen. Nein, hier mußte in den sauren Apfel gebissen werden. Und so ging er denn in die Sitzung. –

Man war bereits vollzählig versammelt, als der 205 Gutsherr eintrat. Ein Blick überzeugte ihn, daß Tuleveit da sei. Kriebow begrüßte die Versammlung durch eine allgemeine Verbeugung, bot niemandem, auch dem Pastor nicht, die Hand.

Der Pfarrer eröffnete die Sitzung mit dem üblichen Gebet, dann erwähnte er in einer einleitenden Ansprache des Umstandes, daß man heute zum ersten Male die Ehre habe, den Herrn Patron in seiner Mitte zu sehen.

Kriebow war zerstreut, hörte kaum hin; er stand ganz unter dem Bewußtsein, dem alten Jochen Tuleveit gegenüberzusitzen. Er war recht alt geworden, der Bauer! – Gekreuzt hatten sich ihre Blicke noch nicht, der Alte blickte starr auf die Lippen des Pastors; was in seiner Seele vor sich gehe, konnte man diesem Gesichte nicht ansehen.

Nun kam der Pastor zum eigentlichen Thema der Sitzung: die Ausbesserung der Orgel.

Grützinger stellte seinen Hörern vor, wieviel beim Gottesdienst gute Musik zur Erhöhung der Weihe beitrage. Dann bat er den Küster, der als Schriftführer zugegen war, darzutun, wie die jetzige Verfassung der Orgel, die er ja sonntäglich zu spielen habe, sei.

Der alte Klinguth kam dieser Aufforderung nach, das heißt, er richtete seine Worte an den Gutsherrn; der war in seinen Augen die einzig maßgebende Persönlichkeit hier. Er bat Herrn von Kriebow gewissermaßen um Entschuldigung, daß er sich unterstehe, etwas an den Grabenhäger Einrichtungen schlecht zu finden, ohne vorher die Erlaubnis des gnädigen Herrn dazu eingeholt zu haben; aber das Instrument sei wirklich nicht mehr ganz vollkommen zu nennen, die Blasebälge und Windkanäle schienen undicht geworden, die Lade quietsche, 206 das Metallwerk sei von Rost angefressen und zudem versagten einige Tasten. – Mehr konnte man eigentlich nicht verlangen, und Kriebows Frage, was denn eigentlich an dem Instrumente noch gut sei, war berechtigt.

Der Pastor legte einen von einem Sachverständigen ausgearbeiteten Plan für die Reparatur und einen Kostenanschlag vor, dann bat er, sich zu seinem Vorschlage zu äußern.

Niemand schien zunächst das Wort ergreifen zu wollen. Kriebow sah, daß man eine Äußerung von ihm erwarte; er erklärte sich mit dem, was der Herr Pastor vorgetragen habe, einverstanden.

Nach ihm ergriff Jochen Tuleveit das Wort; er sprach mit matter Greisenstimme, von Zeit zu Zeit durch Atemnot unterbrochen. Jochen hielt die Ausbesserung der Orgel nicht für nötig. Man höre ja das Spiel in der ganzen Kirche, und das sei doch die Hauptsache. In verschiedenen Kirchen der Nachbarschaft habe man gar keine Orgel, und es gehe deshalb auch. Er könne sich aus seiner Jugendzeit entsinnen, daß Orgeln etwas ganz seltenes gewesen seien und daß man sie in Grabenhagen um ihr schönes Instrument beneidet habe. Er müsse gegen den Vorschlag des Herrn Pastor stimmen.

Nun war auch für die ärmeren Leute das Eis gebrochen; einer nach dem anderen meinte: Jochen habe ganz recht, und bei den schlechten Zeiten wollten sie sich nicht in eine solche Ausgabe stürzen.

Pastor Grützinger war schmerzlich betroffen; das hätte er nicht für möglich gehalten. Vor allem war er befremdet, seinen Freund, Jochen Tuleveit, auf der gegnerischen Seite zu finden. Der Mann war doch solch ein guter Kirchenchrist, und nun ließ er ihn so im Stich. Viel eher als auf Tuleveits hatte er sich auf des 207 Gutsherrn Opposition gefaßt gemacht. Nun unterstützte ihn Herr von Kriebow, und der Bauer versagte.

