Wilhelm von Polenz
Der Grabenhäger
Wilhelm von Polenz

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XXXII.

Die Kirche von Groß-Podar war eine Filiale der von Grabenhagen. Daher war auch jetzt noch der Besitzer von Grabenhagen Kirchenpatron für die Kirche in Groß-Podar. Das stammte aus sehr alter Zeit, wo die Güter in einer Hand vereinigt gewesen. Denn auch Groß-Podar war ursprünglich Kriebowscher Besitz.

Der Ort hatte ein gewisses Leben: er lag in der Kreuzung zweier Landstraßen. Vor einigen Jahren, als eine schmalspurige Bahn für diesen Teil des Kreises gebaut wurde, hatte er auch seine Haltestelle bekommen. Das war vor allem dem dortigen Gasthofe zugute gekommen; der Groß-Podarsche Krug erfreute sich weit und breit eines großen Rufes. Besonders seit der Krüger einen Tanzsaal eingebaut hatte, bildete dieses Lokal den wichtigsten Anziehungspunkt für das junge Volk der ganzen Umgegend.

Dem alten Landrat von Ruhbeck war dieser Krug immer ein Dorn im Auge gewesen. Der unkontrollierbare Verkehr Fremder, der Lärm bei Tanzereien, die Betrunkenen und was sonst noch mit einer ländlichen Schankwirtschaft zusammenhängt, verdroß den alten Herrn. Wäre Herr von Ruhbeck bei Kasse gewesen, 527 so hätte er den Störenfried gar zu gern ausgekauft, zumal auch Feldwirtschaft zu dem Kruggrundstück gehörte. Aber da er dazu nicht in der Lage war, tat er das eine: Er beschränkte als Landrat die Tanzlustbarkeiten auf das möglichste und ließ die schärfste Kontrolle über den Schankbetrieb ausüben.

Um sich zu arrondieren und möglichst das ganze Dorf in seiner Hand zu haben, kaufte Herr von Katzenberg den Krug und ließ den bisherigen Besitzer als Pächter darin. Die Felder wurden zum Gutsareal geschlagen.

Überhaupt begann, seit der Kommerzienrat das Rittergut erworben, für den Ort ein ungewohntes Leben und Treiben. Noch vor Beginn der kalten Jahreszeit ließ der neue Besitzer mit dem Wegräumen, Einreißen und Neuaufbauen anfangen. Den ganzen Winter durch hörte die Bautätigkeit nicht auf. Von weit her wurde das Material angefahren. Koaksöfen, die Tag und Nacht nicht ausgingen, halfen die Neubauten austrocknen. Sowie Schnee und Frost aus der Erde gewichen, kamen auch noch die Erdarbeiter. Die Wohnungen im Dorfe langten nicht mehr zu, die Menge der Leute zu fassen; es mußten Baracken errichtet werden.

Die Arbeiter stellten ein aus den verschiedensten Berufen und Nationalitäten zusammengewürfeltes Korps dar. Kein Wunder, daß es da Sonntags, wenn alle diese Hände feierten, im Dorfe und vor allem im Kruge bunt genug zuging.

Während der alte Herr von Ruhbeck Groß-Podar selbst bewirtschaftet hatte, schrieb der Kommerzienrat das Gut sofort zur Verpachtung aus und wählte unter den Bewerbern denjenigen aus, der ihm am meisten bot. Für die Wahrnehmung seiner Interessen 528 dem Pächter gegenüber und zur Vertretung in Gutsvorstehergeschäften setzte er einen Sekretär nach Groß-Podar.

Weinstein war ein Berliner Kind, ein Mann von vielbewegter Vergangenheit, der unter anderem Journalist und auch einmal Kaufmann gewesen war. Als er Pleite gemacht, hatte er Herrn von Katzenberg um ein Darlehn gebeten. Das erhielt er zwar nicht, aber der Kommerzienrat fand mit Kennerblick heraus, daß Weinstein ein Mann sei, den man zu allem gebrauchen könne; warum also nicht auch zum stellvertretenden Gutsvorsteher! –

Weinstein arbeitete sich zur Zufriedenheit seines Herrn in das neue Amt ein. Die Pachterträge aus dem Gut und vom Kruge gingen glatt ein. Sein Bureau war im Schusse; auch der Landrat gab ihm das Zeugnis, er sei ein »fixer Mensch«.

