Wilhelm von Polenz
Der Grabenhäger
Wilhelm von Polenz

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IV.

Frau von Lenkstädt hatte Grabenhagen verlassen. Sie kehrte nach Burgwerda zurück, da sie sich überzeugt hatte, daß ihre Tochter sie nicht mehr nötig habe. Kriebow redete ihr zwar zum Bleiben zu; die alte Dame war ihm für diese wohlgemeinte Höflichkeit dankbar, aber sie war welterfahren genug, zu wissen, was sie davon zu halten habe.

So schwer der Mutter das Scheiden von der einzigen Tochter wurde, so reiste sie doch beruhigten Herzens in die Heimat zurück; die Sorge, die sie einen Augenblick für Klärchens Glück gehabt, war zerstreut.

Die junge Frau begann nun, sich ganz dem Hauswesen zu widmen und die Wirtschaft nach ihrem Sinne einzurichten. Die Mutter hatte ihr ja vorgearbeitet.

Die schwierigste Frage für Klara war, wie sie sich dem Ehepaar Kruke gegenüber verhalten solle. Bei 77 Erichs Vater waren diese Leute alles in allem gewesen. Erich selbst war, als er den Besitz von Grabenhagen antrat, natürlich herzlich froh, einen zuverlässigen Kastellan und eine erfahrene Wirtschafterin zu haben, denen er, während er in Berlin war, daheim alles mit Seelenruhe überlassen konnte. Und auch jetzt noch, nachdem er in Grabenhagen eingezogen war, sah er es für ein Glück an, in diesen beiden bewährte Dienstboten zu besitzen, die in alle Verhältnisse der Häuslichkeit eingeweiht waren.

Kruke wußte, wo im Keller der beste Platz war für den Rotwein, er verstand sich darauf, ein Faß Essig sachgemäß abzuziehen, er kannte sich aus mit dem Heizungswesen, er stand in persönlichem Verhältnis zu jedem einzelnen Stück des Familiensilbers. Im Behandeln der Herrengarderobe war er Meister. Im Tafeldecken und Servieren hatte er nicht seinesgleichen. Kurz, Erich von Kriebow hatte alle Veranlassung, seinen Kruke ein Faktotum zu nennen und ihn der jungen Frau bereits im voraus als ein Juwel anzupreisen.

Frau Kruke war in ihrer Art mindestens ebenso vielseitig wie ihr Mann. Sie hatte, als Küchenmädchen anfangend, nahezu alle Posten, die der Weiblichkeit zugänglich waren, im Grabenhäger Hause einmal bekleidet. In Küche und Vorratskammer, beim Backofen, auf dem Boden, in der Milchkammer, auf dem Teichplan, in Waschstube und Hühnerhof, überall war sie zu Haus; überall war sie aber auch gewohnt, unumschränkt zu gebieten.

Sie mochte wohl im Bewußtsein ihrer Unentbehrlichkeit gerechnet haben, daß sich darin auch unter der neuen Herrin nicht allzuviel ändern würde. Als Klara beim Empfange ins Haus getreten war, hatte ein zufriedenes Schmunzeln Frau Krukes faltiges Gesicht 78 erhellt. Die sah nicht danach aus, als werde sie selbst regieren wollen.

Aber dieser Triumph sollte gar bald dem Gefühle des Schreckens Platz machen über das energische Wesen, das sich bei der jungen Frau hinter so zarter Außenseite verbarg.

Frau Kruke war empört, daß die neue Herrin den Schlüssel an sich nahm. Das war anmaßend von ihr, aber im Grunde änderte es nichts; denn die Wirtschafterin hatte wohlweislich einen für sich behalten, der alle Schlösser öffnete.

Weniger angenehm erschien es, daß die junge Frau sich's in den Kopf gesetzt hatte, selbst herauszugeben, und daß sie Rechnungslegung verlangte, wobei sie jeden Fehler sofort herausfand. Man war nie vor ihr sicher; überall kontrollierte sie, alles sah sie, und was das merkwürdigste war: auf alles schien sie sich zu verstehen.

So etwas war unerhört! Das wollte eine Dame sein! – Frau Kruke war wirklich entrüstet. Wie sollte man denn bei einer solchen Kontrolle bestehen können. Sie war nun über dreißig Jahre in diesem Hause im Dienst, aber das war ihr noch nicht vorgekommen, daß sie wegen Butterverschwendung getadelt worden wäre, oder daß man sie über den Verbleib der Eier zur Rechenschaft gezogen hätte.

Frau Kruke prophezeite, das werde kein gutes Ende nehmen. Der gnädige Herr sei sehr zu beklagen; ein so guter und freundlicher Herr, und nun habe er sich so beheiratet! –

Klara ahnte, welcher Haß in der Seele der alten Person gegen sie lodern mochte, aber sie nahm das nicht allzu schwer. Sie hatte die Wirtschafterin sehr bald durchschaut; sie sah, daß unter ihrer Tyrannei das 79 ganze Hauswesen litt, sie sah vor allem, daß durch ihre Unlauterkeit die anderen Dienstboten zum Teil auch schon angesteckt waren. Die junge Frau erwog bei sich, ob es nicht geraten sei, hier reinen Tisch zu machen. Das räudige Schaf auszumerzen, wäre ja das einfachste gewesen. Aber Klara sagte sich, daß sie es ihrem Manne nicht zumuten könne, sich von dem ihm so bequemen Diener zu trennen, wie Kruke war; daß der seiner Frau gefolgt wäre, war ja klar. – Und auch an der Wirtschafterin hing Erich. Sie war für ihn eine Erinnerung an die Eltern. Sollte man ihn nun jetzt, wo er ins Regiment gekommen, in die unangenehme Lage bringen, Leute wegzuschicken, welche er als »gute, alte Familienstücke« zu bezeichnen pflegte?

Das sollte ihm erspart bleiben; da wollte sie lieber den für sie selbst schwierigeren Ausweg wählen: die alte Person behalten, aber sie unter die schärfste Kontrolle nehmen.

Es gehörte zu den schwachen Seiten von Frau Krukes Wirtschaftsweise, daß sie eine große Anzahl Hände brauchte zu ihrer Unterstützung. Da war eine Leuteköchin, ein Küchenmädchen, eine Hausmagd, ein paar Stubenmädchen und dazu noch mehrere Außenmädchen. Früh bei der Hausandacht war die Gelegenheit, wo Herrschaft und Dienstboten zusammenkamen. Man sang da ein Lied, das Klara auf dem Harmonium begleitete, der Herr las die Losung vor, dann wurde gemeinsam das Vaterunser gebetet. Kriebow hatte sich bereits mehr als einmal lustig gemacht über den Schwarm von Frauenzimmern, an deren Spitze Frau Kruke bei dieser Gelegenheit anzutreten pflegte; er behauptete, wenn er nicht Kruke und Franz hätte zur Verteidigung in Notfällen, würde ihm bei so viel Weiblichkeit bange werden.

80 Klara kündigte bei der ersten Gelegenheit, die sich bot, einigen von diesen, und zwar den Lieblingskreaturen der Wirtschafterin. Dafür mußte Ersatz geschafft werden, denn eine bestimmte Anzahl von dienstbaren Geistern brauchte das große Haus ja natürlich.

Sie hatte beschlossen, sich selbst ein Mädchen heranzuziehen. Unter den Kindern der Tagelöhner gab es doch gewiß eine oder die andere, die sich eignen würde. Ihre Mutter hatte sich daheim stets die Mädchen selbst herangebildet; das wurden dann die tüchtigsten und anhänglichsten.

