Wilhelm von Polenz
Der Grabenhäger
Wilhelm von Polenz

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XVIII.

Jochen Tuleveit starb in der Nacht darauf. Das Abendmahl hatte er noch genossen. Von diesem Augenblicke ab gab er kein Zeichen der Teilnahme mehr zu erkennen, was auch immer um ihn her vorging. Er hatte seine Rechnung abgeschlossen. Gegen Morgen, als Mutter Tuleveit ihm das zur Seite gesunkene Haupt aufrichten wollte, merkte sie, daß der Körper kalt war.

In den letzten Tagen vor seinem Ende hatte die Versöhnung mit dem ältesten Sohne, Karl, stattgefunden.

Wunderlich genug war das zugegangen: Jochen pflegte ehedem nicht vom Sterben zu reden, er sprach auch nicht mit seiner Frau über das, was nach seinem Tode einmal werden solle. Wie so viele Landleute hegte er den Glauben, daß man den Tod herbeilocke, wenn man ein Testament mache. Was aber sollte aus 328 dem Schulzengute werden, wenn er plötzlich die Augen zumachte? Man wagte es nicht, dem Vater diese Frage vorzulegen.

Kam da eines Tages Isidor Feige aus der Stadt und erkundigte sich nach dem Preise, für welchen Herrn Tuleveit seine Besitzung feil sei. Er habe, so behauptete Feige, einen jungen Ökonomen an der Hand, für den er ein Grundstück gerade in dieser Größe suche.

Das hatte bei Jochen die Stelle berührt, wo er am empfindlichsten war. Zeit seines Lebens hatte er sich ja gegen die Erwerbsgelüste seiner mächtigen Nachbarn, der Großgrundbesitzer, wehren müssen; und so waren schon seine Vorfahren stets auf dem Posten gewesen. Auch noch anderes Schmerzliche war ihm von jener Seite zugefügt worden. All diese Wunden wurden mit einem Male von neuem aufgerissen.

Feiges Versuche, den Alten zum Verkauf zu überreden, scheiterten also; aber einen ganz anderen Erfolg hatten sie: Jochen war zur rechten Zeit daran erinnert worden, welche Gefahr seinem Besitztum drohte, wenn er nicht mehr sein würde. Schon sah er im Geiste seine Felder aufgehen in der Rittergutsflur, seinen Hof ein Vorwerk werden von Grabenhagen, auf seinem Eigen den verhaßten Nachbar schalten und walten.

Diese Aussicht spannte die Energie des alten Mannes noch einmal zur Betätigung an. Es geschah, was niemand gedacht, er bot selbst die Hand zur Versöhnung mit seinem Ältesten. Familienrat wurde gehalten. Man legte sich gegenseitig seine Verhältnisse dar mit aller Offenheit.

Da stellte es sich denn nun freilich heraus, daß vieles verfehlt worden war früher und daß man sich in den Jahren der Entzweiung schweren Schaden zugefügt 329 hatte. Karl war in pekuniäre Abhängigkeit geraten von dem Händler Feige; seine Schuld war so bedeutend, daß nur an eine allmähliche Tilgung gedacht werden konnte.

Der zukünftige Schulzengutsbesitzer kam in keine leichte Lage; er konnte nur bestehen, wenn die anderen Erben Entsagung übten, ihm den Hof unter besonders günstigen Bedingungen ließen. Mutter Tuleveit und Otto erklärten sich zu jedem Opfer bereit, und von Greten erhoffte man dasselbe.

So hatte Jochen sein Haus bestellt. Es war ihm vergönnt, in letzter Stunde noch seine Familie in Frieden um sich zu versammeln. Nur Grete fehlte; von ihr, die einstmals sein Liebling gewesen, hatte er nicht Abschied nehmen dürfen.

