Wilhelm von Polenz
Der Grabenhäger
Wilhelm von Polenz

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XXV.

Endlich war der Frühling eingezogen, zwar noch nicht mit Schwalben, grünem Laub und Blumenschmuck; auf die warmen Tage folgten noch immer kalte Nächte. Aber diese ersten Sonnenblicke hatten doch genügt, Äcker und Wiesen von ihrer eisigen Kruste zu befreien. Nur noch in Gräben, Bodensenken und beschatteten Winkeln fristeten die Überreste des Winters ein kurzlebiges Dasein. Der Schnee hatte seine Dienste getan, wundervoll frisch waren die Saaten erhalten. Weithin leuchtete das saftige Grün des Roggens und Weizens. Wenig nur war ausgewintert.

436 So gut seien seines Gedenkens die Saaten noch nicht durch den Winter gekommen, meinte der alte Kräuger, mit dem der Grabenhäger am Sonnabendnachmittag an den Feldern entlang fuhr, um zu sehen, ob man nun endlich mit der Frühjahrsbestellung beginnen könne. Man beschloß, am Montag mit Pflügen eines hochgelegenen und darum leidlich trockenen Schlages den Anfang zu machen.

Das Frühjahrswetter hielt aus. Eine Floge von Schnee und Graupel, die kam, um die Landschaft noch einmal weiß anzuputzen, hatte keinen Bestand. Mit Macht schwollen die Triebe und Knospen. Die Wiesen beschlugen grün.

Den frühjahrskündenden Schwalben ähnlich trafen Wanderarbeiter in Grabenhagen ein, einige dreißig an Zahl: Männer und Frauen, auch einige halberwachsene Knaben und Mädchen darunter. Ein Stamm von Familien, die unter ihrem Vorschnitter nun schon seit einer ganzen Reihe von Jahren nach Grabenhagen kamen. Sie schienen sich in ihrer Kaserne, die Erich von Kriebows Vater für sie hatte errichten lassen, ganz heimisch zu fühlen.

Nun wurde es ernst in der Feldarbeit, mit Pflügen, Eggen, Hacken, mit Düngerstreuen, Unterpflügen, Säen, Drillen, Pflanzen, Stecken und Walzen.

Der Gutsherr hätte sich in Stücke teilen mögen, um überall zu sein. Früh beim ersten Tagesdämmer stand er auf, war den ganzen Morgen und Vormittag im Sattel, von einem Gespann zum anderen fliegend, hier die Knechte beim Pflügen zu kontrollieren, dort die Weiber beim Kartoffellegen oder die Drillmaschine zu inspizieren, die den Hafer säen sollte, dann wieder mal 437 schnell dorthin, wo die Brache geschält oder der Mist breitgeworfen wurde.

Zu den Mahlzeiten hielt er dieselbe Zeit inne, wie seine Leute. Und abends, wenn sie Feiertag machten, setzte er sich an den Schreibtisch, denn nun kam erst das schwierigste von allem: die Buchführung und das Rechenwesen.

Todmüde begab er sich zu Bett, wenn die Augen ihm den Dienst zu versagen anfingen und die Feder seiner Hand entsank.

Aber unglücklich fühlte er sich dabei nicht. Es kam ihm vor, als habe es ihm noch nie so gut geschmeckt, als sei er noch nie so frisch und stark gewesen, wie in diesen Frühlingstagen.

Er wunderte sich über sich selbst; vor einem Jahre noch hätte er sich solche Anstrengungen nimmermehr zumuten können. Dagegen gehalten war ja der Dienst bei der Truppe Kinderspiel gewesen!

Die Anforderungen, die jede Stunde an ihn stellte, ließen ihn gar nicht recht zu Bedenklichkeiten kommen. Das Bewußtsein, auf sich allein gestellt zu sein, verlieh ihm besondere Kraft. Er fühlte selbst seine Energie gesteigert, sein Denken klarer, sein Zugreifen fester und knapper werden.

Und eine weitere ihn überraschende Erfahrung machte Erich von Kriebow: Während Heilmanns Regiment hatte er nie in ein befriedigendes Verhältnis zu seinen Gutsleuten gelangen können. Zwischen dem Herrn und den Arbeitern stand ja der Beamte.

Mit einem gewissen Mißtrauen hatte der junge Gutsherr seine eigenen Leute betrachtet; er argwöhnte, daß sie ihm feindlich gesinnt seien, zum mindesten, daß sie ihn beneideten.

