Wilhelm von Polenz
Der Grabenhäger
Wilhelm von Polenz

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XXVII.

Auch in Burgwerda hatte der Winter angefangen dem Frühjahr zu weichen. Herrn von Lenkstädts Hyazinthen und Krokusse blühten in voller Pracht auf den Fensterbrettern seines Zimmers. Ein Kirschzweig, den ihm Klara von draußen mitgebracht und ins Wasser gestellt hatte, entfaltete seine unschuldigen Blüten. An den warmen Tagen durfte der Rekonvaleszent zum ersten Male wieder im Freien sitzen, in Decken gehüllt, und seine geliebten Gartenterrassen hinabblicken.

Auch der Wald hinter Burgwerda fing an, sein Gewand bedeutungsvoll zu ändern. Klara konnte die Wandlung von Tag zu Tag verfolgen. Sie hatte sich das Zimmer im zweiten Stock erbeten, wo sie schon als Mädchen gehaust, obgleich der Aufgang unbequem und schmal war.

Aber dafür hatte das Zimmer auch die schönste Aussicht im ganzen Hause. Da unten zu ihren Füßen lag das Städtchen mit seinen braunroten Dächern. Wie aus dem Kinderspielkasten genommen und um den winkeligen Marktplatz aufgestellt, nahmen sich die Häuschen aus. Darüber hing die Burg, daß man den Leuten beinahe in die Feueressen blicken konnte. Die Kirche unten bemühte sich umsonst, mit ihrem schlanken Turm auch nur an die halbe Höhe des Burgfelsens heranzureichen. Neben dem Wehr am Ausgange der Stadt war eine Holzschneidemühle mit ihren mächtigen Stößen von Klötzern, Brettern, Pfosten und Balken in allen Größen. Und weiter hinaus das schmale Flußtal mit seinen mannigfachen Krümmen, bis ein Hügel keck vorspringend sich dem Flüßchen in den Weg 456 stellte, so daß es sich schäumend gerade nur durch den Engpaß drängen konnte.

Aber all das war es nicht, weshalb Klara die Aussicht von ihrem Mädchenzimmer so sehr liebte. Dies hier war ja sauber und artig; aber was man von dem entgegengesetzten Fenster aus sah, war groß und herrlich.

Der Wald, ihr Wald!

Wipfel an Wipfel bis in die blaue Ferne, wo die Formen untertauchten in breit hingeworfene, tiefe Farbentöne. Keine Unterbrechung, ein unebenes und doch ruhiges Meer, keine Wohnstätte, kein Menschenwerk zu sehen, Hügel, Schluchten und Täler bedeckt mit dem einfarbigen Teppich! – Man konnte träumen, daß es so weiter gehe, ohne Grenzen, bis in die Ewigkeit.

Hier war die Zufluchtsstätte gewesen für das junge Mädchen; hierher zog sie sich zurück, vor Kränkungen. Diesem keuschen Walde gegenüber stand sie wie vor einem Freunde. Hier durfte sie alles zeigen, hier konnte sie alles sagen, ohne die entsetzliche Qual zu empfinden, welche die Menschen und ihre zudringlichen Forderungen ihr brachten. Und als die Zeiten der Verwirrung kamen, da Dinge mit ihr vorgingen, die sie nicht verstand, die sie entsetzten, da sie sich vor sich selbst zu schämen begann und all ihr Stolz und Mädchentrotz in sich zusammensank, wenn sie mit sich allein war; da war es wieder der hier, der treue Wald, ihr Wald, dem sie sich anvertraute. Ihm galt ihr erster Blick, früh, wenn sie erwachte. Sie brauchte nur den Kopf ein wenig zu erheben im Bette, den Vorhang zu lüften, dann sah sie einen ganzen Ausschnitt von seiner Herrlichkeit. Und dann kam eine große Beruhigung über sie, etwas von der kühlen Ruhe, die 457 jene hehre, in sich selbst gesättigte Natur dort draußen atmete. In jenen Fernen gab es keine Leidenschaft, keine Verwirrung; da war alles Ebenmaß, Abklärung, Frieden.