Erich, mit dem sie darüber sprach, gab ihr den Rat, sich an den Inspektor zu wenden; der würde ihr verschaffen, was sie brauchte. Aber Klara verschmähte das. Selber wollte sie in die Katen gehen und sich umsehen.

Der Gedanke gefiel ihrem Manne nicht. Es gab in den Arbeiterwohnungen doch so mancherlei, wovon eine junge Frau nichts zu wissen brauchte. Ihm waren diese Dinge ja von Jugend auf bekannt; er nahm sie als etwas Selbstverständliches hin. Die Art Leute hatten nun einmal andere Begriffe über Anstand und Sitte, das hing so mit dem Landleben zusammen: ländlich, sittlich! – Aber seine Frau sollte nicht mit dem Schmutze in Berührung kommen. Der Gedanke, Klärchen könne ein rohes Wort hören, etwas Unanständiges sehen, war ihm unerträglich. Diese Art Erfahrungen waren gar nicht nötig für eine Frau; die hatte er ja für sie. Er wollte, daß sie sich den zarten Duft der Unschuld und Unerfahrenheit wahren sollte, so lange als möglich.

Er redete ihr darum ab. Seine Gründe konnte er ihr freilich dabei gar nicht einmal sagen.

Klara lachte ihn aus: was? sie werde die Sprache der Leute nicht verstehen! – nun, dann würde sie sie 81 eben lernen. Oder sie werde sich anstecken mit irgendeiner Krankheit! – dann lohnte sich das Leben überhaupt nicht, wenn man so ängstlich sein wollte.

Eines Tages erzählte sie ihrem Manne, als er von der Hühnerjagd zurückkam, mit freudestrahlendem Gesichte, sie sei heute bei mehreren Tagelöhnerfamilien gewesen, morgen wolle sie zu anderen gehen und so alle durch. Es sei ausgezeichnet gegangen. Der Dialekt habe ihr nur wenig Schwierigkeiten gemacht, und in Zukunst hoffe sie ganz gut mit den Leuten auszukommen.

Jeden Tag erzählte sie ihm jetzt von ihren Umgängen im Dorfe. Er bangte immer, das werde ein unerfreuliches Ende finden, wenn ihr erst mal die Augen aufgehen würden, über mancherlei, was sie jetzt noch nicht sah. Aber es schien ein guter Engel über ihrer Arglosigkeit die Wacht zu halten. Da war eine Familie, die hatte so reizende Kinder. In dem einen Katen wohnte eine Hausfrau, die das Muster war von Ordnung und Sauberkeit. Eine andere wieder zeichnete sich durch die gute Pflege aus, die sie ihrem Vieh angedeihen ließ. Einmal hatte ihr ein alter Mann eine merkwürdige Geschichte erzählt. Ein andermal kam sie tief ergriffen von ihrem Gange zurück; sie hatte eine Mutter gefunden, die schwindsuchtskrank darniederlag und die, den sicheren Tod vor Augen, ihr grausames Geschick mit christlicher Ergebung trug. So gab es in jedem Hause und in jeder Familie etwas Besonderes, das ihr Mitgefühl wachrief.

Die Besuche in den Tagelöhnerkaten wurden für Klara eine Beschäftigung, an der sie stets wachsendes Interesse nahm. Gegen die Gutsarbeiter ihrer Heimat fielen ihr die Grabenhäger Leute auf durch Gelassenheit und selbstbewußte Haltung; selbst in der äußersten 82 Armut büßte diese Art eine gewisse Würde nicht ein. Daheim in Burgwerda hatte sie sich häufig unangenehm berührt gefühlt durch die wichtigtuerische Geschwätzigkeit, mit der die Armen ihre Not an die große Glocke hingen. Die hier waren wortkarg und zurückhaltend; sie klagten nicht, und gegen mitleidiges Fragen schlossen sie sich ab, als habe niemand ein Recht, sich um ihre Sorgen zu kümmern.

Besonders bei den Männern begegnete Klara dieser Verschlossenheit, die häufig nicht weit entfernt war von Trotz. Irgendein Mißtrauen schien sie zu beseelen. Sie glauben wohl gar, die Frau des Gutsherrn suche ihre Wohnungen auf, um bei ihnen zu spionieren. Ein Hausvater versicherte ihr geradezu, bei ihm sei nichts Gestohlenes zu finden.

Noch eine andere Erscheinung war für Klara auffällig: es gab unter den Tagelöhnern nur ganz wenige, die in Grabenhagen geboren waren. Die meisten stammten von anderen Gütern, hatten schon eine ganze Anzahl Dienste gehabt. Manche Familien waren erst ein oder zwei Jahre im Dorfe und wollten womöglich schon wieder weiterziehen.

In ihrer Heimat war das ganz anders. Da waren die Dorfleute angesessen; jeder hatte da sein Häuschen und sein Stück Land, von dem aus er auf Arbeit ging. Ein Umherziehen von Gut zu Gut, wie hier, gab es da nicht.

Es war schwer für Klara, sich in diese Verhältnisse zu finden. Sie fragte gelegentlich einen oder den anderen, der gerade »trecken« wollte, weshalb sie fortgingen. War es etwa in Grabenhagen schlechter als anderwärts? war der Lohn geringer als auf den Nachbargütern? Keiner wollte das behaupten. Was war es 83 denn also? – Die Leute wußten entweder keine Antwort oder wollten keine geben.

Wirklich schlecht schien es den Arbeitern nicht zu gehen. Ihre Nahrung war reichlicher und besser, als Klara sie bei den armen Familien der Heimat kannte. Der ganze Menschenschlag hier war ein starker und kräftiger. Die ordentlichen Familien schienen ihr gutes Auskommen zu haben. Woher also diese Veränderungslust?

Sie sprach darüber mit ihrem Manne. Kriebow meinte: die Leute seien undankbar und unzufrieden, das sei die ganze Geschichte. Wenn sie eine Zeitlang auf einem Gute gewesen seien, dann würde es ihnen langweilig, dann wollten sie es mal wieder wo anders probieren.

Der Bescheid genügte Klara nicht; irgend etwas mußte hierbei sein, das Erich selbst nicht sah. Der Gedanke beschäftigte sie im stillen weiter. –

Klara hatte bei solchen Besuchen den Plan nicht aus den Augen verloren, ein Mädchen für ihren Dienst ausfindig zu machen. Die Auswahl wurde ihr schwer; denn es gab unter den jungen konfirmierten Dingern mehr als eine, die aussah, als ob sich etwas aus ihr machen lassen könne. Eine aber fiel ihr ganz besonders auf, ein Mädchen von sechzehn Jahren, semmelblond, schlank, mit feineren Gesichtszügen, als die meisten ihresgleichen sonst aufwiesen: Dürten Kaubeuke. Sie war als Hofgängerin bei den Eltern im Hause. Die Familie Kaubeuke gehörte zu den ordentlichsten im Dorfe. Die Mutter hatte trotz zahlreicher Familie ihr Hauswesen im besten Schusse. Am meisten aber gefiel Klara das nette und bescheidene Wesen des Mädchens selbst. Dürten wurde ihr ausgesprochener Liebling. Sie schlug ihr 84 also eines Tages vor, bei ihr in Dienst zu treten. Das Mädchen wollte nur zu gern. Die Mutter war auch sofort einverstanden; sie betrachtete es als ein hohes Glück und eine große Auszeichnung für die Tochter. Weniger erbaut schien Vater Kaubeuke zu sein. Aber Klara konnte aus dem wortkargen Manne nicht herausbekommen, was er eigentlich dagegen habe, daß sein Dürt', statt in der Wirtschaft zu scharwerken, die feineren Arbeiten des herrschaftlichen Hausstandes erlerne. Kaubeuke brummte etwas in den Bart: dem Göhr sei der Kopf sowieso schon zur Genüge verdreht – aber seine Ehehälfte beschwichtigte ihn.