In anderen Dingen, wo strenge Kontrolle am Platze gewesen wäre, drückte Herr Weinstein nur zu gern ein Auge zu. Ob sie im Krug sich betranken, ob dort allnächtlich wilde Orgien gefeiert wurden, was ging ihn das an! Und der Verkehr des jungen Volkes, der Mägde und Hofgängerinnen mit einheimischem und fremdem Mannsvolk, der sich nicht auf das sonntägliche Tanzen im Krug allein beschränkte, das Treiben dieser unbewachten Rotte auf Kornspeichern und Heuböden, in dunklen Ecken oder ganz offen hinter den Zäunen des Dorfes amüsierte den Berliner höchlich. »Ländlich sittlich!« dachte er und ließ den Dingen freien Lauf.

Der einzige, der diese Entwicklung mit sorgenvollem Auge verfolgte, war Pfarrer Grützinger. Seine Filialgemeinde in Groß-Podar war ihm schließlich 529 ebenso ans Herz gewachsen wie die von Grabenhagen. Früher unter dem Regiment des alten Herrn von Ruhbeck, der für seine Leute wie ein Vater gewesen war, hatte Aufsicht und Zucht geherrscht wenigstens für die Gutstagelöhner und das herrschaftliche Gesinde. Damals war Grabenhagen, das unter des allmächtigen Inspektors Heilmann Willkürherrschaft stand, das Schmerzenskind des Seelsorgers gewesen. Im Laufe des letzten Jahres aber hatten sich die Verhältnisse gerade umgekehrt.

Mit dem Besitzwechsel von Groß-Podar war auch ein veränderter Geist in das Dorf eingezogen. Pastor Grützinger sah das, was er an Boden gewonnen hatte für Christentum und Sitte in dieser Gemeinde, bedroht durch das Eindringen einer wilden, zuchtlosen Wirtschaft. Die laxere Aufsicht, die jetzt im Krug, auf dem Gutshof, im Herrenhaus, kurz überall geübt wurde, machte sich ihm auch in seiner seelsorgerischen Tätigkeit sofort fühlbar. Die fremden Handwerker und Bauarbeiter waren unbotmäßiges Volk, das sich irgendwelche pastorale Einwirkung überhaupt nicht gefallen ließ.

Aber auch der Kirchenbesuch von seiten der Gemeindemitglieder ließ nach. Natürlich, wenn man sich am Sonnabendabend ausgetobt hatte, dachte man Sonntags früh nicht an Gottesdienst. Und ein Beweis dafür, wie die Jugend ihre größere Freiheit benutzte: es kam kaum noch vor, daß der Geistliche bei Trauungen der Braut den Kranz gewähren durfte.

Pastor Grützinger war nicht der Mann dazu, sich mit bloßem Beklagen solcher Zustände und vielleicht einer Rüge von der Kanzel herab zu begnügen. Er sah sich nach den tieferliegenden Ursachen dieser 530 Sittenverwilderung um und war gewillt, ihnen zu Leibe zu gehen.

Zunächst versuchte er es einmal dem Pächter des Kruges ins Gewissen zu reden. Der Mann lachte ihn einfach aus und fragte: wovon er denn seine Pacht an Herrn von Katzenberg bezahlen solle, wenn die Leute nichts bei ihm aufgehen ließen oder gar wenn er ihnen ihr Vergnügen verkürzen wolle.

Mit einer solchen Auffassung war nicht zu rechten, das sah Pastor Grützinger ein.

Nicht viel besser ging es ihm mit dem Gutspächter. Der Mann klagte, er habe zu hoch gepachtet, und nun sitze ihm Weinstein im Genick und drücke ihm das Pachtgeld heraus. Er sähe ja ein, daß auf seinem Hofe und in den Tagelöhnerkaten Dinge vorgingen, die nicht sein sollten; aber er sei gezwungen, da ein Auge zuzudrücken. Wenn er den Sittenrichter spielen oder etwa gar durchgreifen wolle, würden ihm die Leute einfach weglaufen, und dann sei sein Ruin besiegelt. Also auch hier nichts zu machen!

Herrn Weinstein hatte Pastor Grützinger bei einer gelegentlichen Unterhaltung zur Genüge kennen gelernt, um zu wissen, daß dem sittliche Forderungen unendlich komisch vorkamen. Es blieb also für ihn nur noch der Ausweg, sich an den Gutsherrn selbst zu wenden.

Der Pastor hatte gehört, daß Kommerzienrat von Katzenberg in Berlin namhafte Summen für Kirchen und milde Stiftungen gegeben habe, warum sollte er nicht für sein Dorf ähnliches Wohlwollen übrig haben.

