Wilhelm von Polenz
Der Grabenhäger
Wilhelm von Polenz

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XX.

Nachdem sich Klara in Berlin von Erich getrennt hatte, fuhr sie der Heimat zu. Der Zug war Schnellzug, aber er wollte der jungen Frau doch lange nicht schnell genug gehen. Der Gedanke, daß sie den Vater nicht mehr am Leben treffen könne, verfolgte sie wie ein Gespenst.

Sie war in der letzten Zeit so sicher geworden seinetwegen. Ihre eigenen Angelegenheiten hatten sie gänzlich in Anspruch genommen; sie machte sich Vorwürfe. Wie schnell sie vergessen hatte! Es kam ihr geradezu vor, als sei die plötzliche Erkrankung des Vaters eine Strafe für ihre Gleichgültigkeit.

Jetzt in ihrer durch Kummer und Sehnsucht gesteigerten Stimmung stand ihr die Heimat wieder ganz 359 deutlich vor Augen, zum Greifen deutlich! – Da war das alte Paar, das nun an die vierzig Jahre zusammenlebte.

Einen glücklicheren Ehebund konnte man sich nicht leicht denken. Niemals hatte man zwischen den Gatten Zwist erlebt; so schien es selbst den Nächststehenden.

Klara wußte, daß dieser Friede um einen teuren Preis erkauft war: durch die Selbständigkeit des Vaters. Der Willen der Mutter gab in allen Fragen den Ausschlag. Alle Welt fand diesen Zustand in schönster Ordnung; die einzige, die darin etwas Unrechtes erblickte, war die Tochter.

Früh schon hatte sich Klara auf die Seite des Vaters gestellt. Ihr Gerechtigkeitsgefühl empörte sich dagegen, daß ein Mensch, den sie liebte, unterdrückt werden sollte. Sie liebte die Mutter ja auch, aber in ganz anderer Weise als den Vater. Für den empfand sie früh ein Gefühl, das aus Zärtlichkeit und Fürsorge gemischt war. Sie trat schon als kleines Mädchen gegen die älteren Brüder auf, die mit jener naiven Grausamkeit, die den heranwachsenden Generationen nun mal eigen ist, achtlos über den Vater hinwegschreiten wollten und keine Rücksicht für seine Eigenart kannten.

Klärchens Parteinahme für den Vater war zunächst nur eine instinktive; sie tat so, weil sie nicht anders konnte – später, als sie über sich und andere nachzudenken begann, Recht und Unrecht gegeneinander abzuwägen gelernt hatte, sah sie die tiefer liegende Ursache dieser Entwicklung. Die Mutter war die stärkere Persönlichkeit, der lebhaftere Geist und die gesündere und robustere Natur. Der zarte, häufig kränkelnde Mann hatte das Glück, eine solche Lebensgefährtin an sich gefesselt zu haben, mit seiner Selbständigkeit bezahlen 360 müssen. Und die Frau hatte sich nichts Unrechtes dabei gedacht, als sie die Herrschaft sich aneignete; hätte ihr jemand gesagt, daß sie ihren Mann tyrannisiere, so würde sie sich über den ungerechten Vorwurf aufs echteste entrüstet haben.

Das Schwerste für Klara war gewesen, damals, als sie Erich das Jawort gab, die beiden alten Leute nun sich selbst überlassen zu müssen. Mit mancher bangen Sorge für die Menschen, die sie dort zurückließ, hatte sie sich von Burgwerda getrennt. –

Auf einem Kreuzungspunkte, wo der Schnellzug hielt, mußte Klara umsteigen, um von dort ab eine Nebenlinie zu benutzen. Während sie aus dem Coupé stieg, eilte eine ältere, starke Frau im Winterpelz auf sie zu und begrüßte sie.

»Wie steht's mit dem Vater, Elise?« rief Klara mit fast versagender Stimme.

»Ich danke, gnädige Frau! Es geht ein wenig besser. Der gnädige Herr freuen sich so sehr, daß gnädige Frau kommen.«

»Gott sei Dank!« sagte Klara, von dem Alp einer großen Angst erlöst. »Das ist ja herrlich!«

»Die gnädige Frau Mama schicken einen Schal zum Umnehmen und die Decke zum Vorlegen, weil's so kalt wäre,« erklärte Elise und gab der jungen Frau den Schal um die Schultern. Klara war so beglückt über die gute Nachricht, daß sie sich gegen die Wärmemittel gar nicht einmal zur Wehr setzte. Elise, eine trotz ihres Alters und ihrer Behäbigkeit noch immer äußerst fixe Person, hatte sich des Handgepäcks bemächtigt; man schritt nach der anderen Seite des Bahnhofs, wo bereits der Zug stand, mit dem Klara weiterfahren sollte.