Am Tage darauf berichtete Frau Kaubeuke dann, ihr Mann habe sich die Sache inzwischen überlegt und sei glücklich über die Ehre, die der Tochter widerfahre

Dürten zog also aus der elterlichen Kate in das Herrenhaus hinüber. Frau Kruke rümpfte zwar die Nase: wie sollte aus einem Frauenzimmer, das direkt aus dem Kuhstall geholt war, jemals eine herrschaftliche Zofe werden?

Aber die Prophezeiung der Wirtschafterin, daß die Hofgängerin binnen vierzehn Tagen dahin zurückkehren werde, woher sie gekommen, bewahrheitete sich nicht. Klara nahm den Neuling unter ihre besondere Obhut. Dürten erwies sich anstelliger und gewandter, als man von einem Tagelöhnerkinde erwarten konnte.

Bei einem Besuche, den Klara jener schwindsuchtskranken Frau abstattete, traf sie mit Pastor Grützinger zusammen. Die Gutsherrin war in der letzten Zeit einigemal bei der Pastorin im Pfarrhause gewesen, aber den Pfarrherrn selbst hatte sie bei diesen Gelegenheiten niemals zu Gesicht bekommen; ob dies Zufall sei, wußte sie nicht.

85 Klara konnte dem ungünstigen Urteil ihres Mannes über Pastor Grützinger nicht beipflichten. Mochte dem Manne auch feinerer, gesellschaftlicher Schliff abgehen, er war ein eifriger Seelsorger, der es ernst nahm mit seinen Pflichten. Überall in den Katen war Klara auf Spuren seiner Tätigkeit gestoßen. Seine Schroffheit wurde reichlich aufgewogen durch seine Pflichttreue.

Auch ein anderer Vorwurf, den Erich dem Geistlichen gemacht hatte: daß er ein verkappter Freigeist sei, wurde für sie widerlegt, als sie ihn jetzt am Lager der Sterbenden sah. Solche Worte über die Erlösung konnte nur einer finden, dem es heiliger Ernst war mit dem Glauben; so zu trösten vermochte nur ein Christ, der selbst von diesem Troste überzeugt war.

Der Ehemann der Sterbenden war mit seinem Gespanne auf dem Acker. Die Kinder umstanden das Lager; sie waren noch zu klein, um zu verstehen, was mit der Mutter vorgehe. Die unglückliche Frau rang schwer mit der Sorge, was nach ihrem Tode aus den Hinterlassenen werden solle.

Klara war tief erschüttert. Sie fühlte das Bedürfnis, hier helfend einzugreifen; mit dem bloßen Hinweis auf Gottes Güte konnte man diese Mutter nicht dahinfahren lassen. Die Sorge um die Hinterbliebenen solle ihre Sache sein, versprach sie der Sterbenden.

Pastor Grützinger hatte damals kein Wort der Anerkennung geäußert; aber Klara fühlte es in Zukunft aus seinem Verhalten, daß sie an jenem Sterbelager sein Vertrauen gewonnen habe.

Sie traf den Geistlichen jetzt öfter; die Beratung über das, was für die Waisen zu geschehen habe, führte sie zusammen. Bei solchen Gelegenheiten ließ 86 sich Klara wohl mit ihm in ein Gespräch ein über Dinge, die ihr gerade am Herzen lagen.

* * *

Man befand sich im Grabenhäger Parke nicht weit von der Kirche, die mit Pfarrhaus und Gottesacker von den herrschaftlichen Anlagen eingeschlossen lag wie ein kleines Eiland.

Klara war mit dem Geistlichen eben bei Leuten gewesen, die im Auszuge begriffen waren. Sie hatten Verwandte in Amerika – aus Grabenhagen war vor etwa zwanzig Jahren ein ganzer Trupp übers Wasser gegangen, und Jahr um Jahr zogen diese Auswanderer neue Nachzügler aus der alten Heimat hinüber. – Es war ein trauriger Anblick gewesen: vor dem Katen ein städtischer Möbelwagen. Die Familie war zahlreich, einige halberwachsene Kinder dabei; das kleine Volk schrie und weinte, die Erwachsenen liefen kopflos durcheinander. Einige Nachbarn halfen beim Aufpacken der Siebensachen. Wie meist in solchen Fällen, wollten die Leute eine Menge mitnehmen, was sie auf der Fahrt nur belästigen mußte und das ihnen drüben nichts nützen konnte.

Auf die teilnehmenden Fragen der jungen Gutsherrin, was sie in der Fremde beginnen wollten, waren nur einsilbige Antworten erfolgt. Die Leute schienen verstockt und widerwillig. Vielleicht argwöhnten sie, daß ihnen zum Bleiben zugeredet werden sollte.

Klara lenkte in eine mit alten Kastanienbäumen bestandene Allee ein; durch die Öffnung, welche die gewölbten Baumschirme bildeten, leuchtete der Giebel des Herrenhauses mit seiner stattlichen Fensterzahl; am jenseitigen Ausgange lag das bescheidene Pfarrhaus.

87 »Warum fühlen sich die Menschen hier nicht glücklich?« fragte Klara, gewissermaßen ihre Gedanken laut zu Ende denkend.

Grützinger blickte die Gutsherrin prüfend an, bei sich erwägend, ob sie die Person sei dazu, die volle Wahrheit zu ertragen.

»Ich werde etwas sagen, das Sie höchstwahrscheinlich verdrießen wird, Frau von Kriebow!« meinte er nach kurzer Pause.

Klara zuckte nur die Achseln. »Gut denn! Wenn Sie meine Ansicht in dieser Frage wissen wollen: die Schuld an der jetzigen traurigen Verfassung der Gemüter ist nicht von gestern und heute; die Sünden der Väter kommen eben über die Nachgeborenen. Die historische Entwicklung der Dinge Ihnen darzulegen, ist nicht meine Sache: wie die Leute in die Hörigkeit gekommen sind, und wie sie angeblich daraus befreit wurden, nur um einem mindestens ebenso schlimmen Geschick zu verfallen, dem der völligen Schutzlosigkeit. Denn was anderes ist denn der jetzige Zustand als Vogelfreiheit! Sie haben kein Land, sie haben kein Haus, nur ihre Fäuste haben sie und die Mäuler ihrer Kinder, die gesättigt sein wollen. Aber sie haben die Freizügigkeit und den freien Arbeitskontrakt; schollenpflichtig ist niemand mehr. Und von diesen Rechten wird denn auch reichlich Gebrauch gemacht. Sie haben noch keinen Ziehtag hier erlebt, Frau von Kriebow; gehen Sie dann einmal hinaus auf die Landstraße; es ist ein trauriger Anblick, aber er ist lehrreicher als hundert Bände wissenschaftlicher Abhandlungen. Wagen an Wagen umziehender Gutstagelöhner, die mit ihrem bißchen Hausrat und Vieh und mit ihren Kindern auf der Straße dahinfahren, den Zigeunern gleich. Woher soll 88 denn auch dem Katenmann Liebe zur Heimat kommen, wenn er nichts von dem Boden besitzt, den er bebaut, wenn er nur ein Mietling ist! Alles, was er hat, was er ist, womit er sich kleidet, seine Wohnung, sein Garten, ist doch eben nur Bezahlung, Abfall von dem Tische eines anderen. Wo soll den Leuten Anhänglichkeit und Liebe zur Herrschaft herkommen, wenn sie fühlen, daß sie nur als zweihändige Maschinen verwendet werden!«

Hier widersprach Klara: das könne sie nicht glauben, daß es Gutsherrn gäbe, die so an ihren Leuten handelten.