Hier oben durfte das junge Mädchen nach ihrem Sinne leben. Niemand konnte ohne ihren Willen zu ihr heraufdringen. Es gab nur einen Zugang durch den Eckturm des Schlosses, und wenn Klärchen den Schlüssel abzog, war ihr Verlies uneinnehmbar. Die Mutter hatte oft genug an diesem Einsiedlerleben zu rügen gehabt; Frau von Lenkstädt behauptete: das Mädchen gewöhne sich in solcher Abgeschlossenheit allerhand Schrullen an. Auch die Brüder pflegten ihre Glossen über die klösterliche Abgeschiedenheit der Schwester zu machen. Aber Klara ließ sich nicht beirren, sie wußte, was sie an ihrer Einsamkeit hatte.

Eine ganz andere war es, die jetzt diesen Raum bewohnte. Nie war es Klara so zum Bewußtsein gekommen, was das letzte Jahr für sie bedeutet hatte, wie hier vor diesem Fenster, als sie zum ersten Male wieder sich an dem Blicke weidete, der ihr ehemals so unendlichen Trost gewährt hatte.

Trost! Wozu brauchte sie jetzt noch Trost? – Es gab nichts mehr, was sie verwirrt hätte, kein Fliehen vor unheimlichen Stimmungen. Klar war alles um sie her und in ihr jetzt. Sie wunderte sich selbst, wie überlegen und sicher sie sich fühlte, wie sie die Menschen und die Verhältnisse übersah. Ganz anders, und wie ihr schien: gerechter urteilte sie. Wie vieles, was sie damals erregt hatte, war ihr jetzt gleichgültig geworden, und wiederum, wieviel wertvoller und bedeutsamer erschienen ihr jetzt Dinge, welche sie damals übersehen und gering gewertet hatte.

458 Schön war der Blick da hinaus noch immer: dieselbe hehre Ruhe, derselbe keusche Frieden. Klara empfand all die Feinheiten der Formen, die Harmonie der Farbenübergänge und die unendliche Grazie der Linie, welche das Bild gegen den milchweißen Himmel abschloß, so stark wie früher: aber jene verzweifelte Liebe, die sie ehemals dafür gehabt, jenes Verlieren an den Anblick, der dem jungen Mädchen eine Rettung bedeutet hatte, kannte sie nicht mehr.

Ihr ältester Bruder Bernhard war auf einige Tage nach Burgwerda gekommen. Er hatte sich bei seiner Regierung Urlaub genommen, um Klärchen als »verheiratete Frau« zu sehen.

Klara sah dem Wiedersehen mit geteilten Gefühlen entgegen. Es lag für sie in der Erinnerung an diesen Bruder manch Bitteres, das sich beim besten Willen nicht gänzlich auslöschen ließ. Sie waren im Alter um zehn Jahre auseinander, und das hatte in früherer Zeit weit mehr bedeutet als jetzt. Sie empfand seine männliche Überlegenheit damals wie eine Beleidigung, und er vermochte ihr zurückweichendes, leicht verletztes Mädchentum nicht zu begreifen; als Zimperlichkeit und Ziererei erschien ihm, was in Wahrheit Selbstverteidigung der Jungfrau war. Als älterer Bruder glaubte er das Recht und die Pflicht zu haben, das Schwesterchen zu erziehen. Und da sie seinen Versuchen, an ihr herumzukorrigieren, ihren Trotz entgegensetzte, fand er, daß sie »total unweiblich« sei.

Bei dem Wiedersehen gestaltete sich das Verhältnis zwischen den Geschwistern ganz anders. Die Lage hatte sich geändert; das Übergewicht war jetzt auf Klaras Seite.

Bernhard von Lenkstädt galt als der Begabteste in seiner Familie. Die anderen Söhne hatten alle die 459 militärische Karriere ergriffen. Bei dem Ältesten, der zukünftig einmal Burgwerda verwalten sollte, war es wünschenswert erschienen, daß er Staatswissenschaft studiere. Überall bisher hatte er eine gewisse Rolle gespielt; dem Vater war er schon früh über den Kopf gewachsen, und die Mutter zog ihren Ältesten allen übrigen Kindern vor. Das hatte sein Wesen beeinflußt, ihm ein starkes Selbstgefühl verliehen.