Jetzt warf sich der alte Klinguth ins Zeug. Sie sollten doch dem Herrn Pastor bewilligen, was er haben wolle. Er ging dem einzelnen direkt auf den Leib:

»Krischan! Nehmt doch Vernunft an!« damit wandte er sich an den alten Schmied Wurten. »Ihr habt gehört, was Herr von Kriebow gesagt hat. Glaubt ihr, daß ihr's besser versteht als der gnädige Herr? – Nun also!«

Und zu dem Schäfermeister: »Gust! Ihr seid doch musikalisch! – Das Menschenskind hat bei den Soldaten die Trommel gerührt. Habt ihr denn alles Gehör verlernt? Soviel müßt ihr doch einsehen, so wie unsere Orgel jetzt ist, das is nicht Musik mehr. Und Gesang ohne Begleitung, das is doch mal wie Brot ohne Schmalz und Salz.«

Aber die Männer schüttelten den Kopf; der Küster war ja ein braver Mann, das wußten sie alle, und der Herr Pastor meinte es auch gut, gewiß! – Aber die hatten gut reden, sie brauchten nichts dazu zu zahlen. Jochen Tuleveit hatte recht, die Sache kam zu teuer. Mochten doch die, denen soviel an guter Musik in der Kirche gelegen schien, sich's was kosten lassen! –

Bei Kriebow war inzwischen ein Entschluß gereift. Noch vor wenigen Stunden hatte er sich zwar beim Durchsehen seines Ausgabebuches gelobt, sparen zu wollen, weil es nötig war. Aber hier mit sparen anfangen, das wäre Knauserei gewesen! – Und dann dachte er auch an Klärchen. Wie würde die sich freuen, wenn er ihr heute abend berichtete, daß er der Kirche eine erneuerte Orgel gestiftet habe! Allein der Gedanke, 208 wie sie ihn dafür anblicken würde, war genug, alle Sparsamkeitspläne wegzufegen.

Und so machte er der Debatte dadurch ein Ende, daß er erklärte, die Kosten, welche die Erneuerung der Orgel verursachen werde, auf seine Rechnung nehmen zu wollen.

Pastor Grützinger dankte dem Patron im Namen der Gemeinde. Die freudige Erregung, die in seinen Worten zitterte, war nicht gemacht; zum ersten Male dämmerte in seinem Kopfe der Gedanke, daß vielleicht auch ein Junker der Hochherzigkeit fähig sein könne. Er hätte Herrn von Kriebow das niemals zugetraut. –

Der Gutsherr schnitt den Dank kurz ab. Er wollte nicht, daß der Mann sich etwa gar einbilden solle, er habe sich mit seiner Stiftung bei ihm lieb Kind machen wollen.

Wohl tat ihm die Anerkennung des Pastors aber trotzdem.

* * *

Durch die Erklärung des Gutsherrn hatte die Sitzung schneller, als erwartet, ihren Abschluß gefunden.

Kriebow befand sich in gehobener Stimmung; es drängte ihn, nach Haus zu eilen, um Klärchen brühwarm das zu berichten, was ihn selbst mit solcher Genugtuung erfüllte.

Während er im Hausflur des Pfarrhauses stand und mit des alten Klinguths Hilfe seine Zigarre in Brand setzte, schritt Jochen Tuleveit an ihnen vorüber.

Der Küster hatte noch mit dem Pastor zu tun; er verabschiedete sich untertänigst von dem gnädigen Herrn.

Als der Grabenhäger aus dem Hause trat, in die stürmische Novembernacht hinaus, stand da eine dunkle Gestalt, der alte Tuleveit, in seinen Pelz gehüllt.

209 Kriebow machte unwillkürlich Halt. Was für Absichten hatte der Mann? – Wartete er hier auf ihn?– Wünschte er eine Aussprache? –

Erich von Kriebow überlegte; blitzartig schoß ein Gedanke auf in ihm, ein Plan. War hier nicht die Gelegenheit, die er so oft im geheimen herbeigesehnt hatte: sich auszusprechen mit dem Manne? endlich einmal die Rechnung zu begleichen, die nun schon so lange zwischen ihm und Jochen Tuleveit anstand?

Wer weiß, ob das je wieder so günstig kam, wie hier, wo sie ohne Zeugen waren, wo die Dunkelheit die Züge unkenntlich machte und auch für seine Befangenheit den erwünschten Mantel abgeben würde.

Er versuchte seiner Stimme möglichste Ruhe zu geben, um die innere Unsicherheit zu verbergen, als er jetzt dem alten Manne guten Abend bot. Er fragte nach dem ersten besten, was ihm gerade eingefallen war: wo jetzt Otto sei, sein alter Spielkamerad, er habe so lange nichts mehr von Otto gehört.

Jochen Tuleveit räusperte sich, kämpfte seine Atemnot nieder und berichtete dann in kurzen Worten: Otto sei beim Kammerherrn von Witzing auf Margentin als Wirtschafter angestellt.

Das gab denn nun glücklich einen Unterhaltungsstoff. Der Grabenhäger kannte ja Herrn von Witzing, war auch einmal in Margentin gewesen; so konnte er davon sprechen, und das half über das Herzklopfen hinweg, das er noch immer nicht loswerden konnte. Es war doch furchtbar schwer, den Harmlosen zu spielen einem Menschen gegenüber, vor dem man kein reines Gewissen hatte.