Aber zunächst war Grützingers Absicht, mit dem Gutsherrn zu sprechen, nicht durchführbar, weil der Kommerzienrat nicht auf seinem Gute lebte. Als er 531 schließlich Einzug gehalten hatte, erschien er schon am nächsten Sonntag mit Frau und Töchtern im Kirchenstuhle. Nach dem Gottesdienst redete der Kommerzienrat den Pastor beim Verlassen der Kirche an und machte ihn mit seinen Damen bekannt, stellte dabei auch in Aussicht, daß sie nächstens im Pfarrhause von Grabenhagen ihren Besuch machen würden.

Pastor Grützinger, welcher der Ansicht huldigte, daß man eine Pflicht niemals auf die lange Bank schieben solle, begann schon bei dieser Gelegenheit auf die Mißstände in der Verfassung des Gutes und Dorfes hinzuweisen. Der Kommerzienrat schnitt das jedoch ab, indem er erklärte: Er sei zwar ein christlicher und der Kirche wohlgeneigter Mann, aber um solche Dinge sich zu kümmern, habe er weder Zeit noch Lust. Er wolle sich seinen Landaufenthalt nicht durch peinliche Angelegenheiten verderben lassen. Solche Sachen zu erledigen, habe er Weinstein angestellt. Im übrigen sei sein eigener Sohn Landrat, und wenn der Herr Pastor glaube, irgendwelchen Grund zu haben, sich über mangelhafte Handhabung der Sittenpolizei zu beschweren, dann möge er sich nur an den wenden, der werde ihn schon bescheiden.

Grützinger mußte sich mit dieser Antwort begnügen; er war im Grunde mit der Auskunft gar nicht unzufrieden. Der Landrat! – Das war die richtige Instanz, an die er selbst noch gar nicht gedacht. Der hatte doch die Verantwortung für Sitte und Zucht im Kreise. Und da er noch dazu der Sohn des Grundherrn war, so konnte man doch ein doppeltes Interesse an einer Besserung der Dinge bei ihm voraussetzen.

Grützinger kannte den neuen Landrat nicht persönlich; das einzige, was er bisher von ihm gehört 532 hatte, war: daß er ein kluger Herr sei, der seinen Posten gut ausfülle. Er war daher auf die Bekanntschaft gespannt und geneigt, das Beste von ihm zu erwarten.

Landrat von Katzenberg nahm den Pfarrer sofort an; er möge sein Anliegen vorbringen, bat er mit Zuvorkommenheit.

Grützinger legte seine Klagen dar. Er hatte sich gut mit Material versehen, konnte seine Behauptungen mit mannigfachen Beispielen belegen.

Der Landrat hörte den Beschwerden des Geistlichen in Ruhe, ja mit offenbarem Interesse zu, hin und wieder warf er mal eine Frage ein.

Der Pastor war glücklich; hier konnte er doch endlich mal jemandem, der Einfluß hatte, sein Herz ausschütten, zeigen, wie es in Wahrheit stehe. Er hatte sich, ganz von seiner Sache erfüllt, in Eifer geredet und nahm sich kein Blatt vor den Mund.

Als er geendet, wiegte John Katzenberg den Kopf und betrachtete mit Wohlgefallen seine rosigen Fingernägel, dann meinte er: »Ja, das ist alles ganz schön, Herr Pastor! Ich zweifle keinen Augenblick daran, daß Ihre Schilderung der Wirklichkeit entspricht. Sie haben mir etwas wesentlich Neues eigentlich nicht mitgeteilt. Aber nun sagen Sie mir bitte, wie soll man da was ändern? Speziell, was soll ich dabei helfen?«

Pastor Grützinger war auf diese Frage gefaßt, er bat um folgendes: Strengere Kontrolle über die Tanzlustbarkeiten und den Branntweinschank im Krug von Groß-Podar; denn in diesen beiden Dingen liege die Hauptursache zu den anderen Lastern.

»Wird zukünftig schärfer beobachtet werden!« sagte der Landrat und machte sich eine Notiz.