»Ich habe mancherlei gesehen, Frau von Kriebow, während ich hier in dieser Gegend bin; es braucht ja nicht immer der Gutsherr selbst zu sein, es können auch Beamte so handeln. Und es ist auch nicht gesagt, daß es immer Härte und Bosheit sein muß, auch durch Unterlassung kann man Unrecht begehen; das tun die Herren, die in der Stadt sitzen und in Ruhe genießen, was andere für sie erwerben. Die Hauptsache bleibt doch immer der Geist, von dem Einrichtungen erfüllt sind. Wo ist denn der patriarchalische Sinn, von dem wir soviel lesen, der zwischen Gutsherren und Arbeitern walten soll? Oder wo ist die christliche Gesinnung, mit der man sich so gern brüstet? Zwischen Herr und Knecht hat sich etwas eingeschlichen, was das gerade Gegenteil ist von hausväterisch christlichem Sinn: der Geschäftsegoismus, die Erwerbsgier. Eine Kluft hat sich aufgetan zwischen zwei Ständen, die ihrem Berufe nach zusammengehören. Wer ist denn die notwendige Ergänzung zum Stande der Gutsbesitzer? doch der Arbeiter, der ihm sein Land bebaut! Aber wo ist denn da noch eine Gemeinsamkeit? Wo ist gegenseitiges Verstehen, Lieben, Achten und Helfen? Wo ist der Brotherr, dem das Wohlergehen seiner Leute ebenso 89 hoch stünde wie sein eigener Vorteil, wie es doch dem Evangelium gemäß wäre. Anstatt dessen: kalte Interessenwirtschaft, Ausbeutung . . . .«

Von neuem unterbrach Klara seinen Redefluß. Die Leute hätten doch ihr Auskommen: in manchen Katen habe sie sogar eine gewisse Behaglichkeit gefunden. Die Arbeiter lebten hier, was die Nahrung anbelange, besser als in ihrer Heimat.

»Vom Essen und Trinken rede ich auch nicht, Frau von Kriebow!« rief Grützinger erregt. »Um einen seelischen Notstand handelt es sich hier. Ich weiß ganz gut, daß bei der Mehrzahl der Tagelöhnerfamilien der Mittagstisch besser bestellt ist als bei mir und manchem anderen aus dem Geistlichen- und Lehrerstande. Und wäre die körperliche Verpflegung der Leute noch so gut, ihre Not wird dennoch zum Himmel schreien, wenn man sie in geistlicher und gemütlicher Verwahrlosung dahinleben läßt. Gehen Sie unter dieses Volk, wie ich es getan habe, beobachten Sie sie bei ihren Vergnügungen, bei der Arbeit, im häuslichen Tun und Treiben, in der Öffentlichkeit, in Kirche, Schule, auf der Landstraße, auf dem Felde, im Kruge auf dem Tanzboden, überall gähnt Ihnen die Stumpfheit entgegen, die Roheit, der Mangel an Bildung des Kopfes und des Herzens. Das, sehen Sie, ist der geistige Tod! – Es liegt eine Art von Gefängnisstimmung über den Gemütern. Die Leute wissen es, sie können nicht empor; es ist alles nutzlos, was sie auch anfangen, wie sehr sie sich auch anstrengen, sie können doch nie etwas anderes werden, als was sie sind; sie haben keine Aussicht, die Füße jemals unter eigenem Tische wärmen zu können, Selbständigkeit und Besitz ist ihnen verschlossen, und noch schlimmer! nicht einmal die Hoffnung haben sie, daß 90 es ihre Kinder einmal anders haben werden als sie. Das ist das Gefängnis, in dem sie leben, obgleich sie äußerlich frei und ungefesselt umhergehen, scheinbar mit sich anfangen dürfen, was sie wollen. Aber aus ihrem Stande und seinen Fesseln können sie nicht heraus. Daher ihre dumpfe Resignation! – Aber bei alledem lebt in ihnen eine Sehnsucht, ein Drang nach Höherem und Besserem. Denn glauben Sie nur nicht, daß diese Menschenklasse nicht auch ihre Ideale hat! Deshalb, weil sie äußerlich träge sind und verschlossen, lebt doch in ihrem Innersten verborgen ein tiefes, heißes Verlangen nach geistiger Unabhängigkeit, nach besserem Erkennen und Verstehen, nach einer veredelten Lebensführung. Das ist nun einmal tief in die Menschenbrust gesenkt und nicht der schlechteste Teil der Menschennatur. Man muß das nur zu erkennen verstehen. Manchmal sagt es einem ein Blick, ein Seufzer oder eine Geste; denn der Mund dieser Art ist verschlossen, sie sind wohl auch zu stolz, diese schwerste Not, unter der sie leiden, jedermann zu offenbaren. Aber irgendwo muß das hinaus, dieser Drang, das Sehnen, über das sie sich selbst nicht klar sind. Sie tappen im Finstern, niemand ist da, der sie beriete. Da folgen sie denn allerhand Lockrufen, die aus der Ferne ertönen, Vorspiegelungen, daß es anderswo besser sei als hier. Eine Heimat besitzen sie nicht – denn die hat man ihnen nicht gelassen –, und so ziehen sie denn fort, in die Stadt, oder noch weiter, übers Meer, in ein ungewisses Los.«

Sie gingen immer noch in der Kastanienallee auf und ab. Die großen handartig geformten Blätter lagen bereits in einer dichten, braunen Schicht am Boden und raschelten unter ihren Tritten. Die anderen Bäume: 91 Eiche, Birke und Buche, hielten ihre Blätter fest. Die Rasenplätze prangten noch in saftigem Grün. Nur hie und da streute der Herbst seine roten, gelben und braunen Todesfarben in die frischen Laubmassen ein.

Obgleich Klara mit gespanntem Interesse auf das hörte, was Grützinger sagte, entging ihr nichts von den kleinen Zügen ihrer Umgebung; sie sah vielmehr alles mit verdoppelter Deutlichkeit. Sie befand sich in einem eigenartigen Zustande der Anspannung aller Sinne. Ein Hellsehen, das fast wie ein körperlicher Schmerz wirkte.