Die Beerdigung sollte auf dem Grabenhäger Gottesacker stattfinden. Dem Schulzengute gehörte dort eine Erbbegräbnisstelle. Es würde voraussichtlich ein stattliches Leichenbegängnis werden. Jochen Tuleveit war geachtet gewesen weit und breit. Mit ihm ging eine ehrwürdige Persönlichkeit dahin, die als eine Art Wahrzeichen betrachtet worden war der Gegend.

Pastor Grützinger hatte den Gemeindekirchenrat aufgefordert, in Gesamtheit an der Leichenfeier ihres verstorbenen Mitgliedes teilzunehmen. Auch an Erich von Kriebow, als den Patron, war diese Aufforderung ergangen.

Kriebow lehnte ab. Es war ja unmöglich; sein Selbstgefühl ebenso wie die Rücksicht auf die Tuleveitsche Familie verboten es ihm, an den Sarg dieses Mannes zu treten, mit dem er in unausgeglichenem Zerwürfnis gelebt hatte.

Es war ein unbehaglicher Tag für Erich. Von 330 früh an schon trieb es ihn von einer Beschäftigung zur anderen. Den wahren Grund seiner Unruhe wollte er sich selbst nicht eingestehen.

Klara sah, daß er sich quälte; sie ahnte, was der Anlaß sei. Aber zu helfen war ihm nicht; das mußte ertragen werden!

In der Gutswirtschaft war heute mitten in der Woche eine Art von Feiertag. Die Leute hatten Urlaub erbeten, um an dem Begräbnis teilzunehmen. Heilmann behauptete, das sei weiter nichts als Oppositionslust; die Leute wüßten ganz gut, wie der Verstorbene zur Herrschaft gestanden habe. Der Inspektor schlug vor, die Arbeiter nicht zum Begräbnis gehen zu lassen. Ein Vorschlag, auf den der Grabenhäger natürlich nicht einging.

Peinlich war es ihm aber doch, seine Leute dort zu wissen. Was würde da alles aufgewärmt werden. Sollte sich der Pastor die Gelegenheit entgehen lassen, sein Mütchen an ihm zu kühlen? Die Grabrede gab ihm ja die beste Handhabe dazu. All die alten Geschichten würden wieder hervorgezerrt und mit Wonne kolportiert werden.

Um allen unangenehmen Eindrücken und Erwägungen zu entgehen, beschloß Kriebow einen Ausritt, dem frisch gefallenen Schnee zum Trotze.

Als er nach dem Stall hinüberging, sah er vor dem Inspektorhause einen elegant gekleideten Herrn in Unterhaltung mit Heilmann. Der Fremde, in Zylinder und Gehpelz, kehrte ihm den Rücken zu; aber an der Manier, beim Sprechen die Schultern hochzuziehen, und an den lebhaften Handbewegungen erkannte er sofort: Isidor Feige!

Was wollte der Kerl hier? Kriebow sah im Hofe 331 einen Schlitten stehen ohne Pferde; ein fremder Kutscher lungerte dort umher. Feige hatte also die Pferde in seinen Stall gezogen! – Kriebow verdroß die Unverfrorenheit; er wollte es auch Heilmann sagen, daß hier keine Ausspannung sei für Feige und Konsorten.

Der Grabenhäger war schon zu Pferde gestiegen, als der Bankier sich ihm mit abgezogenem Hute näherte. Er sei aus einem äußerst traurigen Anlasse hier, sagte er mit Leichenbittermiene: der Tod des »braven, alten Herrn Tuleveit«. Aber schließlich, er sei alt und leidend gewesen, und man müsse es als »eine Erlösung« betrachten.

Dann sprach er von den nahen Beziehungen, die er zu dem Verewigten gehabt, und von seinen Geschäftsverbindungen mit dem Sohne. Er habe es sich nicht nehmen lassen wollen, seinem alten Freunde, diesem »herrlichen, wackeren Manne«, die letzte Ehre zu erweisen.