»Aber damit ist noch wenig erreicht, Herr 533 Landrat!« fuhr der Pastor fort. »Verbote und die strengste Kontrolle nützen nichts, wenn man den Leuten nicht auch etwas bietet als Ersatz. Derartige rohe Vergnügungen müssen ihnen entbehrlich, mit der Zeit sogar verhaßt gemacht werden; das wird aber nur geschehen, wenn sie sich zu Haus wohl fühlen. Es wäre Sache der Gutsherrschaft, zuzusehen, ob diese Art Wohlergehen überhaupt möglich gemacht ist. Sodann muß den Leuten Freude an edleren Vergnügungen und Beschäftigungen anerzogen werden. Dazu schlage ich vor, einen Leseverein zu gründen mit einer kleinen Bibliothek für die Männer; für die Frauen besondere Zusammenkünfte mit Unterredung und gemeinsamer Handarbeit. Freilich kann aus den Plänen nichts werden ohne die werktätige Unterstützung der Gutsherrschaft. Und das ist dasjenige, warum ich vor allen Dingen herzlich bitte: Liebe und Wohlwollen und Interesse für die häuslichen Verhältnisse in der Gemeinde von dieser Seite.«

John Katzenbergs Miene hatte sich bei den letzten Worten zu einem mitleidig-spöttischen Lächeln verzogen.

Er erwiderte: »Und davon erwarten Sie sich wirklich irgend etwas, Herr Pastor? – Ich halte nichts von solchen philantropischen Mittelchen. Das ist Zuckerwasser! Damit verwöhnt man die Gesellschaft nur. Ich bin ein Mann der strikten Ordnung. Ich habe im Westen mit streikenden Grubenarbeitern zu tun gehabt. Da lernt man die Autorität schätzen, und man verlernt die Illusionen. Sie wollen der Unsittlichkeit steuern, wollen die Menschen veredeln? Und das mit Hilfe der Behörde. Du lieber Gott! – Soll ich vielleicht einen Gendarm kommandieren lassen, der jeden Abend die Mägdekammern revidiert? Wir wollen nur praktisch denken! Die Art Menschen will doch auch 534 leben, und der Kaiser braucht Soldaten! Wie sich die Leute amüsieren, das ist schließlich Privatsache, darein mischt sich die Behörde nicht. Wohlverstanden, wenn es dabei nicht zu Ausschreitungen gegen die Gesetze kommt! Und vor allem, solange nichts unternommen wird gegen die Autorität des Staates und der Regierung. Dann allerdings rücksichtsloses Vorgehen! Und sehen Sie, Herr Pastor, hier kommen wir vielleicht zusammen. Es mehren sich nämlich in letzter Zeit die Anzeichen, daß in unserer Gegend, die sich bisher von dieser Pest, Gott sei Dank, freigehalten, der Umsturz doch auch seine Fäden anzuspinnen beginnt. Aber wir sind wachsam! Es ist eine revolutionäre Propaganda vorhanden im Kreise. Gerade nach ihrer Parochie und ihrer nächsten Umgebung weisen Spuren hin. Sie, Herr Pastor, kommen ja viel in den Häusern herum, kennen die Leute und sind orientiert über die Gesinnung. Wenn Sie mir nach dieser Richtung hin Beobachtungen mitteilen könnten, Herr Pastor, Indizien, daß man endlich mal einen oder den andern von der Rotte fassen könnte – Sie verstehen –, das wäre ein Dienst, für den ich Ihnen zu Dank verpflichtet sein würde.«

Grützinger sah den Sprecher starr an; es war ihm, als höre er nicht recht. Aber es schien dem Landrat, seiner kühlen Miene nach zu schließen, völlig ernst zu sein mit seinem Ansinnen. Im schroffen Tone erklärte Grützinger: Davon könne gar keine Rede sein, dazu werde er sich niemals hergeben.

John Katzenberg maß den Entrüsteten mit einem seiner spähenden Blicke und meinte: »Nun, Sie haben ja sonst Ziemliches geleistet im Aufstöbern von angeblichen Mißständen, Herr Pastor! Warum sollten Sie nicht mal diesem Übel Ihr Interesse zuwenden?«

535 »Ich habe mich nur um die Seelenverfassung, nicht aber um die politische Gesinnung der mir Anvertrauten zu kümmern.«

»So – und was nennen Sie denn das, wenn Sie heraustifteln, daß die Leute schlecht wohnen, schlecht behandelt werden, nicht zu ihrem Rechte kommen, kurz, es miserabel haben und was Sie sonst alles behaupten!«