Das Licht, das so plötzlich auf sie eindrang, tat ihr weh. Eine schöne Frucht, die ihrem Auge bisher makellos erschienen war, sah sie von einem Wurme angebohrt. Das, was sie in ruhigem Genießen so angenehm befunden: die Schönheit dieses Heims, der Stolz auf ihren Besitz, die Zufriedenheit mit ihrem Lose, alles das erschien auf einmal unterhöhlt. Es war, als ob durch Wegziehen eines Vorhangs die Beleuchtung verändert wäre. Die Dinge um sie her hatten einen heimlichen Zauber eingebüßt, an traulicher Harmlosigkeit verloren. Viel nüchterner, härter und grausamer sah sich in Wirklichkeit doch alles an, als es ihrer Einbildung vorgeschwebt. Sie war plötzlich voll Trauer; als hätte auch in ihr Dasein, das sich eben noch so frühlingsschön anließ, der Herbst seine Vorboten geschickt. –

Sie waren beim Herrenhause umkehrend den Gang noch einmal hinabgeschritten, schweigend. Grützinger ahnte wohl kaum, welche Empfindungen er bei Klara durch seine Worte hervorgerufen hatte. Als man sich dem Pfarrhause näherte, blieb er stehen, in seinen Mienen arbeitete die Erregung; das Glück, sich endlich einmal aussprechen zu dürfen, strahlte aus seinen dunklen Augen. Der ganze Mann war erfüllt von seiner Sache.

92 »Ja, und wer hat denn diesen Stand geistig so verkommen lassen? wer trägt denn die Schuld an der Verwahrlosung der Tagelöhnerschaft?« rief er. »Ich weiß es, und ich will nicht hinter dem Berge halten, wenn's auch hart klingen mag – der Junker! – Der Junker, denn er war der geborene Herr auf dem platten Lande, er hatte die Macht in Händen, seine Untertanen zu erziehen, wenn er nur gewollt hätte! Wer hat denn immer am stärksten von allen Ständen auf seine Geburtsrechte gepocht? Wo Rechte, da Pflichten! Gott hat einen großen Beruf diesem Stande in den Schoß gelegt, als er ihm das Land gab. Der Edelmann hatte eine Kulturmission, eine Mission am Volke. Was hat er davon erfüllt? Die Großgrundbesitzer haben sich ganz andere Dinge am Herzen gelegen sein lassen, als die Wohlfahrt ihrer Gutsleute. Gehorchen sollen die Leute, fleißig arbeiten, möglichst wenig lernen, fromm sein und konservativ stimmen. Das nennt man patriarchalisches Regime. So lautet auch jetzt noch der Katechismus für den Landarbeiter. Und wie steht es denn mit dem Lebenswandel der Herren selbst? Geben sie, die Edlen, ein Beispiel, das zur Nachahmung für die Geringen empfohlen werden kann? – Man huldigt doppelter Moral: die Leute sollen fromm sein! gut, das ist auch unser Wunsch, jedes aufrichtigen Christen Wunsch. Aber ob der Arbeiter in Verhältnissen lebt, die ihm überhaupt erlauben, einen christlich-sittlichen Lebenswandel zu führen, darum ist die Sorge gering. Ich frage: wie soll in einer engen, unzureichenden Wohnung, wo die Familie nicht einmal unter sich ist, Anstand und Sitte gewahrt werden? Oder wie soll bei Frauen und Mädchen die Schamhaftigkeit vor schwerem Schaden bewahrt bleiben, wenn zu ihren Hütern Männer gesetzt 93 sind, die selber an der Schamlosigkeit Gefallen finden? Und was bekommen selbst die Kinder zu hören und zu sehen? – So sickern die laxen Anschauungen, die oben herrschen, durch; was bei den Herren Raffinement, blasierte Frivolität ist, das artet unten aus in bestialische Roheit, Unzucht, Wollust der niedrigsten Art. Und noch schlimmer: es gibt Fälle von . . . . .«

Hier hielt er inne, denn Klara hatte ein kurzes, erschrecktes, abwehrendes »Nein!« ausgestoßen. Er sah sie an und bemerkte einen Ausdruck solcher Bestürzung in ihren Zügen, daß ihm der Mund wie versiegelt war. Er begriff mit einem Male, was er angerichtet. Es tat ihm leid. Er hätte sich sagen müssen, daß er mit ihr über dieses Thema nicht sprechen dürfe.

Er bat um Verzeihung; er habe vergessen, wen er vor sich habe. Aber er sei so überwältigt von den Eindrücken, daß ihn der Mund übergeflossen, und widerrufen könne er nichts von dem, was er gesagt habe.

Klara nahm kurzen Abschied von ihm. Sie war tief verletzt. Ihre Stimmung war verzweifelt; schreien hätte sie mögen vor innerer Empörung. Sie fühlte sich wie zerrissen, herabgewürdigt.

Nie zuvor hatte sie solche Worte vernommen. Wie besudelt kam ihr hier alles vor, was sie liebte und achtete. Ihre intimsten Gefühle waren von harten plebejischen Händen verwundet, ihre zartesten Instinkte vergewaltigt. Empört lehnte sich ihr Stolz auf gegen die Anschauungen, die der Mann ihr hatte aufnötigen wollen. Er hatte übertrieben, er hatte alles verzerrt! Es durfte nicht so sein, wie er sagte; zu häßlich und zu schlecht wäre ja dann alles gewesen, was ihr gut und rein erschienen war. Zu schuldig hätte sie sich fühlen müssen, daß sie in solcher Umgebung sich glücklich 94 gefühlt, auf einen solchen verfaulten Untergrund sich in Ruhe niedergelassen hatte. Nein! er war ungerecht, ein Fanatiker! Erich hatte recht: es war etwas Proletarisches in ihm. Nur wer gewöhnlich war von Natur, wem Takt und Zartgefühl abgingen, konnte so mit Behagen das Häßliche ans Tageslicht ziehen.

Zum Weinen betrübt ging sie nach Haus zurück. Einen Augenblick dachte sie wohl daran, mit Erich zu sprechen über ihr Erlebnis; aber sie gab den Gedanken ebenso schnell auf, wie er ihr gekommen. Die Frage, ob möglich sei, was sie gehört, wäre ihr ja doch niemals über die Lippen gekommen, selbst ihrem Manne gegenüber nicht.

Besser also, sie schwieg und trug die schmerzliche Erfahrung für sich allein.

* * *

Inspektor Heilmann hatte eine schwierige Herbstbestellung in diesem Jahre. Von seinem Herrn war ihm der strikte Befehl geworden, Sonntags und Feiertags dürfe niemand Hand an Hacke, Karst, Sense oder Pflug legen; überhaupt weder auf Feld und Wiese noch im Hofe habe jemand eine Arbeit vorzunehmen. Ausgenommen solle allein das Füttern und Melken, das Kochen und Waschen sein. Wen er etwa diesem Verbote zuwider bei der Arbeit antreffe, den habe er auf dem Flecke wegzujagen. »Meine Leute sollen ihren Sonntag haben!« hatte der junge Gutsherr erklärt. Auf die Vorstellungen Heilmanns, daß sich das nicht durchführen lassen werde, erwiderte Kriebow: er wünsche, daß die Leute Zeit haben sollten, in die Kirche zu gehen. Der Beamte bezweifelte, ob die Dienstleute von der Gelegenheit Gebrauch machen würden. »Nun, dann 95 hat man das Seine wenigstens getan,« rief der Grabenhäger ziemlich unwirsch. »Man wird nun einmal für seine Leute verantwortlich gemacht. Daß sie frömmer dadurch werden, glaube ich auch nicht; aber der Pastor soll mir nicht wieder vorwerfen können, daß wir daran schuld wären, wenn die Kirche leer ist.« – Als der Inspektor noch weitere Einwände hatte, bedeutete ihn der Gutsherr in einem Tone, der nicht mißzuverstehen war, er wünsche, daß man seinem Willen nachkomme.