Das brachte er in salbungsvoll wehmütigem Tone vor, ohne sich dabei die Mühe zu geben, ein arrogantes Lächeln zu unterdrücken, das vertraulich versichern zu wollen schien: Wir beide verstehen uns ja!

Dem Grabenhäger war solche Vertraulichkeit unangenehmer denn je. Das hatte ihm heute gerade noch gefehlt! –

Jetzt, wo er Isidor in die schlauen Augen geblickt, wußte er, weshalb der hier war. Da drüben die Tuleveitsche Erbschaft, das und nichts anderes hatte ihn herausgelockt.

Der Grabenhäger grüßte kurz und ritt an, aber Feige kam mit. »Auf ein Wort, Herr Baron! Unser gemeinsames Geschäft – Sie wissen, wovon ich rede – ist durch den Tod des Herrn Tuleveit in ein neues Stadium gerückt. Nun wird man endlich einmal erfahren, 332 was der Mann eigentlich besessen hat. Wenn der Ochse geschlachtet ist, sieht man, wieviel Fett er gehabt hat.« Dazu grinste Isidor Feige verständnisvoll.

Wovon er eigentlich rede? fragte Kriebow von oben herab.

»Aber verehrtester Herr Baron! Sie haben mir doch damals selbst Auftrag gegeben, im Hotel zum Elefanten. Sollten Sie sich nicht mehr entsinnen?« –

»Ja, leider habe ich mich damals durch Sie beschwatzen lassen. Es hat mich längst gereut! Ich nehme den Auftrag zurück.«

»Herr Baron! Die Gelegenheit ist günstiger denn je. Wir halten ja nunmehr alle Trümpfe in der Hand. Die Verhältnisse der Familie Tuleveit sind gar nicht günstig, wie ich Ihnen im Vertrauen mitteilen kann.«

»Lassen Sie mich gefälligst aus dem Spiele, Herr Feige!«

»Ich verstehe! Der Herr Baron wollen persönlich mit der Sache nicht in Berührung kommen. Ist auch gar nicht nötig! Ich übernehme die Ausführung. Ich garantiere dafür, daß nichts Kompromittierendes vorkommen wird. Das Geschäft wird in völlig loyaler Form gemacht. Es ist ein hochanständiges Geschäft; der Herr Baron haben nicht das geringste zu befürchten.«

Hier unterbrach ihn Kriebow; er war dunkelrot vor Unmut. »Und ich sage Ihnen, daß ich mit solchen zweideutigen Geschichten nichts gemein habe. Ein für allemal erkläre ich Ihnen, daß ich mit Ihnen überhaupt nichts mehr zu tun haben will. Ich hoffe, ich bin verstanden!«

Damit ritt er von dannen.

Isidor Feige blieb in ärgerlicher Stimmung zurück. Beinahe hätte er sich beleidigt gefühlt.

333 Er kannte die Junker und ihre Art. Sie waren hochfahrend und wetterwendisch. Schon auf der Schule hatten sie ihn malträtiert und dabei doch, wenn sie in Geldnot waren, angeborgt. Schlechte Geschäftsleute waren sie alle, auch der hier! Neulich hatte er dem Menschen die Sache klar zu machen versucht; da schien er auch seinen Vorteil glücklich kapiert zu haben, und heute war alles wieder anders.

Aber es war noch nicht aller Tage Abend! Herr von Kriebow hatte einen Inspektor, der war ein Mann von praktischem Sinn und verständnisvoll. Es würde ja hier wohl auch so sein wie bei den meisten dieser Herren: trotz ihres Hochmuts und ihrer Einbildung hatten ihre Inspektoren sie in der Tasche. –

Der Grabenhäger aber war mit sich zufrieden. Er hatte seinem Herzen Luft gemacht; das tat wohl. Die Anfrischung konnte er an diesem schwülen Tage gebrauchen.

* * *

Nachdem Erich ausgeritten, war Klara in den Park gegangen. Auch sie hatte das Bedürfnis gefühlt: hinaus ins Freie! Seine trübe Stimmung hatte sie angesteckt.