»Herr Landrat! Körper und Geist hängen untrennbar zusammen in diesem Leben! Ich könnte Ihnen hundert Beispiele anführen aus meiner Erfahrung, wo der irdische Teil verkümmert und der ganze Mensch dem geistigen Tode verfällt, weil die elenden äußeren Verhältnisse den göttlichen Funken erstickt haben. Wenn wir Geistlichen die Verantwortung tragen für das seelische Gedeihen unserer Herden, dann müssen wir auch das Recht haben, uns um das häusliche und wirtschaftliche Wohl des einzelnen zu kümmern, das der Nährboden ist des Geistes- und Gemütslebens.«

»Diese Argumentation, Herr Pastor, kennt man zur Genüge! – Damit haben Sie sich schon in Ihrer früheren Stelle der Maßregelung durch Ihre Oberbehörde nicht entziehen können. Denken Sie nur nicht, Herr Pastor, daß wir gar so mangelhaft orientiert sind. Sie und Ihre Freunde leisten Großes im Weheschreien über Vergewaltigung und Unrecht, das dem kleinen Manne widerfahren soll; zu etwas Positivem aber wollen Sie nichts beitragen. Da sieht man ja, wenn es wie hier darauf ankommt, der Behörde einen Dienst zu leisten, da versagen Sie. Ich habe Ihnen vorhin mit voller Absicht die Frage vorgelegt: ob Sie mich unterstützen wollen im Kampfe gegen den Umsturz; Sie haben das mit Entrüstung abgelehnt. Das legt 536 die Vermutung nahe, daß Sie den Umsturz nicht zu den bekämpfenswerten Übeln rechnen, daß Sie ihn vielleicht sogar gutheißen, Herr Pastor?« –

Grützinger war bis in die Lippen erbleicht. Mit bebender Stimme sagte er: »Mich hier einem Examen über meine Gesinnungen zu unterziehen, war ich allerdings nicht vorbereitet. Ich muß es ablehnen, auf solche Unterstellungen etwas zu erwidern. Eines will ich nur feststellen: Ich bin Geistlicher, und es ist unter meiner Würde, mich als Spion gebrauchen zu lassen. Im übrigen muß ich allerdings einsehen, daß ich von Ihnen kein Verständnis und keine Unterstützung erwarten darf für meine Arbeit.«

»Mit dieser letzteren Vermutung dürften Sie so ziemlich recht haben!« erklärte John Katzenberg trocken.

Damit schloß die Unterhaltung zwischen den beiden Männern.

* * *

Eines Nachmittags in der Erntezeit, als Erich von Kriebow das Mähen überwachte, machte ihn der alte Kräuger darauf aufmerksam, daß vom Gutshofe her ein Wagen herangefahren komme. Kriebow erkannte die Schimmel des Landrats.

Da ihm an einer Unterhaltung mit John Katzenberg nicht das geringste lag, zeichnete er nicht weiter darauf, bis der Wagen hielt und der Landrat über den Stoppel auf ihn zugeschritten kam.

John Katzenberg erklärte: Sein Vater und er wünschten mit Herrn von Kriebow zu sprechen. Sie seien bereits drinnen vor dem Herrenhause gewesen, und da sie dort erfahren, wo er sei, hätten sie sich erlaubt, ihm hier heraus aufs Feld nachzukommen.

537 Der Grabenhäger ritt an den Wagen heran. Der Kommerzienrat schwenkte den grauen Zylinderhut und sprach dem Nachbar seine Anerkennung aus, daß man ihn selbst am Nachmittage als eifrigen Landwirt auf dem Posten finde. Dann erklärte auch er, eine vertrauliche Unterredung sei ihm erwünscht.

Kriebow bat also, die Herren möchten den Wagen umkehren lassen und mit ihm ins Haus kommen. Er selbst ritt voraus, um Klara zu sagen, daß sie nicht nötig habe, zu erscheinen.

Er nahm Vater und Sohn auf sein Zimmer und fragte, sobald sie Platz genommen, um was es sich eigentlich handle.

»Es handelt sich, lieber Herr Nachbar,« begann Katzenberg senior, »um Ihren Pastor oder vielmehr um unseren gemeinsamen Pastor; denn ich genieße ja leider auch den fraglichen Vorzug, den Menschen in Groß-Podar zu haben. Über den Charakter dieses Herrn werden wir vermutlich sehr ähnlich denken. Sie möchten den Mann sicherlich ebenfalls gern los sein! Auf irgendeine Weise muß sich das doch bewerkstelligen lassen! Das kann man wohl sagen: Der Mann ist reif! Seine Dreistigkeit übersteigt alle Begriffe. Mein Sohn ist auch meiner Ansicht. Aber zunächst lesen Sie einmal, bitte, diesen Brief!«

Der Kommerzienrat entnahm seiner Brusttasche einen Brief, an dessen Schriftzügen Kriebow Pastor Grützingers charakteristische Hand wiedererkannte.