In der letzten Zeit nun hatte er Mißerfolge gehabt. Seine Beförderung war nicht so schnell von statten gegangen, wie er erwartet haben mochte; ein Posten, auf den er sicher gerechnet, war ihm entgangen. Zu guterletzt wurde er auch noch von einer jungen Dame, um deren Hand er anhielt, abgewiesen. Alles das war geeignet, ihn zu verbittern. In der Weise verwöhnter Menschen schrieb er sich die Mißerfolge nicht selbst zu, sondern war geneigt, anderen seine schlechte Laune entgelten zu lassen.

Klara ließ das jedoch nicht aufkommen. Bernhard mußte erkennen, daß sie nicht mehr sein Schwesterchen sei, das verschrobene kleine Ding, die zu hänseln und in Harnisch zu bringen ihm Belustigung gewesen. Eine Frau trat ihm gegenüber, die für ihre Eigenart Achtung verlangte. Er nahm sich also zusammen. Auch in seinem Verhalten gegen den Vater war er respektvoller; denn er fühlte sich von der Schwester bewacht.

Erich schrieb oft. Er klagte über Einsamkeit und beschwor Klärchen, zu ihm zurückzukehren.

Sie mußte lächeln über die Überschwänglichkeit seiner Ausdrücke; der Gute! Er ahnte gar nicht, wie wenig Eindruck er mit Sentimentalität auf sie machte.

Dann klagte er auch über die Spärlichkeit ihrer Briefe und über ihren nüchternen Ton. Ob sie ihn 460 denn nicht mehr lieb habe? – Wenn das nicht anders werde, wolle er sie nächstens holen kommen, drohte er scherzweise. Sein Bitten wurde immer dringlicher, er halte es ohne sie nicht mehr aus, er fürchte, daß sie ihm entfremdet werde bei so langer Trennung. Er sei eifersüchtig und das um so schrecklicher, als er nicht wisse, auf wen und auf was. –

Sie mußte wiederum lächeln. So ganz unrecht hatte er ja nicht mit seiner Vermutung, daß sie von manchem Gefühle in Anspruch genommen sei, das mit seiner Person nichts zu tun hatte. Konnte sie es ändern, daß aus dem Boden, auf dem sie erwachsen, aus der Umgebung, in der sie zwanzig Jahre gelebt, etwas wie Unabhängigkeit zurückkehrte in ihr Wesen. Sollte sie ihm schreiben von dem, was sie empfand, wenn sie von ihrem Mädchenbette aus hinausblickte auf die Waldlandschaft der Heimat. Würde er das verstehen wollen? – Ihre Vergangenheit, das Werden der Jungfrau hier oben in dem stillen Turmzimmer des Vaterhauses, war für ihn ein Buch mit sieben Siegeln. Daran hatte er keinen Anteil haben können. –

Er schrieb abermals einen langen Brief, in dem er sie bat, sie möge ihm doch wenigstens einen Termin nennen, zu welchen er sie in Grabenhagen erwarten könne.

Sie antwortete ihm nicht sofort, denn sie wußte, daß es ihm Kummer bereiten mußte, wenn sie ihm schrieb, daß das noch lange dauern könne; und gar wenn sie ihm geschrieben hätte, wie es ihr in Wahrheit ums Herz war: daß sie gar keine Sehnsucht empfand nach Grabenhagen und nach ihm, das würde ihn erst recht gekränkt haben.

Es war wirklich schwer, zu antworten. Der Zustand des Vaters flößte ja für den Augenblick Bedenken 461 nicht mehr ein. Aber Klara las im Auge des Rekonvaleszenten die ängstliche Frage: wie lange sie noch bleiben könne, und die stumme Bitte zugleich, ihn nicht zu verlassen. Ihm von Abreise zu sprechen, wagte sie gar nicht.