Es sah unwirtlich aus im Park um diese Jahreszeit; die Wege waren verschneit, die Zweige entlaubt, durch die leeren Baumkronen blickte ein nüchterner Himmel auf eine kahle Landschaft herab. Es schien unmöglich, daß jemals der Frühling wieder mit saftiger Blätterfülle diese düsteren Baumgerippe bekleiden könne. Hoffnungslos war die Sommerpracht unter Schnee und Eis begraben.

Jetzt begannen drüben vom kleinen Kirchlein die Glocken anzuschlagen. Klara kannte schon den harten, dünnen Ton; es war das Sterbeglöckchen.

334 Das Begräbnis! Über die verschneiten Felder sah sie jetzt den schwarzen Zug herankommen, vom Schulzengute her auf den Park zu, der den Kirchhof von drei Seiten umschlossen hielt. Melancholisch zitterte das »Befiehl du deine Wege« durch die Winterluft.

Unwillkürlich die Hände faltend, blieb Klara an der verwilderten Weißdornhecke stehen, die Park und Kirchhof schied. Der Alte, den sie hier begruben, hatte sie zwar von seinem Sterbelager gewiesen; daß sie für ihn betete, konnte er nicht verhindern.

Immer näher kam der Gesang. Vor ihr lag der Friedhof mit seinen verschneiten Hügeln, jedes Kreuzlein hatte eine weiße Mütze auf. Das Lied war zu Ende; man hörte das Stapfen der Leute hinter der Mauer. Jetzt schwenkte die Spitze des Zuges durch die Kirchhofspforte ein.

Das ganze Dorf war dabei; Klara erkannte viele Gesichter. Wie fremd die Leute sich ausnahmen, die man in Arbeitskleidung zu sehen gewohnt war, in ihren schwarzen Röcken und hohen Hüten! – Die Träger ließen den Sarg neben der offenen Grube nieder. Etwas abseits stellte sich der alte Klinguth auf mit der Schuljugend und verteilte Blätter zum Absingen einer Trauerarie.

Dort jene Gruppe: die Anverwandten. Da standen die beiden Söhne, aufrechte, kraftvolle Gestalten, zwischen ihnen die gebeugte Greisin: Mutter Tuleveit. Und dort das frische Kindergesicht. – Wieder durchzuckte Klara ein jäher Schreck, als sie des Knaben ansichtig wurde. Sie wollte sich abwenden, aber mit geheimnisvoller Gewalt zog es sie, dorthin zu blicken. Jetzt durfte sie sich einmal ganz in dieses Kindes Angesicht versenken.

335 O, wenn man solch ein Kind hätte haben können! – Es schwindelte Klara bei dem Gedanken; sie mußte sich anlehnen, weil ihr urplötzlich zumute war, als schwanke der Boden unter ihr. Schon neulich, als sie den Knaben zum ersten Male gesehen, hatte dieser rätselhafte Schreck sie gepackt. Mit elementarer Gewalt war das über sie gekommen, ein wehes, banges Gefühl, das ihre ganze Natur in den geheimsten Tiefen erfaßte.

Im Innersten hatte sie solche Wünsche bisher verschlossen gehalten, verborgen von profanen Blicken. Sie wußte ja: Erich wünschte sich nichts brennender als einen Erben seines Namens und seines Besitzes. Auch ihre Mutter beschäftigte der Gedanke. Erst neulich wieder hatte Frau von Lenkstädt in einem ihrer Briefe danach geforscht. Klara war das im Grunde der Seele zuwider; wie eine Entweihung erschien es ihr des zartesten Mysteriums. Vor sich selbst hatte sie sich stets geschämt, wenn ihre Gedanken sie einmal diesen Weg geführt.

Und nun war dieser große Wunsch, so lange zurückgehalten, urplötzlich mit Naturgewalt durchgebrochen. Es war, als seien ihr die Augen aufgegangen beim Anblick dieses Kindes über das, was ihr fehlte.