Mit grimmiger Miene verkündete Heilmann diese neue Einrichtung den Statthaltern. Die machten große Augen. Das sei wohl Spaß vom Herrn Inspektor. Keine Sonntagsarbeit mehr für ganz Grabenhagen! – Ja, du lieber Gott, wann sollten denn die Dienstleute ihre »Tüften« ausmachen und einfahren? Wann sollten sie Gras und Grummet mähen? Wann sollten sie düngen, wann Torf stechen und Holz kleinmachen? –

Heilmann hatte auf diese Fragen nur die Antwort: der Herr wolle es so. Auch die Löhnung werde in Zukunft statt Sonntags früh bereits am Sonnabend ausgezahlt werden.

»Dormit dat de Kirls et nah de Stadt dragen dohn!« meinte der alte Krauger.

»Oder tom Großpodarschen Kraug!« fiel Kagel ein, der stets mit dem Munde vornweg war: »Hett he ook dat supen verbaden an' Sünndag?«

Der Inspektor zuckte die Achseln. Der vorwitzige Kagel wollte weiter wissen, ob ihnen die Herrschaft in Zukunft die Tüften behacken und graben werde; würde sie ihnen den Stall ausmisten? Würde sie ihnen im Haus und im Garten alle Arbeit verrichten? –

Darüber wisse er nichts, erklärte der Inspektor. Am Sonntage werde von jetzt ab gefeiert; wer dawider 96 handle, habe sich des Weggeschicktwerdens gewärtig zu halten. Die Arbeiter sollten sehen, wie sie damit fertig würden; sie wüßten jetzt den Befehl des Herrn. – Kopfschüttelnd gingen die Männer von dannen.

Heilmann erwartete im stillen, daß sich auch hier das Sprichwort bewahrheiten werde: »Es wird keine Speise so heiß gegessen, wie sie gekocht ist«. Aber der Beamte täuschte sich diesmal. Am nächsten Sonntag, noch während des ersten Läutens, ließ der Grabenhäger satteln und ritt über die Felder; im Laufe des Nachmittags machte er einen Rundgang durchs Dorf, um sich mit eigenen Augen zu überzeugen, ob seinem Befehle nachgekommen werde. Und so werde er es jetzt jeden Sonntag machen, stellte der Gutsherr in Aussicht.

Die Arbeiter ließen durch ihren Statthalter beim Inspektor nachsuchen: sie wollten einen Tag in der Woche frei haben, für eigene Arbeiten, da ihnen der Sonntag weggenommen worden sei. Natürlich fanden sie bei dem Beamten taube Ohren. Das fehlte noch! Er wußte sowieso nicht, wie mit der Arbeit fertig werden. Die Tage wurden kürzer und kürzer. Das beliebte Manöver, früh die Gutsuhr vorstellen zu lassen, nützte nur wenig. Den fremden Arbeitern Branntwein zu verabreichen, um sie willig zu machen zu Überstunden, war ja von oben herab auch untersagt worden. Der Sonnabendnachmittag wurde verkürzt durch die Löhnung. Alles das zehrte von der Arbeitszeit. Schon kamen Tage, an denen es die Witterung unmöglich machte, aufs Feld zu kommen mit den Geschirren. Und dabei war die Winterung noch nicht zur Hälfte im Felde, die Kartoffeln zum großen Teil noch zu graben, von den Rüben ganz zu schweigen.

Wahrlich, unter solchen Verhältnissen den Leuten 97 auch noch die Sonntagsarbeit verbieten, hieße doch jedes rationelle Wirtschaften geradezu unmöglich machen. Pah! – Heilmann konnte sich noch der Zeit entsinnen, wo die Dienstleute mit Stockprügeln regaliert wurden. Und jetzt – wenn's so fort ging – würde man jeden Katenmann noch mit »Herr« titulieren müssen und jede Kuhmagd mit »Fräulein«.

Aber er tröstete sich: lange konnte es ja nicht währen; das war wohl nur so zu Anfang. Wenn man mit der Herbstbestellung nicht fertig werden würde, wenn im nächsten Frühjahr so und so viel Arbeitskräfte mehr gehalten werden mußten, vor allem, wenn's der Herr erst an den Einnahmen verspürte, dann würde sich das schon ganz von selbst geben. –

Der Inspektor hatte bei all seinem Ingrimm und Ärger doch auch sein Vergnügen. Mochte der junge Mann sich zunächst nur mal blamieren; für sein, des Inspektors, Ansehen konnte das ja nur günstig sein. –

Inzwischen war wieder ein Sonntag herangekommen. Klara erkannte an dem Umstand, daß Erich sich wieder zum Reiten ankleidete, daß sie wieder allein zur Kirche zu gehen haben würde. Sie hütete sich wohl, etwas gegen diese sonntäglichen Ritte zu sagen. Im stillen freute sie sich ja so über seinen Eifer.

Freilich, daß die Kirche voller geworden wäre, hatte auch sie nicht entdecken können. Aber was kam darauf an, ob sein Tun sofort Erfolg hatte! Der frische Impuls, der gute Wille, zu bessern, der Entschluß, selbst dafür zu wirken, das war doch schließlich das Wertvolle! So ließ sie ihren Gatten denn in Gottes Namen reiten, während sie selbst dem Rufe der Glocken in das nahe Kirchlein folgte.

Dem Grabenhäger war es nicht entgangen, daß 98 am Sonntage zuvor eine Anzahl Leute auf dem Felde gearbeitet hatten; als er sich von weitem zeigte, hatten sie sich den Anschein zu geben gewußt, als seien sie nur draußen, um sich die Feldfrüchte zu besehen. Er vermutete, daß man, sobald er den Rücken gekehrt haben würde, die Arbeit wieder aufnehmen werde. Er hatte ihnen nichts sagen können; denn schließlich, es war ihr gutes Recht, mit den Händen in den Hosentaschen auf den Feldrainen spazieren zu gehen. Sie in die Kirche zu treiben, dazu reichte seine Macht leider nicht aus.

Heute nun war er entschlossen, den Leuten zu beweisen, daß er ihre Finten durchschaue; für dumm brauchten sie ihn nicht zu halten! Dann wollte er sie auch in aller Güte belehren, warum die Sonntagsarbeit verwerflich sei. Man hatte doch schließlich als Gutsherr das Recht und die Pflicht, seine Leute auf gute Sitte und Betätigung christlicher Gesinnung hinzuweisen.

Auf den großen Schlägen des Gutes war alles wie ausgestorben. Als er sich aber, eine Senkung im Gelände benutzend, jenen Flurteilen näherte, wo die Kartoffeln der Dienstleute ausgepflanzt waren, sah er, daß dort wiederum einige Männer beim Hacken beschäftigt waren. Kriebow sprengte querfeldein auf die Gruppe zu; diesmal sollten ihm die Übeltäter nicht entgehen.

Die Leute ließen sich, obgleich sie den Gutsherrn herankommen sahen, nicht in ihrer Arbeit stören, hackten und gruben ruhig weiter. Das war wirklich stark! Kriebow hatte erwartet, daß sie die Flucht ergreifen oder doch wenigstens ihr Arbeitszeug verstecken würden.

Der Grabenhäger hielt die Stute an. Mehrere Tragkörbe waren bereits mit Kartoffeln gefüllt.

»Wißt ihr, was heute für ein Tag ist?« schrie der erzürnte Gutsherr.

99 »Dat weeten wi woll, Herr von Kriebow, wo sälen wi dat nich weeten?« antwortete ein grauhaariger Tagelöhner für die anderen.