In ihrem eigenen Befinden waren in der letzten Zeit gewisse Wandlungen eingetreten, die sie nicht recht zu deuten wußte. Sie wunderte sich über die Mattigkeit, welche sie oft ohne jeden Grund empfand. Sie schob das dumpfe Gefühl im Kopfe, die Anfälle von Schwindel, diese fliegende Hitze, die sie überfielen, auf die Krankenstubenluft, die sie in der letzten Zeit geatmet, und die geringe Bewegung, welche sie sich gemacht hatte. Gegen das Konsultieren eines Arztes empfand Klara von jeher starken Widerwillen; innere wie äußere Leiden hatte sie am liebsten mit sich selbst abgemacht. – Oder sollte sie die Mutter fragen? Ach nein! Die Mutter mit ihren Einbildungen! – Das wollte sie erst recht nicht.

Aber sie hatte ja ihre Freundin unten im Städtchen: Minchen Lippert. Mit der darüber zu sprechen, wurde Klara nicht im geringsten schwer.

Die Frau des Steuerkontrolleurs machte große Augen über das, was Klara ihr berichtete. Bald war es denn klar, was diese unverständlichen Erscheinungen zu bedeuten hatten.

Minchen tanzte vor Vergnügen im Zimmer umher, dann von einem plötzlichen Einfall getrieben, lief sie ins Nebenzimmer, wo die Zwillinge lagen, nahm den kleinen Jungen aus seinen Kissen und trug ihn zu Klara, der sie ihn in den Arm legte. Was sie damit wollte in diesem Augenblicke, war ihr selbst nicht ganz klar bewußt. Sollte es für die begnadete Freundin 462 eine gute Vorbedeutung sein? – Klara begriff es; sie nahm das Kind auf und drückte es an sich, mit einem vollen Blick auf seine unschuldigen Züge. Sie weinte, und ihr Mund lächelte doch dabei. Die plötzliche Erkenntnis ihres Glückes hatte sie wie ein Schrecken gelähmt. Zu sagen vermochte sie nichts.

Wie im Traum ging Klara von der Freundin. Dann war sie ein paar Stunden allein in ihrem Zimmer. Dort saß sie, blickte hinaus in die Landschaft, die das Brautkleid des Frühlings anzulegen sich anschickte. Ihr Auge sah es, und sie sah es doch nicht. Alle ihre Gedanken und Sinne waren nach Innen gesammelt, wo sich ein süßeres und für sie noch heiligeres Wunder vollzog, als die Erneuerung da draußen der ganzen Welt.

Dann als der Alltag mit seinen nüchternen Erwägungen wiederum seine Rechte geltend zu machen begann, ging sie mit sich zu Rate, was nun zu geschehen habe. Und da kam sie zu dem Entschlusse, dem sie eben noch aus dem Wege gegangen war: nach Haus zu reisen.

Denn jetzt wußte sie auf einmal, wo ihre Heimat war, nicht hier bei den Eltern in Burgwerda, bei ihrem Manne, bei dem Vater ihres Kindes. Zu ihm, für den sie jetzt ein ganz neues Gefühl empfand, wollte sie zurück.

Frau von Lenkstädt, die noch nichts entdeckt hatte von Klärchens Aussichten, wunderte sich über den jähen Entschluß. Der Vater nahm ihn hin mit halber Resignation in das Unvermeidliche. Die Eltern ahnten nicht, daß sie nun die Tochter wirklich eingebüßt hatten. Denn jetzt erst war für Klara die Trennung ganz vollzogen von Mädchentum und Vaterhaus.

Noch vor ein paar Tagen würde das Bewußtsein, daß der Vater nun gänzlich vereinsamt bleiben solle, die junge Frau mit Verzweiflung erfüllt haben. Es 463 ergriff sie auch jetzt, zu denken, daß er nun wohl unaufhaltsam in sich zusammensinken werde; aber ganz andere Sorgen standen von nun an für sie im Vordergrunde des Empfindens.

Das Gefühl, nicht allein zu sein, schlafend und wachend unsichtbare, der Seele nahe Gesellschaft zu haben, verließ sie nicht mehr. Die Verantwortung für dieses werdende Wesen drückte jeder ihrer Handlungen den Stempel einer besonderen Weihe auf. Alles andere rückte weit von ihr ab, verschwand vor dem einen großen, sie ganz erfüllenden Berufe.