438 Aber Mißtrauen und Unbehagen schwanden mehr und mehr. Er fing an, sie kennen zu lernen in ihrer Eigenart, er beobachtete die einzelnen bei der Arbeit, lernte ihre guten Eigenschaften schätzen und mit ihren schlechten rechnen. Allmählich begann er auch, von der Lage der verschiedenen Familien eine Ahnung zu bekommen. Und je mehr er in diese Verhältnisse eindrang, desto mehr Interesse gewannen sie für ihn. Er wurde freier in seinem Verkehr mit den Leuten; hin und wieder gelang es ihm, einen Scherz mit ihnen zu machen, ihnen ein harmlos aufmunterndes Wort zuzurufen. Und wie dankbar schienen sie für dergleichen! Sie waren nicht verwöhnt worden.

Erichs Vater hatte mit vollem Bewußtsein die Schranken des Standes zwischen sich und seinen Leuten aufs strengste beobachtet. Und Heilmann hatte dafür gesorgt, daß dies so blieb. Zur Politik dieses Beamten gehörte, den Herrn in einer gewissen Erregung seinen Arbeitern gegenüber zu erhalten. Der Herr sollte glauben, daß nur durch ihn diese widersetzliche und faule Rotte in Rand und Band gehalten werden könne.

Diese Instanz zwischen Arbeitern und Gutsherr war nun beseitigt. Aber wer so lange und so unumschränkt regiert hat, wie Inspektor Heilmann in Grabenhagen, gibt nicht gutwillig das Regiment auf.

Eines Tages, als die Feldbestellung bereits im vollen Gange war, teilte Heilmann seinem Herrn durch Brief mit, daß er sich nunmehr hergestellt fühle und daß er imstande und bereit sei, den Dienst wieder zu versehen.

Der Gutsherr hatte inzwischen erfahren, daß Heilmann den Versuch gemacht hatte, die Tagelöhner aufzuhetzen. Er war damit abgefallen. Die Leute, nur 439 zu glücklich, von seiner Tyrannei befreit zu sein, hatten sich taub gezeigt gegen diese Verführung. Kriebow aber, durch den Statthalter über solche Umtriebe des ehemaligen Inspektors unterrichtet, fühlte sich nun natürlich erst recht nicht geneigt, den Menschen wieder zu Gnaden anzunehmen.

Den alten Mann allzuscharf heranzunehmen, widerstrebte Kriebow trotz alledem. Er hatte schließlich doch seine unleugbaren Verdienste um Grabenhagen.

Daher war sich Erich von Kriebow auch klar, daß er Heilmann pensionieren müsse. Die Höhe der Pension freilich festzustellen, war eine schwierige Frage. Die lebenslängliche Versorgung eines Mannes, der, bis auf Rheumatismus und Asthma, noch eine feste Natur besaß, konnte eine nicht unbedeutende Last für das Gut werden. Auf der anderen Seite war es unmöglich, einen Beamten, der der Familie über dreißig Jahre gedient hatte, zu entlassen, ohne seine Zukunft sichergestellt zu haben.

* * *

Am Sonntag feierte der Grabenhäger. Jetzt, wo er die Arbeit in ihrer ganzen Strenge kennengelernt hatte, fing er an zu verstehen, was die Sonntagsruhe für den Landmann bedeute.

Nach wie vor paßte er streng auf, daß am Feiertage keine Feldarbeit verrichtet wurde.

Kriebow selbst war ein paar Sonntage nicht zur Kirche gekommen. Es war zu verlockend, den einzigen Morgen, den man frei hatte, zum Ausschlafen zu benutzen. Wenn er dann die Glocken zum Kirchgang läuten hörte, legte er sich noch einmal aufs andere Ohr. Für den nächsten Sonntag aber hatte er sich vorgenommen, 440 wieder einmal zur Kirche zu gehen. Man war sich das selbst und war es auch den Leuten schuldig; sie hielten einen sonst ja für einen Heiden.

Er gab also Kruke den Befehl, energisch zu wecken, da er sich selbst nicht recht traute, daß er am Morgen auch wirklich noch auf der Höhe des eigenen Entschlusses stehen würde. Es gelang dem alten Diener auch, seinen Herrn rechtzeitig aus den Federn zu bringen.

Dann schritt der junge Gutsherr bei wunderbarem Osterwetter, das Gesangbuch in der Hand, durch seinen Park nach der Kirche hin; langsam, denn es war noch nicht Zeit.

