Wilhelm von Polenz
Der Grabenhäger
Wilhelm von Polenz

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XXXI.

Katzenbergs hatten ihren Antrittsbesuch in Grabenhagen gemacht. Sie fanden Kriebows nicht zu Haus. Die hatten an demselben Nachmittage gerade den längst besprochenen Besuch bei Klavens in Ragatzin ausgeführt.

Als sie von dort zurückkehrten, fanden sie die Karten der neuen Nachbarn vor.

515 Kriebow war nicht besonders unglücklich, um diesen Besuch herumgekommen zu sein. Man machte möglichst schnell seinen Gegenbesuch in Groß-Podar, um die Sache los zu sein. Die Dame des Hauses war mit ihren Töchtern allein, da der Kommerzienrat wieder nach Berlin gereist. Man blieb nur eine halbe Stunde. Kriebow hoffte, der Verkehr würde damit fürs erste erledigt sein.

Da kam bald darauf eine Einladung zum Tee nach Groß-Podar für abends acht Uhr. Frau von Katzenberg schrieb dazu einige Zeilen an Klara: Es solle kein großes Fest werden, man wolle nur die Nachbarn bei sich sehen. Bei schönem Wetter hoffe man auch den Garten genießen zu können. – Herren waren im Rock, Damen in Straßentoilette gebeten.

Sollte man die Einladung annehmen? – Klaras Zustand hätte ja einen Entschuldigungsgrund abgegeben; aber bisher war sie noch immer allen Einladungen gefolgt. Einen triftigen Grund, Katzenbergs vor den Kopf zu stoßen, hatte man nicht. Außerdem waren, wie Kriebow neulich bei seinem Besuch festgestellt hatte, in dieser Familie die Frauen wesentlich netter als die Männer. Man hatte sich mit Frau von Katzenberg recht angenehm unterhalten, und auch jetzt wieder dieser Brief war liebenswürdig. – So entschloß sich Kriebow denn, für sich und seine Frau zuzusagen.

Trotz der Versicherung, daß es kein großes Fest sein solle, traf man die ganze Gegend in Groß-Podar versammelt. Es fehlte nicht an Räsoneuren, die sich darüber aufhielten, daß Katzenbergs so empressiert gewesen seien, zuerst einzuladen; aber gekommen war man doch, schon aus Neugier, um endlich einmal die Erneuerung von Groß-Podar mit eigenen Augen zu sehen, 516 welche seit Monaten unter den Nachbarn das Gesprächsthema bildete.

Die Veränderungen waren auch in der Tat sehenswert. Wer das Haus zur Zeit des alten Landrats von Ruhbeck gesehen hatte, vermochte es jetzt kaum wiederzuerkennen. Der Baumeister, vom Kommerzienrat von weither verschrieben, hatte mit dem alten Familienhause eine Radikalkur vorgenommen. Früher ein Durcheinander von kleinen winkeligen Zimmern und Gängen, in denen sich kein Fremder zurechtfand, jetzt ein großer stattlicher Saal mit Oberlicht, der durch zwei Stockwerke ging. Von hier trat man in einen aus Eisen und Glas errichteten Wintergarten und von da wieder auf eine Veranda mit breiter Freitreppe, die in den Park führte.

Wie durch Zauberei erschien dieser Park aus dem Boden gestampft. Früher war um das Haus ein Garten mit Obstbäumen, Fruchtsträuchern und Gemüsebeeten gewesen, aus dem die Ruhbeckschen Damen ihren Bedarf an Früchten und Grünzeug für die Küche bestritten hatten. Hinter dem Gartenzaun lagen ein paar bäuerliche Anwesen, deren hohe Strohdächer den Ausblick in die Ferne verhinderten.

Wenn man heute auf der Terrasse des Herrenhauses stand, blickte man über ein Parterre von Blumen und Topfgewächsen auf weite grüne Rasenflächen, in die hier und da ein Boskett eingestreut war. Den Hintergrund bildete eine Wand von Buschwerk und Bäumen.

Herr von Katzenberg hatte die Bauernhöfe angekauft; die Gebäude waren abgetragen worden. Die alten Bäume aber, die um diese Anwesen standen, hatte der Gartenbaudirektor, dem die Anlage des Ganzen übertragen worden war, geschickt dem Plane einzufügen 517 gewußt. Auch ein Teich war angespannt worden mit Hilfe einer tiefgelegenen Wiese und eines Wasserlaufes. Schwäne und eine Gondel fehlten nicht. Ein Gehölz am Ende der Wiese, in welche die Anlage auslief, war gelichtet worden, Wege durchgelegt, Bänke und Sommerhäuser an passenden Stellen aufgestellt.