* * *

Klara war nach Grabenhagen zurückgekehrt. Als Erich sie an der Station abgeholt und sie endlich sicher und warm neben sich im Wagen sitzen hatte, wich allmählich die erste wonnige Kopflosigkeit des Wiedersehens einer gesetzten Freude. Zum vierten oder fünften Male schon erkundigte er sich nach ihrem Befinden. »Gut, recht gut!« gab sie zur Antwort. »Laß dich mal ansehen! Etwas blaß und abgespannt, von der weiten Reise – natürlich!«

Klärchen lächelte still in sich hinein. Ihr Ausdruck hätte ihm alles sagen können, wenn seine Gedanken nicht schon wieder bei anderem gewesen wären.

Es gab so viel zu erzählen, so tausenderlei zu fragen, daß man zunächst nur ein Kostebißchen nahm, in dem glücklichen Bewußtsein, Zeit genug vor sich zu haben für das andere.

Als sie dann im Hause waren, wurde die junge Frau von verschiedenen Seiten sofort in Anspruch genommen. Frau Kruke nahte sich der Herrin und berichtete voll Wichtigkeit über das, was sich in den letzten 464 Monaten im Hauswesen zugetragen habe. Es gab da sofort die verschiedensten Fragen, mit denen man nur auf die Rückkehr der Hausfrau gewartet hatte. So sah sich Erich denn in seiner Hoffnung, Klärchen für sich zu haben, getäuscht.

Dann kam das Abendbrot. Die Kruke hatte es sich nicht nehmen lassen, »tüchtig aufzubauen«, wie der Hausherr sich ausdrückte. Aber Klara tat den aufgestellten Delikatessen wenig Ehre an; sie habe keinen Appetit, erklärte sie, erhob sich und wollte sich ans Auspacken machen.

»Laß doch die Mädels das besorgen!« meinte Kriebow. »Und gönne dir endlich mal Ruhe! Ich hatte mich so auf die Dunkelstunde gefreut, Klärchen!«

»Ich komme nachher zur dir, Erich!« erwiderte sie.

»Aber mach' nicht zu lange, Herzchen! nicht wahr?«

»Ich komme!« Damit verschwand sie.

Es wurde dunkel im Zimmer. Kruke kam und fragte an, ob er die Lampe bringen solle. Erich verneinte; heute hatte er zum Lesen doch keine Ruhe und auch keine Lust.

Wie lange Klärchen verzog! Hatte sie ihn denn nicht verstanden? –

Er öffnete das Fenster. Vom Park her wehte die warme, weiche Luft des Maiabends herein, eine ganze Wolke von Duft mit sich führend. Drosseln huschten durch das Gesträuch. Aus der nächsten Baumgruppe ertönte das Girren der Nachtigall; die erste, die er in diesem Jahre hörte. Vielleicht hatte er auf diesen Sänger bisher nur nicht geachtet; heut abend war Auge und Ohr geschärft. Er empfand alles wie mit verdoppelten Sinnen.

Wie hatte er sich nach dieser Stunde gesehnt! Wie 465 hatte er geträumt von dem ersten Begegnen nach so langer Trennung! Er liebte sie; alles, was er früher empfunden, war matt und schwächlich, gehalten gegen die Tiefe der Gefühle, welche die Sehnsucht in ihm angesammelt. Er liebte bewußter, nicht bloß ahnend und hoffend wie ein Bräutigam, mit den stärkeren Trieben des Gatten, dessen Leidenschaft das schon gekostete Glück nur vermehrt hatte.

Aber wie lange sie blieb! Fühlte sie denn nicht das gleiche, wie er? – Sollte er etwa von neuem erobern müssen, was doch längst ihm gehörte? –

Schon wollte ihn Bitterkeit erfüllen; da hörte er hinter sich die Tür gehen. Eine lichte Gestalt erschien: Klärchen in langem losem Gewande, das er seit der Hochzeitsreise, wo sie es jeden Abend getragen, nicht mehr an ihr gesehen hatte. Er jubelte, denn er liebte dieses Kleid, und es schien ihm besondere Bedeutung zu haben, daß sie es heute wieder angelegt hatte! –

Er breitete die Arme aus. »Klärchen, das Kleid!« Und sie an sich drückend, flüsterte er: »Du, du – wie damals!«

Er küßte ihr Hände, Arme, Hals.