Klara saß mit Elise allein im Coupé. Die Anzeichen 361 mehrten sich, daß man sich der Heimat nähere; der Schaffner erkannte die junge Frau und grüßte sie höflich.

Nun mußte Elise erzählen, natürlich zunächst über das Befinden des alten Herrn, was der Arzt gesagt, was für Mittel er verordnet habe. Elise war eine beredte Person, sie erzählte voll devoter Wichtigkeit.

Wie gut von der Mutter, ihr jemanden entgegenzuschicken! Auf diese Weise waren ihr doch ein paar Stunden Sorge erspart worden. Und gerade Elise! Die war ein solches altes Wahrzeichen von Burgwerda. Als Amme hatte sie dort ihre Laufbahn begonnen, war dann zum Stubenmädchen und zur Jungfer emporgerückt, schließlich hatte sie den Kastellan des Schlosses geheiratet. Jetzt war Elise das Faktotum von Frau von Lenkstädt.

Als die junge Frau sich ganz darüber beruhigt hatte, daß den Vater augenblicklich keine ernste Gefahr mehr bedrohe, ging sie mit ihren Erkundigungen zu anderen Personen über. Da kamen alle Leute im Hause daran, die Freunde im Orte und die Nachbarschaft. Elise war gerade die richtige Person, um jemanden, der lange fortgewesen war, über alles inzwischen Vorgefallene zu unterrichten.

Hin und wieder überzeugte sich Klara durch einen Blick aus dem Fenster, daß sie der Heimat näher und näher komme. Dort erschienen schon die bekannten Bergformen, die sie wie oft von ihrem Zimmer aus betrachtet hatte, als blaue Linie am Horizont. Nun fuhr man in einen Tunnel ein; wenn man jenseits herauskam, lag einem Burgwerda zu Füßen

Sobald sich das Ende des Tunnels ankündigte, trat Klara ans Fenster. Dort unten lag das Städtchen, überragt von einem Felskegel mit der Burg, nach der 362 es seinen Namen führte. Dahinter dunkelgrüner Fichtenwald. Das war die Heimat.

Klaras Herz schlug hoch hinauf. Wie oft, seitdem sie in der Fremde weilte, hatte sich die junge Frau dieses Bild vergegenwärtigt; wie schön war ihr die Heimat dann erschienen im Duft der Entfernung, und doch, wieviel traulicher noch und lieber war alles in Wirklichkeit, als sie es jetzt wieder sah.

Auf den Dächern lag Schnee. Das Flüßchen, das bei offenem Wetter da unten manches Rad trieb, war noch zugefroren. Der klobige Monolith, auf dem die Burg stand, hob sich dunkel ab von der Schneelandschaft ringsum, Fels und Mauerwerk schienen Eins in ihrer graubraun-düsteren Färbung.

Und von immer neuen Seiten zeigte sich das Bild; die Bahn stieg in weiter Bogenlinie allmählich von der Höhe in das Tal hinab.

Endlich, endlich hielt der Zug. »Station Burgwerda!« Der Schaffner riß die Tür auf. Der alte graubärtige Kutscher strahlte über das ganze Gesicht, als er die junge Frau auf den Wagen zukommen sah. Die alten, guten Tiere, »Michel« und »Hans«, da waren sie, und der Landauer mit den grünen Rädern. Alles gute, liebe Bekannte.

Auch die kurze Fahrt durch das Städtchen ließ hundert wohlbekannte Physiognomien und Dinge vor der Heimkehrenden auftauchen. Die Firmenschilder der kleinen Läden, die Fenstervorsetzer, die Blumentöpfe, die altmodischen Gesichter – nichts hatte sich geändert! Als läge zwischen damals, als sie Abschied genommen, und heute nur ein Tag. Es war, als sei Fräulein von Lenkstädt von einer kurzen Ausfahrt ins elterliche Haus zurückgekehrt.