Der Grabgesang, von Kindermund vorgetragen, war verklungen. Der Pastor begann seine Rede. Klara hörte anfangs kaum auf seine Worte. Sie starrte noch immer nach jener Gruppe am Grabe. Wie sich der Knabe jetzt an die Großmutter anschmiegte! Die alte Frau legte ihm den Arm um die Schultern und drückte ihn an sich, als sei er von allem, was ihr geblieben, das Teuerste.

Pastor Grützinger gab ein Bild von dem Charakter des Verstorbenen; er stellte ihn in seiner Geradheit, 336 Ehrenhaftigkeit und Treue den Überlebenden als Vorbild hin. Dabei schwelgte er nicht in jenem sentimentalen Pathos, das an Gräbern so billig ist. Der Schmerz der Angehörigen wurde von ihm nicht aufgewühlt; er stellte den Tod des Greises hin als den natürlichen, gottgewollten Abschluß eines Daseins, das »köstlich« zu preisen war, weil es »Mühe und Arbeit« gewesen. Daß dem Verstorbenen in seinem Leben auch schweres Herzeleid widerfahren sei, deutete er an, aber er verweilte sich nicht dabei, vermied jede persönliche Anspielung.

Klara hatte das nicht anders von Grützinger erwartet. Sie kannte ihn besser als Erich.

Für die junge Frau bedeuteten die ruhig männlichen und dabei doch innigen Worte des Geistlichen eine Herzstärkung. Ihr war es, als sei die Versöhnung, die sie neulich gesucht und die ihr abgeschlagen worden war, nun doch erreicht durch diesen weihevollen Abschluß.

Sie ging, als sich die Feier drüben ihrem Ende nahte. Ihr inneres Gleichgewicht war hergestellt. Der Verstorbene hatte nun seinen Frieden, mit ihm war die Feindschaft begraben.

* * *

Als sie, ins Haus zurückgekehrt von ihrem Gange, in ihr Zimmer kam, fand sie dort einen Brief. Klara jubelte, als sie die Handschrift sah: von ihrer Mutter.

Aber ihre Freude sollte sich wandeln, sobald sie die ersten Zeilen gelesen.

Frau von Lenkstädt schrieb: Klara solle nicht erschrecken, aber sie habe ihr Schmerzliches mitzuteilen. Den Vater habe ein Unfall getroffen. Bewußtlos sei er plötzlich hingeschlagen im Zimmer. Eine Verletzung 337 habe er nicht davongetragen, aber Aussehen und Sprache seien verändert. Man müsse befürchten, daß sich das wiederholen könne. Der Kranke sei schwach, aber bei Bewußtsein. Der Gedanke ans Sterben scheine ihn zu beschäftigen. Er habe auch von Klärchen gesprochen.

Klara stand wie vom Blitz getroffen, anfangs gar nicht fähig, einen zusammenhängenden Gedanken zu fassen. – Der Vater krank, schwer krank! – – Sie hatte so gar nicht an diese Möglichkeit gedacht. Und nun war das Schreckliche auf einmal da.

Sie las den Brief wieder und wieder, suchte zwischen den Zeilen, sah die einzelnen Worte an auf ihre Bedeutung; die Mutter verheimlichte ihr doch nichts? Beschönigte wohl gar, um sie zu schonen! – Namenlose Angst überkam sie, das Schlimmste könne schon geschehen sein. Was sollte sie anfangen? Hier so allein, so weit weg von der Heimat! Sie mußte hin, nach Burgwerda, sich selbst überzeugen, wie es stehe.

Inzwischen war Erich vom Ausreiten zurückgekehrt. Sie hörte ihn pfeifend und sporenklirrend die Treppe heraufkommen. Es verletzte sie; sie bedachte nicht, daß er von ihrem Schmerz ja noch gar nichts wissen konnte.