»Und ihr wißt, daß ich am Sonntag die Feldarbeit verboten habe; wißt ihr das?«

»Ja, dat weeten wi ook.«

»Und ich habe gesagt, daß ich jeden wegschicken würde, den ich bei der Arbeit treffe am Feiertag. – Ich muß euch also entlassen.«

Eine Pause entstand. Die Leute blickten auf den Graukopf, der vorher das Wort ergriffen hatte; er sollte ihre Sache weiterführen. Der Alte stand da, die Hacke vor sich eingestützt, die Hände über dem Stielende gefaltet, langsam und bedächtig sprechend nicht ohne Würde: die Tüften kämen den Tagelöhnern zu, sie seien ein Teil ihres Lohnes. Aber sie könnten ihnen gar nichts nützen, wenn sie im Erdboden blieben; deshalb sei es ihr gutes Recht, sie auszumachen.

»Ja, aber nicht am Sonntage!« rief Kriebow dazwischen.

Wann sie denn ihre Tüften ausmachen sollten, fragte Pagelow, ein jüngerer Mann mit semmelblondem Haar, großen, hellblauen Augen, von aufgeweckten Zügen, oder ob ihnen das die Herrschaft selbst besorgen werde? –

»Frag nich so naseweis!« fuhr ihn der Gutsherr an.

Der Alte schüttelte mißbilligend den Kopf; er bedeutete seine Leute, sie sollten sich ruhig verhalten, das werde er schon zu Ende führen. »Lat 't man Lüd, lat 't man! De Herr meent dat gaud, he versteid dat man nich. Ick warr em dat all vertellen.« Wieder ergriff er das Wort und setzte mit Bedächtigkeit auseinander: wenn sie wochentags von früh bis abends der Gutsherrschaft arbeiteten, dann bliebe ihnen für ihre 100 eigenen Geschäfte nur die Nacht. Und des Nachts aufs Feld gehen und Tüften ausmachen, das wollten sie nicht, das täten nur die Diebe. Ebenso sei es mit allen anderen Arbeiten, wie Torfgraben und Holzmachen. Das gehöre doch auch zu ihrem Deputat. Wenn man ihnen verböte, zu bergen, was ihnen gehöre, dann verkürze man sie am täglichen Brot. Das könne der Herr doch nicht wollen! Und wegschicken werde er sie auch nicht, denn sie seien alle ordentliche Leute und hätten nichts Unrechtes getan. –

Der Grabenhäger konnte sich der Logik dieser Ausführungen nicht entziehen. Recht hatten die Leute ja im Grunde. So, wie es jetzt war, konnte es nicht bleiben.

Die Leute standen vor ihm, einen Bescheid erwartend.

»Nehmt jetzt euer Zeug zusammen und geht nach Haus!« befahl Kriebow.

Die Männer griffen einer nach dem anderen nach den Körben, hingen sie über die Handhacken und nahmen sie dann über die Schulter. Pagelow war der letzte; er hatte erst gezaudert, aber dann fügte auch er sich dem Befehl.

»Und für eure eigenen Geschäfte sollt ihr Zeit bekommen,« sagte der Grabenhäger, als er die Kolonne marschbereit dastehen sah. »Ich werde euch bis auf weiteres den Mittwochnachmittag dazu freigeben. Seid ihr nun zufrieden?«

Die Leute sahen einander an; dann nickte der, dann jener zum Zeichen des Einverständnisses mit dem Kopfe. Der Alte trat noch einmal vor die Reihe: ob das wirklich so sei, und ob es auch dabei bleiben werde. Und ob ihnen dafür was am Lohne verkürzt werden solle, etwa? –

101 Was er gesagt habe, habe er gesagt! antwortete Kriebow, und am Lohne solle ihnen nichts abgezogen werden.

»Wat heff ick seggt, Lüd! Uns Herr is en gauden Herr!« rief der Alte. »Aberst,« fügte er hinzu und kraute sich mit bedenklicher Miene hinter dem Ohre. »Ob Enspektor Heilmann dat ok liden wadd?« –

Kriebow mußte lachen; das war charakteristisch! Dieser Dampf vor dem Inspektor! Es war wirklich die höchste Zeit, daß er nach Grabenhagen gekommen war und die Zügel selbst in die Hand genommen hatte.

* * *

Einer der wenigen in Grabenhagen geborenen Dienstleute war Krischan Wurten, der alte Schmied. Die Schmiede lag in der Wegekreuzung am Ausgange des Dorfes. Der Grabenhäger hatte als Knabe dort manche Stunde zugebracht.

Des Meisters Jüngstgeborener, Fritz, war einer der wildesten Jungen des Dorfes gewesen, dabei ein anschlägiger Kopf und findiger Geselle. Darum hatte sich ihn der junge Erich von Kriebow sehr bald zum Spießgesellen und Gefährten zu seinen Fahrten ausersehen. Der dritte im Bunde war Otto Tuleveit vom Schulzengut. In der Schmiede war dieses Kleeblatt oftmals zu finden gewesen; dort lockte das große Feuer, der Blasebalg und der starke Verkehr. Immer gab's da was zu sehen: bald kam ein Knecht, der ein Pferd zu beschlagen hatte, oder ein Radreifen war neu zu schweißen, leichte Schlosserarbeit wurde dort auch gefertigt. Die Knaben konnten es nicht leicht satt bekommen, zuzusehen, wie die Eisen geglüht und gehämmert, wie die Hufe ausgeschnitten und geraspelt wurden. Und gar wenn 102 ein Pferd nicht stehen wollte beim Beschlagen, das gab dann allemal einen Hauptjux. Zeitig war das Pferdeinteresse bei dem Junker wach gewesen, und manchen Huf hatte er dort aufgehalten.

Seitdem waren nun bald zwei Jahrzehnte vergangen. Der Meister war inzwischen grau und runzelig geworden, soweit man das unter der Decke von Ruß und Eisenstaub, die auf ihm lag, erkennen konnte. Aber er handhabte Hammer und Feile noch wie ein Jüngling.

Der alte Wurten zog die Mütze tief zum Gruße, als der Gutsherr bei ihm eintrat. Ehemals hatte er den Junker behandelt, wie man eben ein heranwachsendes Bürschchen behandelt, nicht mit übertriebener Höflichkeit; und wenn ihm die Jungens etwa Unfug trieben mit dem Blasebalg, oder wenn sie mit den Pferden alberten, dann war er mit jener Grobheit dazwischen gefahren, die ein Wahrzeichen seines Standes ist. Ob er bei solcher Gelegenheit seiner eigenen Range eins versetzte, oder ob er den jungen Tuleveit oder den Junker Erich am Ohre zu fassen kriegte mit seinen Schmiedsfäusten, das war dann bei dem Meister ein Aufwaschen gewesen,

Kriebow mußte an alles das unwillkürlich denken. als der Alte heute vor ihm stand und kaum zu bewegen war, seine Mütze wieder auf den grauen Kopf zu setzen. Scherzend erinnerte er den Meister an die vergangenen Zeiten und fragte ihn nach den Jungens. Die beiden älteren waren schon vor Jahren nach Amerika gegangen. Von ihnen hatte der alte Mann lange nichts mehr gehört. Aber Fritz, der Jüngste, war noch im Lande, wenn auch nicht in Grabenhagen. Er hatte vierjährig bei der Kavallerie gedient, war zum Unteroffizier befördert worden; dann war er als Schlosser eine Zeitlang gewandert, um schließlich in die Heimat 103 zurückzukehren. Nun war er wieder auf und davon. Der Grabenhäger bedauerte das; er hätte den ehemaligen Spielkameraden gern wiedergesehen. Wo er denn hin sei? »Nach Berlin!« erklärte der Alte.