363 Und nun den steilen Schloßberg hinan, wo es im Schritt ging. Jeden Stein im Mauerwerk, jeden Riß im Felsen erkannte sie da wieder. An der Toreinfahrt setzten sich die Pferde von selbst in Trab. Nun über den gepflasterten Hof, daß es ratterte, und schließlich in einer schönen Kurve vor die Tür. Dort unter der Haustür das frische, weißumrahmte Gesicht der Mutter. Ein Umfangen, Küssen, Stammeln, Lächeln und Tränen.

Nun war sie wirklich in der Heimat. –

Die Anwesenheit seiner Tochter wurde die beste Arznei für den alten Herrn von Lenkstädt. Während er vorher zum Auslöschen gewesen war, so daß der Hausarzt nicht für sein Aufkommen stehen wollte, hatte sich von dem Augenblicke ab, wo Klärchens Kommen feststand, sein Befinden schnell gehoben. Und nun, wo die geliebte Tochter bei ihm war, machte er fast den Eindruck eines Gesunden.

Klara verbrachte den größten Teil ihrer Zeit bei dem Vater. Gern überließ ihr die Mutter den Platz im Krankenzimmer. Die temperamentvolle, tätigkeitsgewöhnte Frau mußte ihrer Natur Zwang antun, um sich in die linde Geräuschlosigkeit der Krankenpflege zu finden. Ihr stand es viel besser, in Haus und Hof nach dem Rechten zu sehen, die Dienstboten auf dem Trab zu erhalten, Befehle zu erteilen und selbst Hand anzulegen.

Klärchen aber liebte den Samariterdienst.

Die junge Frau las dem Vater vor, um ihn zu zerstreuen; und wenn sie merkte, daß ihm das zu viel wurde, dann erzählte sie ihm von Grabenhagen. Klara war selbst erstaunt, wie viel sich davon erzählen ließ. Der Kranke konnte nicht genug zu hören bekommen von der Umgebung, in der sein Kind jetzt lebte. Dann 364 wurden Vergleiche angestellt zwischen Burgwerda und Grabenhagen. Manches war dort besser, in anderem wieder hatte die hiesige Gegend ihre Vorzüge. Bald waren dem alten Herrn Namen und Physiognomien ganz geläufig von Orten und Personen, die er nie in seinem Leben gesehen hatte.

Auch für Klara war es ein Genuß, sich einmal zu befreien von dem Vielen, was sie in der letzten Zeit aufgenommen hatte. Hier im freien, unbefangenen Erzählen wurde sie sich selbst erst klar über die neue Heimat, die sie gewonnen hatte. Jetzt stand sie dem Durchlebten wie einer Landschaft gegenüber, die man, mit Anteil, aber ohne tiefere Erregung betrachtet, in jenem gerechteren Lichte, das die Ferne den Dingen verleiht.

Und mit niemandem auf der Welt hätte sie über ihre Erlebnisse so offen und ruhig sprechen können wie zu ihrem Vater. Es war die große Reinheit des Gemütes und Unschuld des Herzens, die den Verkehr mit ihm so leicht und erquickend machten. Er war so ganz ohne Falsch, gutmütig, voll kindlicher Naivität. Auch im Äußeren hatte er sich etwas Knabenhaftes bewahrt: ein rundes, bartloses Gesicht, fast ohne Furchen, mit großen, Heiterkeit strahlenden Augen.

Jetzt war Klara in dem Verhältnisse der allein gebende Teil. Aber in früheren Tagen hatte der Vater ihr in seiner Art doch mancherlei zu sein vermocht. Das Vaterhaus hatte keine auserlesene Stätte geboten für das Gedeihen eines jungen Mädchens. Vier ältere Brüder, wilde, ausgelassene Jungens, die Mutter eine handfeste Natur, deren Wesen durch die Erziehung von vier Knaben nicht weicher geworden.

Da war es ein Glück für das heranwachsende 365 Mädchen, daß sie einen Freund fand, und daß dieser Freund ihr Vater war. Leicht würde das Selbstbewußtsein Klaras zu Sprödigkeit und Härte ausgeartet sein, wäre nicht in jener bedeutsamen Zeit, da das Wesen des Menschen seinen Fruchtansatz für die Zukunft macht, dieser selbstlose und unbefangene Mann an ihrer Seite gewesen. Nicht, daß der Vater sie erzogen hätte nach einem bestimmten Plane; aber seine bloße Anwesenheit, der Anblick und das Vorbild seiner stillen, kinderguten Persönlichkeit bildeten den ausgleichenden und besänftigenden Einfluß in der Entwicklung der Tochter.