Als Erich eintrat, erkannte er an Klärchens verweinten Augen sofort, daß etwas Außerordentliches geschehen sein müsse. Er fragte besorgt, was sie habe. »Lies nur selbst!« Damit reichte sie ihm den Brief.

Kriebow las den Brief durch. »Wie traurig, wie furchtbar traurig!« meinte er. Was sollte er viel sagen! Er fühlte sich verlegen, daß er nicht mehr Schmerz empfand. Aber so schwer wie Klärchen konnte er den Fall unmöglich nehmen.

Ihn beschäftigte vor allem eine Frage: würde Klärchen nach Haus reisen wollen? Er fürchtete es, 338 obgleich sie noch nichts davon gesagt hatte. Jetzt im Winter die weite Reise nach Burgwerda und er dann mutterseelenallein in Grabenhagen! Nein, Klärchen konnte ihm das wirklich nicht antun! –

Während einer Stunde schwebte die Frage zwischen ihnen. Erich hörte, wie sie in ihrem Zimmer auf und ab ging und sich mit ihren Sachen zu schaffen machte. Er argwöhnte sofort, daß sie Vorbereitungen treffe zur Reise. Aber er scheute sich hineinzugehen und sie deshalb zu fragen.

Nach einiger Zeit kam sie selbst zu ihm, legte ihm die Hände auf die Schulter und sagte:

»Erich, ich möchte dich um etwas bitten!«

»Ich weiß schon, ich weiß! Du willst nach Burgwerda.«

»Ja, ich muß! Du hast es doch selbst gelesen, wie krank der Vater ist.«

»In dem Briefe steht kein Wort davon, daß dich deine Mutter jetzt wünscht. Wenn du gehen willst, kann ich dich natürlich nicht daran hindern; aber nach meiner Ansicht ist dein Platz hier bei mir.«

Klara blickte ihn nur groß an. Er sah, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Schon tat es ihm leid, daß er das gesagt hatte. Der stumme Vorwurf in ihren Zügen sagte ihm schärfer, als Worte es vermocht hätten, welch ein Egoist er sei.

Sie verbrachten ein schweigsames Mittagessen.

»Ich will dir die Züge aussuchen im Eisenbahnbuche,« sagte Erich und gab ihr dadurch zu verstehen, daß er sich eines Besseren besonnen habe.

Nachdem das geschehen, fragte er: »Soll ich dich begleiten, Klärchen?«

»Du kannst uns in Burgwerda nichts helfen, guter 339 Erich! Und für dich wäre es auch ein zu großes Opfer. Laß mich nur allein reisen!«

»Und – wie lange werde ich dich denn dann – nicht haben?« fragte er. Seine Stimme stockte; der Schmerz, sie entbehren zu müssen, übermannte ihn.

Dieser neue Beweis seiner starken Liebe beglückte sie doch. Sie küßte ihn und strich ihm über das Haar. »Vielleicht bald, guter Erich! Hoffentlich recht bald haben wir uns wieder – aber, wer kann das wissen!«

»Was werde ich denn beginnen ohne dich?«

»Ich will dir was sagen, Erich!« rief Klara, einen etwas leichteren Ton anschlagend, in dem Bemühen, seinen Trübsinn zu verscheuchen. »Verreise du auch! Bis Berlin fahren wir zusammen, dann bleibst du dort.«

»Was soll ich denn in Berlin, Klärchen?«

»Es wird dir gut tun, Erich! Du hast dir's verdient!«

Was die Frauen doch für wunderliche Wesen waren! Daß sie ihm gerade diesen Vorschlag machte! – Ob sie sich wohl völlig klar war darüber, was das für ihn hieß: Berlin? –

Er überlegte sich's bis zum Abend; im Grunde gefiel der Gedanke ihm selber. Nach Berlin! Mal wieder in die Welt – die alten Erinnerungen auffrischen! –

Am Abende teilte er seiner Frau mit, daß er sie bis Berlin begleiten werde.

 


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