Er besah sich die Rasenplätze, die Strauchpartien, die Beete und Rabatten, da war noch nicht viel dran geschehen; man hatte seine ganze Kraft dem Acker zugewendet. An die Besorgung des Parkes war nicht gedacht worden; da fehlte eben Klara.

Bei dem Gedanken an sie kam ein starkes, sehnendes Verlangen über ihn. Er hatte sich so darauf gefreut, die Schönheit der Frühlingszeit, die so besonders günstig war für seine Heimat, mit Klara zu genießen. Welche Freude würde sie gehabt haben, die ersten Blumen ihre lieblichen Häupter herausstecken zu sehen; wie entzückt würde sie gewesen sein über das Hervorbrechen des Blätterwerks an den Bäumen. Wie wechselten jetzt täglich, stündlich beinahe die Farben und Schattierungen, wie prächtig sah jetzt selbst das Ackerland aus mit seiner mannigfachen Abwechslung von Winter- und Sommersaaten, von blühendem Raps mit seinem leuchtenden Gelb, dem tiefen Grün des Weizens und dem zarteren des jungen Hafers. Und nun gar, wenn der Morgennebel sich vom dampfenden Acker hob und die ganze Pracht der Landschaft enthüllte. –

441 Erich von Kriebow war nicht gerade was man einen Naturschwärmer nennt. Er hatte schon so viel vom Landwirt angenommen, daß er sich mehr über die Dichtigkeit und Gleichmäßigkeit der gedrillten Saat freute, als über den herrlich satten Ton, wenn die Abendsonne auf den grünen Teppich schien. Aber auch er fühlte sich im Innersten belebt, angeregt und gestärkt und seine Genußfähigkeit verdoppelt, wenn er die Wunder sah, die eine verschwenderische Kraft jetzt täglich vor seinen Augen zeugte.

Es war ja der Frühling!

Und vor all diesen knospenden Reizen wurde ihm eigenartig schwül und weh zumute. Die Sehnsucht nach der geliebten Frau wirkte oft wie ein körperlicher Schmerz, wie eine schier unerträgliche Qual. Er träumte des Nachts von ihr und erwachte zitternd vor Verlangen. In seinen Gedanken war sie wieder seine Braut geworden. Von neuem sollte alles beginnen, von neuem würden sie Liebespaar sein. Er erbebte bei der bloßen Vorstellung ihrer Wiederkehr.

Sicherlich, Klärchen mußte dasselbe empfinden wie er! Wenn nur ihr Vater endlich gesund würde! –

Er drängte immer mehr in seinen Briefen.

Wie kühl und sachlich waren dagegen die ihren. Sie berichtete darin von allem möglichen: von dem Befinden des Vaters, dem Verhalten der Mutter, von allerhand kleinen Erlebnissen in und außer dem Hause. Das war ja alles ganz gut und schön; aber ein Verstehenwollen seiner Gefühle und Wünsche fand er darin nicht.

War denn in Burgwerda nicht auch Frühling? –

Von der Kirche her mahnte ihn Gesang, daß es Zeit sei, nunmehr einzutreten. Bald saß er im 442 altertümlichen Kriebowschen Kirchenstuhle. Mancherlei hatte sich hier in letzter Zeit verändert. Die Orgel war nun repariert. Beinahe fehlten dem Gutsherrn ihre altgewohnten Schwindsuchtstöne. Auffällig war auch gegen früher die Fülle in der Kirche. Der Besuch hatte sich entschieden gebessert. Auch daran konnte sich Erich von Kriebow ein Verdienst zuschreiben. Der Pastor durfte dem Rittergute nicht mehr vorwerfen, daß es ihm die Leute abhalte von der Sonntagsheiligung.

Gutsherr und Geistlicher sahen sich nur selten; sie gingen einander nicht gerade aus dem Wege, aber sie suchten sich auch nicht auf. Wenn sie sich ja einmal durch Zufall trafen, oder in Gemeinde- und Kirchenangelegenheiten gezwungen waren, zu konferieren, dann herrschte zwischen ihnen der vorsichtig zurückhaltende Ton, den Männer anzunehmen pflegen, welche schon einmal die Klingen gekreuzt haben. Im übrigen waren ihre Wirkungskreise sehr verschieden; Kriebow ging jetzt ganz in der Feldwirtschaft auf und hätte schon darum gar keine Zeit gehabt, »dem Pastor auf die Finger zu sehen,« wie ihm Graf Wieten angeraten hatte. Und die Arbeit des Geistlichen war die unauffälligere, an den Seelen.