Monatelang hatten Erdarbeiter und Gärtner an diesem Werke geschaffen. Stallung und Wagenremise, ein Nebenhaus für Dienerschaft, Warm- und Kalthaus waren noch im Bau begriffen. Vorläufig sei nur das Allernotwendigste geschehen, um Groß-Podar bewohnbar zu machen, versicherte der Kommerzienrat.

Als Erich von Kriebow mit Klara eintrat, sah er zu seinem Befremden neben der Dame des Hauses Mira Pantin stehen. Fast hatte es den Anschein, als empfange sie die Gäste.

Der Kommerzienrat hatte Frau von Pantin gebeten, bei diesem ersten Feste, das er der Gegend gab, seine Frau zu unterstützen. Frau von Katzenberg, von Natur zurückhaltend und nicht ohne gesellschaftlichen Takt, galt bei ihrem Manne als unbeholfen und ängstlich. Sie mußte es oft hören, daß sie sich an Frau von Pantins degagiertem Wesen ein Beispiel nehmen solle.

Und wie Mira Pantin hier neben der Hausfrau stand, schöner und glänzender als diese, jeden mit irgendeinem ungenierten Worte begrüßend, mußte der Uneingeweihte in der Tat annehmen, sie sei die Wirtin und nicht Frau von Katzenberg, die sie durch Erscheinung und Auftreten in den Schatten stellte.

Kriebow fragte nach Ulrich. Den habe sie in Berlin gelassen, erklärte Mira. Sie sei wieder mal Strohwitwe, wohne seit ein paar Tagen in 518 Groß-Podar. Damit streckte sie schon wieder neuen Ankömmlingen die Hand entgegen.

Kriebow war durch das Vernommene unangenehm berührt. In Gegenwart Klaras schämte er sich für Mira, immer daran denkend, daß er einstmals eine Anfreundung zwischen den beiden für möglich gehalten, ja gewünscht hatte. Also so weit war Mira bereits gekommen, daß sie sich zum Ehrendamendienst für dieses Haus hergab! –

Im großen Saale war ein Büfett aufgestellt. Nebenan der Wintergarten wurde durch Efeuwände in kleine grünumrankte Kabinetts eingeteilt, in denen soupiert werden sollte. In jeder solchen Nische strahlten aus Laubwerk hervorbrechend: Bogenlichter, glühenden Früchten vergleichbar.

Klara wurde von dem Ernsthöfer Tichow an ihren Platz geführt; mit ihr an einem Tisch saßen Wanda Rentell mit ihrem Kavalier und Kari, die einen jüngeren Dragoner als Herrn hatte.

Nebenan in der Laube tafelte eine lustige Gesellschaft. Mira Pantin, umgeben von einem Schwarm damenloser Herren; der Sohn des Hauses, John, war unter ihnen. Lautes Durcheinanderreden, von Zeit zu Zeit eine von Miras unverblümten Bemerkungen, dann schallendes Gelächter.

Das Souper war opulent. Diener liefen umher, mehr als nötig waren, in den Farben des Familienwappens. Der Ernsthöfer Tichow, der die böse Zunge der Gegend war, behauptete: es seien verkleidete Kellner aus einem Berliner Restaurant.

Kommerzienrat von Katzenberg ging, Sektglas in der Hand, hierhin und dorthin und stieß mit seinen 519 Gästen an. Er bat um Nachsicht, wenn vieles noch zu wünschen übrig lasse.

Der eigentliche Trick des Abends aber war noch aufgespart. Nachdem abgegessen war, wurden plötzlich die Türen zur Veranda weit aufgerissen; da bot sich ein überraschender Anblick. Der Park war illuminiert. Die Wege, mit Fettnäpfchen eingefaßt, zeichneten sich in ihren mannigfachen Windungen wie feurige Schlangen vom Grün des Rasens ab. In den Bosketts und von den Bäumen hingen bunte Laternen. Ein Knall ertönte, die erste Rakete stieg in den nächtlichen Sommerhimmel auf, als Anfang eines glänzenden Feuerwerks.

Und noch eine Überraschung! Als das Feuerwerk verpufft war und das Auge sich wieder an die Dämmerung gewöhnte, kam ein Zug von Landleuten heran: Männer, Frauen, Kinder, die Stocklaternen trugen.

An ihrer Spitze schritt ein Herr mit weißer Weste und Zylinder, Kneifer auf der Nase. Am Fuß der Freitreppe machten sie halt. Der Mann im Zylinder nahm eines der Mädchen, noch Schulkind, an der Hand und führte es einige Stufen hinauf. Dabei rief er mit näselnder, den Berliner verratender Stimme den obenstehenden Gästen zu: »Darf ich um einen Augenblick Gehör bitten für eine kleine Improvisation?« – »Nu los!« fügte er in gedämpfter Stimme für das Mädchen hinzu.