Die Lieblingsbeschäftigung des alten Herrn war die Gärtnerei; darin ging für gewöhnlich sein Tagesleben auf. Diese Tätigkeit beeinflußte auch seinen Aufzug. Seit Jahrzehnten führte er für seine Röcke die nämliche, waldgrüne Farbe und den nämlichen bequemen Schnitt. Den einen Anzug trug er zum Rosenokulieren, den anderen zum Kirschenpfropfen, ein dritter war für die Arbeit im Warmhause bestimmt, einen ganz besonderen wieder zog er zum Abnehmen seines Obstes an. In den Taschen konnte man allerhand finden: Stricke, Bast, Baumhäkchen, Obstproben, Samen; sein Diener hatte strenge Weisung, nichts daraus zu entfernen. Der Besitzer allein kannte die Individualität eines jeden dieser grünen, verschlossenen Flausche und behandelte sie wie alte, gute Freunde. Daß sie jemals der Ausbesserung bedürftig wären, konnte er nicht einsehen. Und wenn einmal Frau von Lenkstädt über die Garderobe ihres Gatten kam, war er ganz unglücklich. Einmal hatte sie einen der ältesten dieser Leibröcke auffärben lassen; wie neu kam er zurück. Der Rock blieb fortan unberührt in dem Kleiderschranke des alten Herrn hängen, für ihn war er unmöglich geworden.

366 Das Gut Burgwerda war nicht groß, aber durch seine Lage in volkreicher Gegend, in der alle Produkte leichten Absatz fanden, wertvoll. Feld und Wiese waren bis auf ein kleines Reststück parzellenweise verpachtet. Der Wald wurde von einem Forstbeamten verwaltet, die Erträge waren sichere und gute, da die zahlreichen Sägemühlen der Gegend starken Bedarf an Nutzhölzern hatten.

Die schönsten Einnahmen von Burgwerda aber kamen aus den Steinen. Die Brüche waren an Unternehmer vergeben. So blieb dem Gutsherrn zu eigener Verwaltung nur das unbedeutende, von der Verpachtung ausgenommene Mundgut. Aber auch hier führte er die Oberaufsicht nicht selbst; seine Frau hatte da für ihren Tätigkeitsdrang einen erwünschten Tummelplatz. Sie war es, welche die Bestellung der Felder überwachte und über den kleinen Viehstand die Oberaufsicht führte.

Das einzige Gebiet, wo Herr von Lenkstädt als unumschränkter Gebieter herrschte, waren seine Gartenterrassen, die er sich am Südhange des Schloßberges angelegt hatte. Hier war von ihm im Laufe der Jahre auf dem kargen Felsgestein ein kleines Paradies geschaffen worden. Hier züchtete er edle Obstsorten am Spalier, baute Wein, zog in den Frühbeeten Gemüse und hegte auserwählte Blumen. Zur Sommerszeit ging er mit Hacke, Rosenschere und Okuliermesser bewaffnet zwischen diesen Lieblingen umher, und auch im Winter gab es genug Arbeit im Warm- und Kalthause. Bis ins Zimmer folgte ihm diese Liebhaberei. Seine Fensterbretter waren besetzt mit Kakteen, Hyazinthen in Gläsern und Kästen mit allerhand angetriebenen Knollen und Ablegern. Ein Blumentisch wies stets die auserlesensten Blattpflanzen auf.

367 In letzter Zeit, besonders seit Klärchen das Haus verlassen, hatte er sich dieser Liebhaberei noch mehr zugewandt, er wollte von anderen Dingen nichts mehr sehen und hören. Früher interessierte ihn der Gang der Gutsgeschäfte doch wenigstens von weitem; aber jetzt blieben die Forstregister und Rechnungen auf seinem Schreibtische ungelesen liegen. Selbst die Rangliste studierte er nicht mehr und das Staatshandbuch, in denen er das Avancement seiner Söhne und ihre Aussichten auf Karriere verfolgt hatte. Die Zeitung interessierte ihn auch nicht. Die Fäden, die ihn mit der Welt da draußen verbanden, wurden dünner und dünner. Den wenigen Bekannten, die er sah, fiel es auf, wie müde und stumpf der alte Lenkstädt geworden war in kurzer Zeit.