»Erich – nein! Ich bitte dich!« – Sie machte sich mit einem Ruck los, trat von ihm weg. »Nicht so!« –

»Klärchen, Unsinn! Stell dich nicht an! Was hast du denn?«

Sie hielt beide Hände vor sich zur Abwehr. Vor ihrer Kälte sanken ihm die Arme schlaff am Körper herab. In jähem Verdrusse wandte er ihr den Rücken.

»Erich! Höre mich nur, guter Erich!« Ihre Hand legte sich ihm sanft auf die Schulter. Aber er stieß sie weg; was sollte er hören? Jetzt, in diesem Augenblicke: Auseinandersetzungen! Nein, 466 wahrhaftig! Ganz anders hatte er sich diesen Abend geträumt.

Er trat wieder ans Fenster; die Nachtigall schlug nicht mehr draußen.

Mehr als enttäuscht war er, betrogen fühlte er sich. Mit ihrem: »Ich komme!« hatte sie ihn betrogen, mit diesem Kleid, das sie angelegt. Nicht um ihn zu beglücken, war sie zu ihm gekommen, nein, um mit ihrer Kälte sein Glück zu ertöten. Er hatte doch recht mit seiner Vermutung behalten: sie war zurückgefallen in die alte Sprödigkeit. Er biß die Zähne zusammen, ballte die Fäuste.

Die Dunkelheit verbarg ihr seine Züge; Klara hörte nur sein schweres Atmen.

»Erich! Du liebst mich doch!« – Keine Antwort.

»Sieh mal, Erich, du bist immer gut gewesen gegen mich und vornehm . . . . . und ich bin dir dafür so dankbar . . . . .« Sie stockte, ergriff seine Hand in einer unwillkürlichen Aufwallung und küßte sie.

Starr blickte er vor sich, wollte nichts von dem Gesichte sehen, das sich dem seinen entgegendrängte. Was wollte sie denn? Warum schmeichelte sie ihm jetzt wieder so? – Verlangte sie, daß er seinen Rechten entsagen sollte?

»Sieh, ich bin jetzt mehr als deine Freundin, Erich! – Ich bin . . . . . .«

Sie konnte nicht weiter. Aber der Ton ihrer Stimme hatte ihn getroffen. Erich erbebte, ahnend, daß es die Mutter sei, die aus ihr bat um Schonung.

Und nun an seinem Ohre gestand sie ihm sein und ihr Glück.

Der junge Ehemann stand wie gelähmt. Das, was er sich gewünscht, war nun da, ging seiner 467 Erfüllung entgegen. Aber die Nachricht traf ihn allzu unvorbereitet; es war zu groß, als daß er hätte jubeln können. Befangen schwieg er, ganz unter dem Eindruck dieses Neuen.

Seine Frau schmiegte sich an ihn. Er blieb in Nachdenken versunken. Die Leidenschaft, die ihn noch eben besessen, war ganz verflogen, ausgelöscht durch das Gewicht der Verantwortung, das über ihn kam.

»Fühle mein Herz, Erich!« Sie führte seine Hand. »Manchmal ist es wie zum Zerspringen.«

Er wurde besorgt. Es gehe ihr ja so gut, sagte sie, ihn beruhigend, sie sei so glücklich. Und auch er solle glücklich sein! Ob er sich denn nicht freue mit ihr? –

»Natürlich! Aber, ich kann's noch gar nicht fassen! Warum hast du mir denn nichts geschrieben?«

»O, so etwas schreibt man nicht!«

Allmählich fing auch er an, die ganze Größe seines Glückes zu begreifen. Wie er sie jetzt umfaßte, zarter als sonst, mit Ehrfurcht und doch mit inniger Glut, erkannte Klara, daß er sie nun verstanden habe, daß sie seine Liebe gewonnen hatte in einem neuen geläuterten Sinne. Und jenseits der Entsagung sah sie Zeiten kommen für sich und ihn, eines verjüngten Liebesglücks.

 


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