Das kleine Ding, offenbar ein Tagelöhnerkind, leierte einige Verse herunter. Das poetische Machwerk, welches sie aufsagte, pries die Güte und Freigebigkeit der neuen Herrschaft in überschwenglichen Worten.

Als sie geendet, stieg der Kommerzienrat die Stufen hinab, klopfte dem Kinde die Wange und richtete einige Worte an die Laternenträger. Er dankte den Leuten 520 für die »sinnige Überraschung«. Er fasse das auf als ein »Zeichen treuer Anhänglichkeit«. Dieser Beweis ihrer »vortrefflichen Gesinnung« habe ihm wohlgetan. Dann trat der Gutsherr an einzelne heran, schüttelte ihnen die Hand und sprach in herablassender Weise mit ihnen.

»Lieber Weinstein!« rief der Kommerzienrat dann dem Manne im Zylinder mit lauter Stimme zu: »Führen Sie mir die Leute vor die Küche! Sie sollen gespeist werden. Braten und Wein! à Person eine Flasche! Hören Sie, Weinstein!«

»Jawoll, Herr Kommerzienrat! Soll jeschehen!« erwiderte der Zylindermann; dann zog er mit der Laternenkolonne ab.

»Ich bin vollständig überrascht!« sagte der Kommerzienrat, als er wieder bei seinen Gästen war. »Netter Gedanke! – was? Es ist doch noch mehr gute Gesinnung unter den Leuten, als man denkt. Wirklich gerührt hat mich das! – John! Wo ist John?«

Aber John war nicht zu finden. Irgend jemand meinte: er habe den Landrat mit Frau von Pantin in den Park gehen sehen.

»Ja, in den Park! Da gehen wir alle jetzt hin! Wollen sich die Herrschaften mir anschließen. Ich muß Ihnen doch den neuen Teich zeigen. Es ist auch für Rudergelegenheit gesorgt, wer dazu Lust verspürt!« rief der Kommerzienrat und begab sich, gefolgt von einer Anzahl seiner Gäste, die Treppe hinab.

»Wir gehen lieber und rauchen eine! Was, Kriebow?« sagte der Ernsthöfer, sich beim Grabenhäger einhenkelnd. »Geschickt inszeniert, die Ovation der Populasse mit ihren Lampions; aber man merkte doch zu sehr die Mache.«

521 »Wer mag denn der Mensch da gewesen sein, der die Gesellschaft vorführte?« fragte Kriebow.

»Das ist Weinstein! Den hat er hier als Faktotum. Ein ausgetragener Junge, Berliner Schule!« Damit gingen sie in den Wintergarten zurück, wo man in einer Ecke Bier auf Eis, Zigarren und eine lustige Herrengesellschaft traf.

Auch im Park war Leben. Und während man auf und ab schritt auf den breiten, kiesbestreuten Wegen, zwanglos durcheinandergewürfelt, je nach Laune und Neigung, ertönte auf einmal eine kräftig einsetzende Ouverture. Die Dragonerkapelle war auf der Veranda erschienen und gab ihre Kunst zum besten.

Es war Stimmung gekommen in die Gäste. War man anfangs unangenehm berührt gewesen von dem übertriebenen Prunk, den der Gastgeber zu entwickeln für gut befand, so hatten inzwischen das Souper, das Feuerwerk, der wundervolle Abend das ihre getan, die Laune zu verbessern. Es war mal etwas Neues, nicht wie die üblichen Diners in der Mitte des Tages, die sich glichen wie ein Ei dem anderen.

Die erfrischende Kühle nach Sonnenbrand und Staub eines heißen Julitages wirkte labend. Und dazu wurde nicht verlangt, tanzen zu müssen – das rechneten die jungen Herren dem Gastgeber besonders hoch an. Nichts wurde von den Gästen gefordert, man konnte leben, wie es einem behagte; für die Erquickung aller Sinne war Sorge getragen – nein, es war wirklich schön in Groß-Podar! –

Der Kommerzienrat führte inzwischen eine Anzahl seiner Gäste nach dem neu angelegten Teich. Er hatte sehr wohl gewußt, warum er zu so später Stunde einlud; die Tagesbeleuchtung vertrugen seine eben erst 522 geschaffenen Anlagen nicht. Bei Nacht wirkten diese neu angepflanzten Strauchpartien, der frisch gesäte Rasen, der Teich mit seiner künstlichen Insel wie etwas Vollendetes. Das Kulissenhafte der Anlage wurde durch die diskrete Beleuchtung des hervortretenden Mondes im Dämmer gehalten. Über den Wiesen vor dem Gehölz, in das der Park auslief, standen feine, duftige Nebelschwaden. Gras und Laub waren frisch vom Nachttau. Vom Wasser her kam ein leichter Luftzug. Dabei der Himmel wolkenlos, die Sterne zum Herablangen deutlich, in sinnverwirrender Menge.