»Geehrter Herr!« . . . . . .

»Bitte, allein schon diese Anrede!« fiel hier der Kommerzienrat ein. »Für einen Pastor mir gegenüber doch wirklich etwas stark! Überhaupt scheint mir der Herr von Manieren keine Ahnung zu haben. Paßt 538 übrigens zu seiner ganzen sonstigen Gesinnung, dieser Mangel an Respekt. Lesen Sie nur!« –

»Geehrter Herr! Ich gestatte mir als Seelsorger und insbesondere als Pfarrer Ihres Gutes und Dorfes diese Worte an Sie zu richten. Es muß schriftlich geschehen, da Sie mir die Gelegenheit, mich mündlich mit Ihnen zu verständigen, abgeschnitten haben.«

»Ich muß erwähnen,« schaltete der Kommerzienrat ein – da er vermutete, daß Kriebow im Lesen soweit gekommen sei –, »daß ich den Menschen nicht mehr vorgelassen habe. Er hat mich bereits einmal in ungehöriger Weise zur Rede gesetzt, und dann hatte mir auch mein Sohn mitgeteilt, wie er sich ihm gegenüber geäußert. Daraufhin sah ich mich genötigt, den persönlichen Verkehr abzubrechen. Aber bitte . . . .«

»So bin ich denn auf diesen Weg gewiesen. Und ich richte die ebenso herzliche als dringende Bitte an Sie, Herr von Katzenberg, mir zu helfen bei der Bekämpfung gewisser Mißstände innerhalb Ihres Gutsbezirks, die ohne die Hilfe der Gutsherrschaft nun einmal nicht zu beseitigen sind. Ich weiß, daß ich in Gefahr komme, aufdringlich zu erscheinen, aber ich nehme dieses Odium auf mich; denn ich fasse meinen Beruf so auf, daß ich als Seelsorger nicht nur das Recht, nein, die Pflicht habe, an Herz und Gewissen aller meiner Gemeindemitglieder, vom Niedrigsten bis zum Höchsten, mich zu wenden. Es würde Menschenfurcht bedeuten, wenn mich der Anstoß, den ich dabei erregen könnte, bedenklich machen wollte. Und Menschenfurcht sollte kein Christ, am wenigsten ein Geistlicher, in sich aufkommen lassen.

Ich glaube, Herr von Katzenberg, daß Sie über das, was auf Ihrer Besitzung vorgeht, nicht richtig 539 unterrichtet sind. Wären Sie es, dann hätten Sie schon längst eingegriffen. Ich will Ihnen hier nicht schildern all die sittliche Verkommenheit, Laster und Unzucht, die in Ihrer nächsten Nähe wuchern – so etwas schreibt sich schwer nieder –, ich will auch hier nicht von der Verwahrlosung sprechen, in der die Arbeiter, vor allem die jungen, dahinleben; für alles das will ich Ihnen, wenn Sie es wünschen, in einer persönlichen Zusammenkunft Beweise bringen, die Sie überzeugen werden. Sagen Sie nicht, daß diese Verhältnisse Sie nichts angingen! Sie gehen einmal jeden erwachsenen, gebildeten, christlichen Menschen etwas an; zu solchen Schäden Stellung zu nehmen aber wird geradezu Pflicht für den, in dessen Hand Macht und Vermögen gelegt sind.

Nochmals also, lassen Sie meinen Ruf um Hilfe nicht ungehört verhallen! Einer gefälligen Antwort gewärtig, Ihr sehr ergebener

P. Grützinger.«

»Das ist doch wirklich ein starkes Stück – nicht wahr?« rief der Kommerzienrat, der mit Ungeduld Kriebow beim Lesen gefolgt war. »Man weiß nicht, worüber man sich mehr wundern soll, über die Naivität oder die Anmaßung. Hier muß ein Exempel statuiert werden!«

Kriebow gab ihm den Brief zurück und fragte: »Was gedenken Sie zu tun?«

»Ich wollte den Brief einschicken an seine Vorgesetzten: den Superintendenten, das Konsistorium, oder wer immer das ist. Aber mein Sohn meint, das würde zu gar nichts führen.«