Wenn Fremde das schon sahen, wie viel weniger konnte es dem Auge der Tochter entgehen. Es machte Klärchen unendlich traurig, dieses allmähliche Einschlafen, das Welken der Kräfte, melancholisch wie das Abfallen der Blätter, wenn es kalt wird draußen. Ein Prozeß, der natürlich ist und notwendig, aber dem wir bei einem geliebten Menschen ratlos und schmerzgetroffen gegenüberstehen.

Es war Spätherbst für ihn geworden; Klara sah es. Sie ließ sich von ihrer Wehmut nichts merken, um ihm die letzten Sonnenblicke, die ihm das Leben noch zusandte, nicht zu verdüstern.

Frau von Lenkstädt klagte, daß sie so wenig von der Tochter habe; Klärchens Aufenthalt in Burgwerda würde hingehen, und sie würden sich nicht »genossen« haben. Als ob es überhaupt möglich gewesen wäre, diese Mutter zu genießen! – Sie war ja den ganzen Tag beschäftigt, bald in Küche und Keller, bald in den 368 Vorratskammern und auf den Böden, oder auch in ihrer Landwirtschaft. Wenn sie sich dann abends niedersetzte mit der Absicht »gemütlich zu sein,« dann machte die Natur ihre Rechte geltend; der alten Dame fielen gewöhnlich die Augen zu.

Mit der Nachbarschaft hatte Klara den Verkehr nicht wieder aufgenommen, denn als sie die Familien ringsum im Geiste durchging, fand sie, daß es kaum lohnen würde, mit ihnen von neuem anzuknüpfen.

Nur mit einem Hause machte sie auf den dringenden Wunsch ihrer Mutter eine Ausnahme; das waren die Radehausens auf Brandes, als nächste Nachbarn und intimste Freunde.

Die äußere Lebenslage der Familien war eine sehr ähnliche; bei der großen Nähe der beiden Güter wußte man allzuviel voneinander. So kam es, daß man bei aller Freundschaft zur gegenseitigen Eifersucht neigte. Nun wollte es auch noch das Unglück, daß in Brandes eine ganze Anzahl unverheirateter Töchter saß, und bisher hatte keiner der Lenkstädtschen Söhne Anstalt gemacht, auch nur eine von ihnen vor dem Lose der alten Jungfer zu bewahren. Dadurch war ein Frost in die frühere Intimität gefallen. Und als nun gar Kläre von Lenkstädt sich verlobte, noch dazu mit einem wohlhabenden Manne aus guter Familie – also eine gute Partie machte – war man in Brandes verschnupft; die gegenseitigen Besuche waren in der letzten Zeit seltener geworden. Und wenn nun jetzt Klara, von deren Anwesenheit in Burgwerda die Radenhausens natürlich Kunde hatten, ferngeblieben wäre, dann würde die Freundschaft, die längst einen Riß bekommen hatte, gänzlich in Scherben gegangen sein.

Als Klara ihren Besuch auf dem benachbarten 369 Sitze machte, stürzten sich die Töchter des Hauses in übertriebener Freude auf die junge Frau. Sie sollte berichten von ihrem Manne, von Grabenhagen, von ihrem Leben; man würde es nur zu gern gesehen haben, wenn Klara in möglichst prahlerischer Weise von ihrem Glücke erzählt hätte, um sich im geheimen darüber erregen zu können. Aber Klara tat ihnen den Gefallen nicht, war äußerst zurückhaltend in ihren Mitteilungen, so daß die Damen, als sie nachher unter sich waren, zu der beruhigenden Vermutung kamen, daß es mit der glänzenden Partie, welche Kläre von Lenkstädt gemacht, doch nicht gar so weit her sein könne.

Solcher Katzenfreundlichkeit abermals zu begegnen, verspürte Klara wenig Lust. Da war es weit netter bei ihrer Freundin Minchen Lippert im Städtchen unten.

Minchen hatte etwa ein halbes Jahr vor Klara geheiratet; ihr Mann führte den gewichtigen Titel eines Untersteuerkontrolleurs. Minchen war Klara immer durch rührende Anspruchslosigkeit sympathisch gewesen. Sie wollte doch mal sehen, wie sich die Jugendgespielin inzwischen ihr Nestchen eingerichtet habe. Klara ging also eines Morgens, Minchen Lippert zu besuchen.