Pastor Grützinger war rastlos tätig. Die Parochie, die er zu pastorieren hatte, zählte zu den größten der Gegend; denn außer Grabenhagen gehörte auch die Filialkirche von Groß-Podar mit ihrer weit stärkeren Seelenzahl dazu.

Er war nicht bloß Pastor, wenn er auf der Kanzel stand, im Wachen und Schlafen konnte er seines Amtes nicht vergessen. Wenn er sich setzte, dann saß er nur auf dem äußersten Rande des Stuhles, als müsse er sogleich wieder weiter. Seine Frau klagte, daß sie nichts von ihrem Pastor habe. Ihr Hauptkummer war, daß 443 er immer mehr abmagerte; gern hätte sie ihm etwas von der eigenen Fülle abgegeben. Aber alle ihre Versuche, ihn gut zu nähren, scheiterten an seiner Rastlosigkeit. Wie oft ließ er das Essen kalt werden, oder er überschlug ganze Mahlzeiten. Es war geradezu tragisch! –

Bei der Nähe, in der er vom Grabenhäger Herrenhause lebte, konnte es nicht fehlen, daß der Geistliche über die weiteren Dinge, die sich dort zutrugen, unterrichtet war. Grützinger wußte mehr über den Patron, als der sich träumen ließ. Noch ehe der junge Gutsherr in Grabenhagen Einzug hielt, hatte der Geistliche erfahren, wer der kleine Fritz – des alten Jochen Tuleveit Enkelsohn – in Wahrheit sei, wessen Blut in den Adern des Kindes rolle. Die Entdeckung eines solchen Geheimnisses hatte nicht dazu beigetragen, dem Pastor eine günstige Ansicht über seinen Patron zu geben. Er brachte daher dem Gutsherrn, wie seiner ganzen Sippe, ein starkes Mißtrauen entgegen. Junkerlichen Hochmut, Sittenlosigkeit und frivolen Leichtsinn erwartete er bei ihm und den Seinen zu finden.

Er war in seinem Mißtrauen weit über das Ziel hinausgeschossen, das mußte er sich jetzt selbst sagen. Herr von Kriebow war doch ein anderer, als er ihn sich vorgestellt; er hatte ihn allzusehr nach dem Verhalten seines Beamten, des Inspektors Heilmann, beurteilt. Daß er den entlassen hatte, rechnete Grützinger dem Gutsherrn hoch an. Er sah überhaupt manches, was ihn gegen seinen Willen für Herrn von Kriebow einnahm. Er sah vor allem, daß der Herr sich ehrlich mühte, daß er arbeitete; das war etwas, was ihm Achtung abrang.

Auch Kriebow war geneigt, milder über seinen Gegner zu denken. Er hatte sich bei seiner ersten, 444 ungünstigen Beurteilung des Mannes allzusehr von dem schlechten Leumund beeinflussen lassen, der dem Pastor gemacht worden war. Der Mann war doch wohl nicht der Herrschaft so feindlich gesinnt, wie Heilmann es dargestellt hatte.

Am Nachmittag, nachdem der Gutsherr von einem Spaziergang auf die Felder zurückgekehrt war, schrieb er einen Brief an Klärchen. In der letzten, arbeitsreichen Woche war er nur einmal dazu gekommen, ihr ganz kurz zu schreiben. Und dabei gab es doch so viel zu sagen! Von den letzten bedeutungsvollen Wandlungen, die in Grabenhagen stattgefunden hatten, wußte sie nur das Äußerliche: Heilmann war entlassen, er wirtschaftete selbst. Aber was das in Wahrheit für ihn bedeutete, daß er nun einen Beruf hatte, die Lust und Kraft, die er in der Arbeit gefunden, davon hatte er ihr noch nichts gesagt. Damit wollte er sie überraschen, das sollte sie selbst sehen mit ihren klaren Augen. Er erlebte es schon im Geist, das Glück, wenn er sie zum ersten Male hinausfahren würde aufs Feld, ihr die Saaten zu zeigen, und hörte schon im voraus ihre klugen Fragen. Und wenn sie dann erkennen mußte, wie er gewirkt und geschaffen hatte im letzten Vierteljahr, dann würde sie ihn voll Stolz anblicken – er sah schon den strahlenden Blick aus ihren lieben Augen.

Und so war er denn wieder dort angelangt, wohin ihn der Gedanke an Klärchen immer führte: wenn sie doch nur endlich hätte zu ihm zurückkehren wollen.

 


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