»Wird es auch nicht!« mischte sich hier der Landrat ein. »Dazu ist der Brief viel zu geschickt abgefaßt.«

540 »Aber die aufrührerische Gesinnung ist doch zwischen den Zeilen zu lesen!« meinte Katzenbergs Vater. »Mit deutlichen Worten sagt er's ja nicht gerade, aber er meint's doch, daß wir: die Großgrundbesitzer, die Herren, die Reichen überhaupt, schuld seien an allem Übel. Wenn das nicht Revolution predigen heißt, dann weiß ich's nicht! Was denkt sich denn der Mensch? Zu wem spricht er denn? Wer trägt denn den größten Teil der Kirchenlasten? Wer zahlt denn die meisten Steuern? So ein Pastor lebt überhaupt nur durch unsere Gnade. Und dabei will er uns vorschreiben, was unsere Pflichten wären! Da hört doch wirklich verschiedenes auf! In meinem ganzen Leben ist mir eine solche Frechheit noch nicht vorgekommen.«

Der Kommerzienrat hatte sich in große Hitze geredet. Auf Kriebow wirkte er unwillkürlich komisch, wie er mit hervortretenden Augen, emporgezogenen Brauen, heftig gestikulierend, die Worte hervorsprudelnd, sich immer mehr ereiferte.

Der Sohn mochte die Wirkung bemerken, die seines Vaters Übertreibungen auf Kriebow hervorbrachten; er fiel dem Alten ins Wort, erläuternd gewissermaßen. »Sie müssen nämlich wissen, was alles vorausgegangen ist, Herr von Kriebow! Pastor Grützinger hat bereits den ganzen Winter über das Aufhetzen systematisch betrieben in Groß-Podar. Dem Sekretär Weinstein, den mein Vater dort hingeschickt hatte zur Vertretung, hat er sein Amt nach Möglichkeit erschwert. Den Gutspächter hat er aufsässig gemacht. Den Pächter des Krugs hat er über seine Pflichten und Rechte belehren wollen. In die Arbeiterverhältnisse, die genau so sind wie überall sonst hierzulande, hat er sich gemischt; in allen Katen ist er herumgekrochen und hat Mißstände 541 aufgestöbert und an die große Glocke gebracht. Man kann sich nicht wundern, wenn meinem Vater das schließlich zu bunt wird.«

»Das ist doch die tollste Klassenverhetzung!« rief der Kommerzienrat. »Der Mensch treibt ganz offen sozialistische Propaganda. Wenn wir das ruhig mit ansehen, dann können wir es erleben, daß uns eines Tages das Haus über dem Kopf angezündet wird oder daß wir in die Luft fliegen.«

»So weit wird's ja nicht kommen!« schaltete hier der Sohn wieder ein. »Es gibt schließlich noch Mittel und Wege, um so einem Herrn das Handwerk zu legen. Wir sind deshalb zu Ihnen gekommen, Herr von Kriebow . . . .«

»Wir müssen gemeinsam vorgehen!« unterbrach ihn hier der Vater, mit dem der Eifer durchging. »In Groß-Podar haben wir bereits eine ganze Anzahl Leute zusammen, die gegen ihn aussagen wollen. Da ist Weinstein, dann der Pächter vom Gut und der vom Krug, dann verschiedene Katenleute. Es wäre gut, wenn wir in Grabenhagen auch noch einige Stimmen sammeln könnten, denn Groß-Podar allein ist zu wenig. Das Material gegen ihn muß erdrückend sein, verstehen Sie! Mein Sohn meinte, es wäre von Wichtigkeit, wie Sie, als Patron, sich äußern würden, Herr von Kriebow. Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir alle zusammen nicht diesem Pastor ein Bein stellen könnten!« –

Wiederum fiel ihm sein Sohn ins Wort; dem rückte der Vater viel zu schnell mit seinem Plane heraus. Der Landrat war der Kühlere von den beiden und der schärfere Beobachter. Er argwohnte längst, daß Kriebow gar nicht auf ihrer Seite sei in dieser Angelegenheit. 542 Er hielt es für angezeigt, das erst einmal festzustellen, ehe man weiterging.