Die Frau Untersteuerkontrolleur öffnete selbst die Tür, sie schien durch den Besuch aufs höchste überrascht und war drauf und dran, davonzulaufen, um ein anderes Kleid anzulegen. Es gelang jedoch Klara, ihr das auszureden. Dann wurde die »gnädige Frau von Kriebow« in die gute Stube genötigt, schnell das Sofa von seinem Überzuge befreit und der Besuch vom Schloß ersucht, Platz zu nehmen.

Nachdem sich die erste Befangenheit bei dem Frauchen gelegt hatte, fand sie sich selbst wieder; sie sah ja, daß Klara noch ganz die alte geblieben war. 370 So wurde Minchen Lippert denn zutraulich, fing an, harmlos zu plaudern, in dem Tone, der früher zwischen ihnen an der Tagesordnung gewesen war.

Gerade war sie bei der Küchenfrage angelangt und erzählte, auf welche Weise sie es möglich mache, ihrem Manne viermal in der Woche warmes Fleisch vorzusetzen, als sie plötzlich in der Unterhaltung stockte und mit gespannter Miene nach der Tür hin lauschte. Von dort erklangen eigentümliche hohe Töne. »Sie sind schon wach!« rief Minchen und sprang von ihrem Sitze auf. »Ja, mein Gott! Hast du ein Kind?« fragte Klara erstaunt. »Du liebe Zeit! Zweie. Wußtest du denn das nicht? Es sind doch Zwillinge.«

Nein, Klara wußte von gar nichts. Welch ein Glück für Minchen! Und gar Zwillinge! Das war ja reizend! –

»Nicht wahr?« meinte die junge Mutter, und dabei flog ein beglücktes Lächeln über ihr Gesicht. »Es ist doch gar nicht so schlimm, daß es Zwillinge sind. Die Leute bedauern uns deshalb. Ich finde es so nett: Ein Junge und ein Mädel; da haben sie doch Gesellschaft aneinander, wenn sie größer werden. Du bist die erste, die sich freut, daß es ein Pärchen ist.«

Inzwischen meldeten sich die Schreihälse aus dem Nebenzimmer immer energischer. Minchen machte Klara auf die Verschiedenheit der Stimmen aufmerksam. Die konnte allerdings nur ein gänzlich unartikuliertes Quäken vernehmen und mußte es auf Treue und Glauben hinnehmen, daß die tiefere Stimme »Fritzchen« seine und die hellere »Ernestinchen« ihre sei.

»Kann man denn die kleinen Dinger nicht mal sehen?« fragte Klara. Minchen war nur zu stolz, ihre Lieblinge der Freundin vorzuführen.

371 Von diesem Tage ab besuchte Klara die junge Mutter täglich. Herr von Lenkstädt war jetzt so weit hergestellt, daß er die Tochter auf einige Stunden entbehren konnte. Minchens Gatte aber, der Herr Untersteuerkontrolleur, war den größten Teil des Tages durch sein Amt auswärts beschäftigt, und so konnten die beiden jungen Frauen denn ganz für sich sein.

Schnell war Klara, die mit so kleinen Kindern noch nie etwas zu tun gehabt hatte, in die intimsten Geheimnisse der Säuglingspflege eingeweiht. Bald stand sie da mit aufgestreiften Ärmeln, eine Schürze vorgebunden, und badete die Zwillinge, wickelte sie dann sachgemäß ein, wärmte die Milch, beruhigte die Schreier und brachte sie zum Schlafen.

Obgleich sie mit niemandem davon sprach, hatte sich's schließlich doch herumgeredet, wohin Klara jeden Morgen gehe und auch, was sie bei Minchen Lippert treibe.

Eines Tages fing Frau von Lenkstädt an, erst von den Zwillingen der Frau Untersteuerkontrolleur und dann von kleinen Kindern im allgemeinen zu sprechen. Sie billige es, sagte sie, daß Klärchen sich damit abgebe; man könne ja nicht wissen, ob sie solche Erfahrung nicht bald selbst brauchen werde.

Dieses Aushorchen bedeutete eine wahre Folter für Klara. Wenn es nicht die Mutter gewesen wäre, sie hätte wohl in schroffer Ablehnung solchen Anspielungen ein für allemal ein Ende zu machen gewußt.

 


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