»Fritz nach Berlin! – Was Teufel will er denn dort?«

»Er arbeitet in einer Fabrik,« war die Antwort.

»Schade! Ich hatte ihm immer die Schmiede zugedacht. Schade! – Fabrikarbeiter! Ich hätte Fritzen auch mehr Vernunft zugetraut. Weshalb ist er denn gegangen, Meister?«

Der Alte hantierte an seinem Amboß herum, ohne den Gutsherrn anzusehen. Es war klar, er wollte nicht recht mit der Sprache heraus. – Ob er sich etwa nicht mit dem Vater vertragen habe? fragte Kriebow. Ach Gott, nein! Sie seien immer ganz gut ausgekommen soweit, erwiderte der Meister; Fritz habe Tagelöhnerdienste geleistet und, wenn viel Arbeit gewesen sei, in der Schmiede geholfen. Na, dann sei's am Ende gar eine Liebesgeschichte gewesen, die ihn weggetrieben habe? – Auch nicht! Fritz hatte ein Mädchen aus dem Dorfe geheiratet, die Tochter vom alten Krauger und Vater war er auch schon. Also mit Weib und Kind fortgegangen! Da sei ihm wohl der Verdienst in Grabenhagen zu gering gewesen? – Nein! er habe sein Auskommen gehabt. Nun, was es denn gewesen sei, erkundigte sich Kriebow ungeduldig.

Der Alte zauderte ein wenig, dann meinte er: es sei eine sonderbare Geschichte; dem Jungen habe es eben nicht mehr in Grabenhagen gefallen wollen. Schon vom Militär komme das her. Klug sei er ja höllisch geworden, das müsse man sagen; eine Schrift schreibe er, und er könne reden, daß man sich wundern müsse. 104 Gesehen hatte er auf der Wanderschaft auch eine Masse, und von allem verstand er was. Oft sei er des Abends nach der Arbeit bis in die Stadt gelaufen, nur um mal wieder eine Zeitung in die Hand zu kriegen; was in der Welt vorgehe, habe er wissen müssen. Und das sei's wahrscheinlich gewesen: das Lesen, das war schuld!

»Ja ja, mit dat Lesen!« meinte der Alte seufzend. »Dat Lesen ist dor all schuld an. Gegen dat Schrieben, dor heff ick nicks nich dorwedder, äwerst dat Lesen! Dor warden de besten Lüd rappelköppsch von.«

»Geht's ihm denn gut in Berlin?« fragte Kriebow.

Der Meister lief, statt Antwort zu geben, nach der Tür, die zur Wohnung führte. Mit einem Briefe kam er zurück, den er seiner Rußhände wegen am äußersten Ende mit zwei Fingerspitzen angefaßt hatte. Er wollte dem gnädigen Herrn mal was zeigen, hier sei ein Brief von Fritz.

Kriebow entfaltete das Schreiben. Die Handschrift war in der Tat recht sauber und leserlich.

»Lieber Vater! Ich danke für das Geld. Nötig hatte ich's, aber ich hoffe, wir werden nun nichts mehr von Euch brauchen. Das Leben ist sehr teuer hier, man hat da viele und große Ausgaben, an die man gar nicht denkt, aber man hat auch etwas davon, das muß man wieder sagen! Was Ihr da schreibt, hat seine Richtigkeit, aber zurückkehren will ich doch nicht, man muß sich ja plagen, das ist richtig, und so wie wir wohnen, vier Treppen, das ist auch nicht schön, viel schlechte Menschen sind überall in der Welt, das haben wir uns sagen müssen, der Frau fehlt die Kuh, hier müssen wir die Wäsche sogar im Zimmer aufhängen zum trocknen, und die Lütte bangt sich mächtig, aber das war nur zu Anfang, jetzt haben wir uns all schon drein gefunden.

105 Wir mögen nicht wieder nach Grabenhagen. Hier ist doch eine ganz andere Sache. Man sieht alle Augenblicke was Neues und hört interessante Dinge, kurzum, man weiß, wozu man in der Welt da ist. Bei Euch da erfährt man gar nicht einmal, um was es sich eigentlich im Staat und in der Gesellschaft handelt. Die Leute auf dem Dorfe leben so in den Tag hinein wie das liebe Vieh. Ich möchte Dich wirklich mal hier auf die Straßen führen, was es da zu sehen gibt, Du würdest Dich wundern. Das Licht und die Wagen und die Läden! Hier wohnen in einem Hause mehr Menschen als in Eurem ganzen Grabenhagen zusammen nicht. Und erst in den Versammlungen! Das würdet Ihr überhaupt gar nicht verstehen.

Ihr sagt, Vater, eine auskömmliche Stelle ist das beste, was der Mensch haben kann. Das ist ja richtig! Aber, seht Ihr, man will doch vorwärts kommen, das Leben ist ja so kurz, vielleicht wenn man Glück hat, dann bringt man's auch noch weiter, und ist's nicht für unsereinen selbst, dann ist's für die Kinder. Und das kann man eben da draußen nicht, es gibt ja keinen Platz, weil alles dem gnädigen Herrn gehört. Der Mensch ist eben kein Stück Vieh, man will höher hinaus, der Mensch will zur Freiheit.

Darum, lieber Vater, wollen wir hier bleiben. Fiken und Lütting lassen grüßen. Dein treuer Sohn Fritz.«

Der Grabenhäger konnte sich eines gewissen Unbehagens nicht erwehren beim Lesen dieses Briefes. Das war wirklich stark! So schnell vergaßen diese Leute Wohltaten, so wenig anhänglich, so undankbar und pietätlos waren sie. Mit diesem Fritz Wurten hatte er gespielt wie mit seinesgleichen. Aber alles war verschwendet, alle Güte, alle Fürsorge. »Man will höher 106 hinaus, der Mensch will zur Freiheit!« – Er konnte sich ja denken, woher solche Phrasen stammten.

Kriebow gab seinen Verdruß unzweideutig zu erkennen. Es sei traurig, daß sich Fritz auch habe verführen lassen; nun sei er wohl allerdings als verloren zu betrachten.

Der Meister faltete seinen Brief sorgfältig zusammen. Bei aller schuldigen Ehrfurcht vor dem gnädigen Herrn wollte er seinen Jungen doch nicht unverteidigt lassen. Fritz sei nicht schlecht. Ein Arbeiter sei er, wie er im Buche stehe, fleißig und strebsam. Aber deshalb habe es ihm wohl eben nicht mehr gefallen wollen daheim im Dorfe.

Den Gutsherrn ärgerte diese Verteidigung erst recht. Ob der Meister etwa behaupten wolle, in Grabenhagen sei nicht Platz für tüchtige Menschen? Hier sei es so gut und vielleicht besser als anderwärts. – Aber sein Sohn sei ein unruhiger Kopf! Nun, man werde es ja erleben, wie weit er's in Berlin bringen würde. – Damit ging er zur Schmiede hinaus.

Der Meister stand da mit äußerst bestürzter Miene. Es reute ihn jetzt, daß er den Brief gezeigt hatte. Aber wer konnte denn denken, daß der Herr das so aufnehmen werde!

 


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