»Ihnen ist ja dieser Pastor jedenfalls weit besser bekannt als uns, Herr von Kriebow,« sagte er. »Sie genießen ihn ja gewissermaßen hier aus erster Hand, wo Sie ihn so dicht vorm Hause wohnen haben. Gewiß haben Sie Ihre Beobachtungen gemacht und können über sein Verhalten den besten Aufschluß geben. Wie denken Sie eigentlich über den Mann?«

Erich von Kriebow schwieg einen Augenblick. Hierauf eine passende Antwort zu finden, war nicht gerade leicht. Sympathisch war ihm Grützinger ja nicht, auch jetzt noch nicht, wo sie sich äußerlich leidlich standen und wo zwischen Herrenhaus und Pfarrerwohnung eine Art von geselligem Verkehr angebahnt war. Der Mensch hatte nun einmal etwas Plebejisches an sich, über das der Kavalier Kriebow nicht hinwegkommen konnte. Aber der Mann hatte ihm doch verschiedenfach durch sein Auftreten Achtung abgerungen. Ihm so einfach das Genick brechen, wie diese beiden es hier wollten, das konnte er unmöglich gutheißen.

Er gab daher zur Antwort, daß er sich zwar persönlich manches anders wünsche an Pastor Grützinger, daß er ihn aber trotz alledem für einen tüchtigen Seelsorger halte, der das Beste seiner Gemeinde wolle.

»Was?« fuhr der Kommerzienrat auf. »Das soll ein tüchtiger Pastor sein, der bei den Leuten herumgeht und gegen die Herrschaft agitiert, und der solche Briefe schreibt . . . . . .!«

»Herr von Kriebow!« sagte Katzenberg junior. »Die Vorgeschichte des Mannes ist Ihnen wohl nicht bekannt?«

»O doch! Ich weiß, daß er gemaßregelt worden ist.«

543 »Und sein Renommee hat sich keineswegs verbessert, seitdem er hier amtiert. Er ist als unruhiger Kopf bekannt. Mir ist der Auftrag geworden von maßgebender Seite, ein Auge auf sein Tun zu haben. Nun hatte ich neulich Gelegenheit, dem Herrn etwas auf den Zahn zu fühlen, und da fand ich denn die Vermutung vollauf bestätigt: Der Mann ist ein Umstürzler!«

»Ja, wie sie jetzt auch auf der Kanzel Mode werden!« fiel der Kommerzienrat ein. »Ein solcher Mann kann unendlichen Schaden bei der Bevölkerung anrichten.«

»Und ich meine, Herr von Kriebow,« fuhr der Landrat fort: »man sollte sich hüten, dergleichen zu protegieren; vor allem als Gutsherr und Patron sollte man das nicht tun. Vielleicht haben Sie sich noch gar nicht überlegt, was es heißt, einer so anrüchigen Persönlichkeit die Brücke zu treten. Ich glaube nicht, daß Sie das würden verantworten können, Herr von Kriebow!«

Jetzt wurde es dem Grabenhäger zu viel. Das hatte ihm gerade noch gefehlt, sich von John Katzenberg Lektionen erteilen zu lassen.

»Ich will Ihnen was sagen, meine Herren!« erwiderte Kriebow – wie immer, wenn er sich erregte, ziemlich überstürzt. – »Daß ich dem Pastor die Brücke trete, davon ist gar keine Rede! Mir kommt es nur nicht richtig vor, einen Mann so rücklings zu überfallen, Stimmen sammeln gegen ihn bei der Gemeinde, ihn bei seiner Behörde anschwärzen, damit die ihn abhalftern soll. Das geht mir einfach gegen den Strich! Solch ein Vorgehen, mag es gerichtet sein gegen wen es will, nenne ich nicht vornehm. Unternehmen Sie, was Sie wollen, gegen den Pastor, aber 544 mich lassen Sie gefälligst aus dem Spiele; ich mache da nicht mit!«

Der Kommerzienrat wollte mit gekränkter Miene hierauf etwas erwidern. Aber der Sohn machte ihm ein Zeichen zu schweigen.

»Wir müssen Herrn von Kriebow die Verantwortung für das, was er tun oder nicht tun will, überlassen,« sagte der Landrat.

John Katzenberg war wie immer äußerlich durchaus korrekt geblieben; aber sein Auge konnte er doch nicht verstellen. Der Blick, den er Kriebow zuschoß, belehrte diesen, daß er ihm das »nicht vornehm« im Leben nicht vergessen werde.

Nur um die Form zu wahren, blieb man noch eine kurze Weile beisammen. Ein Gespräch wollte nicht wieder aufkommen.

Dann erhoben sich Vater und Sohn und verabschiedeten sich in frostig steifer Weise vom Hausherrn.

 


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