Jochen Tuleveit verharrte der Beredsamkeit des Gutsherrn gegenüber in seiner gewohnten Wortkargheit. 210 Er zog seinen Pelz fester über der Brust zusammen und setzte sich langsam in Bewegung. Man hatte noch knapp hundert Schritte zusammen, dann trennten sich die Wege vor dem Eingang zum herrschaftlichen Parke.

Kriebow fragte den Alten, ob er in einer solchen Nacht allein nach Haus gehen wolle, und bot ihm an, jemanden vom Gute herauszurufen, der ihm leuchten solle. Jochen Tuleveit lehnte das Anerbieten ab; er erwarte seinen Enkelsohn mit der Laterne, sagte er.

So! Also habe er jetzt wohl die Kinder von seinem Ältesten bei sich auf dem Schulzenhofe? fragte Kriebow, nur um etwas zu sagen.

Der Alte antwortete nicht darauf. Er war wieder stehen geblieben und blickte vor sich hin den Weg entlang. In der Ferne zeigte sich jetzt ein Lichtchen, das schnell auf sie zukam. Der Träger lief offenbar; das Licht schwankte stark hin und her; mit einem Male verschwand es gänzlich.

»Großvadding!« hörte man von einer kindlichen Stimme.

»Hirhentau, Jung, wo bliwwst?«

»Großvadding, ik bün fallen!«

»Heft di weih dahn?«

»Ne, ik nich, aber de Lücht is utgahn!«

»Dat seh' ik all, mien Jung! Kumm man ranner!«

Nach einiger Zeit war der Knabe denn auch herangekommen, ganz außer Atem vom Laufen. Es war ein schlankes Bürschchen; sein Gesicht konnte man bei der Dunkelheit nicht erkennen.

»Jung, ritt he di, so tau lopen!« meinte der Alte, als der Enkel vor ihm stand.

»Grössing sed man, ik süll taumaken, dat ik taurecht keem, dar bün ik fallen, un de Lücht is utgahn.«

211 »Nun, wir werden sehen, daß wir das wieder in Ordnung bringen,« sagte Kriebow, froh, dem Alten einen Dienst erweisen zu können.

Er ließ sich die Laterne geben, die er untersuchte; sie war heil geblieben. Dann zog er sein Feuerzeug aus der Tasche, ließ den Knaben die Laterne halten, stellte sich davor als Schutz gegen den Wind und schlug Feuer. Endlich gelang es ihm auch, die Kerze zum Brennen zu bringen.

»So, mein Junge!« sagte Kriebow, »nun wäre die Geschichte wieder im Schuß! – Wie heißt du denn?«

»Hanning,« erwiderte der Knabe.

»Und wie alt bist du?«

»Zehn Jahr.«

Hier mischte sich der Alte ein: »Hanning, mien Jung, gah vörut, ik kam glik nah!«

Dann, als der Knabe außer Hörweite war, trat Jochen Tuleveit nahe an Kriebow heran. »Hanning is nich mienen Sähn sien Kind, Herr von Kriebow!« sagte er mit Nachdruck. »Mienen Korl sien sünd nu bald all groot. – Ne, Hanning is mien Greten ehr, Herr von Kriebow.«

Damit wandte sich der alte Mann und ging dem Enkelkinde nach.

Kriebow stand wie vom Donner gerührt; dieser– dieser Knabe – war Gretchens Kind! – –

Er hätte dem Alten nachstürzen mögen, ihn anhalten, ihn ausfragen, aber er wagte es nicht, wagte es nicht des Knaben wegen. Er hatte Furcht vor dem Kinde. Ein jäher Schreck, das Gefühl einer furchtbaren Verantwortung, war über ihn gekommen, hielt ihn fest, wollte ihn schier zu Boden drücken. Er stand da wie angewurzelt, rührte kein Glied, starrte nur den beiden 212 nach, sah das Licht kleiner und immer kleiner werden, bis es ihm schließlich verschwand.

Das war Gretchens Sohn! – Und er hatte mit dem Kinde gesprochen, hatte ihm ahnungslos die Hand gegeben. –

Jetzt hörte man Stimmen vom Pfarrhause her; es war der alte Klinguth, der sich vom Pastor verabschiedete.

Kriebow eilte fort. Wenn man ihn hier getroffen hätte! – Er kam sich wie ein Sünder vor; nur fort, nach Haus! –

Aber nach Haus konnte er auch nicht. Jetzt vor Klärchen treten? – Nein, er mußte sich erst beruhigen, wollte seine Gedanken ordnen, sich klar machen, was dieses Erlebnis für ihn bedeute, sich überlegen, was er nun zu tun habe.

Und allem Unwetter zum Trotze bog er in den Park ein, ging dort in der Hauptallee lange auf und ab.

 


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