Kari schloß sich an Klara an. Obgleich die Töchter des Hauses sie aufforderten, mit ihnen und einigen Herren zu gondeln, bat das junge Mädchen, bei Frau von Kriebow bleiben zu dürfen, und das in so dringend ängstlichem Tone, daß Klara ihr den Wunsch nicht abschlagen konnte.

Schon während des Soupers war es Klara aufgefallen, daß Kari bleich war und, wie es ihr vorkam, mit Tränen zu kämpfen hatte. Klara war in dem Wohlgefallen, das sie schon bei ihrem ersten Besuche in Langendamm an Kari gefunden, nicht enttäuscht worden. Sie liebte das Offene in Karis Charakter, diese unverdorbene Gesundheit, den anständigen Sinn des Mädchens, den sie zu verteidigen hatte gegen so viel Anfechtungen aus ihrer Umgebung.

Ein paar Worte, und die Herzen hatten sich gefunden. Kari gestand Klara, wie sie sie immer schon von weitem bewundert habe, wie sie sie liebe und verehre.

Klara mußte ein ganz klein wenig lächeln über die Überschwenglichkeit des großen Kindes, das sich da an sie schmiegte und ihre Hand voll glühender Zärtlichkeit preßte. Was steckte doch hinter dem scheinbar gelassenen 523 Wesen des jungen Dinges für ein Bedürfnis nach Liebe und Mitteilung. Aber Klara kannte das: in dem Alter war man so! Es wäre ein Unrecht gewesen, solche Zärtlichkeit abzuweisen. Sie ließ Kari gewähren mit ihren Liebesbeteuerungen, raubte ihr nicht den Trost, daß auch sie die Neigung erwidere.

Dann begann Kari von ihrem Leben zu erzählen; ermutigt durch Frau von Kriebows Güte ging das junge Mädchen einmal ganz aus sich heraus. Sie klagte, wie einsam sie es habe in Langendamm, deutete an, wie schwer es oft sei, mit dem Vater auszukommen. Sie war sich auch bewußt, wie wenig sie gelernt habe. Sie sei ja so »furchtbar dumm«!

»Kari, das dürfen Sie nicht sagen!« fiel ihr Klara ins Wort. »Dazu muß man zu stolz sein!«

»Ach Gott! Mira sagt es mir ja alle Tage,« erwiderte Kari. »Vorhin erst wieder! Sie sagt, ich hätte mich ganz unpassend angezogen, wie eine Köchin, die Sonntags in den Krug zu Tanz geht. – Vor aller Welt hat sie mir das gesagt, und Landrat von Katzenberg hat darüber gelacht.«

Ihre Stimme klang weinerlich wie die eines Kindes, das sich kränkt. Klara schwieg dazu; das Mädchen tat ihr von ganzem Herzen leid, aber sie fühlte kein Bedürfnis, noch tiefer in diese Geheimnisse einzudringen.

»Mira ist ja wunderschön!« sagte Kari nach einiger Zeit, »aber ich begreife es doch nicht, daß man sie lieb haben kann. Ich kann mir auch nicht denken, daß Ulrich sie wirklich sehr lieb hat, denn sonst würde er doch nicht erlauben . . .«

Klara unterbrach sie hier, von etwas anderem beginnend. Sie sprach nie und mit niemandem über Mira Pantin. Eine Frau ohne Scham, das war für 524 sie etwas so Unerhörtes, daß sie das Gefühl davor hatte, als schließe sich ihr Herz zu. Es hatte ihr, ohne daß sie es jemanden hätte merken lassen, auch heute wieder die größte Überwindung gekostet, der Frau die Hand zu reichen.

Man hatte sich über der Unterhaltung, ohne es zu bemerken, mehr und mehr von der übrigen Gesellschaft entfernt und war in ein kleines Gehölz gekommen. Klara fühlte plötzlich einen Anfall jener Abspannung herankommen, wie sie ihn jetzt manchmal hatte.

Nicht weit von ihnen sah man durch die Baume ein Gartenhaus liegen. Klara sagte zu Kari, sie wünsche sich ein wenig auszuruhen und lenkte ihre Schritte dorthin.

Als man sich dem Pavillon, der in einer kleinen, mondbeglänzten Lichtung lag, bis auf wenige Schritte genähert hatte, öffnete sich die Tür von innen. Zwei Gestalten traten hervor: Mira Pantin und John Katzenberg.

Beide Paare standen sich dicht gegenüber und sahen einander in die Augen.

Das Mondlicht ließ Mira wie eine Marmorbüste erscheinen, keine Wimper zuckte in dem kalten Gesichte.

»Eine wunderschöne Nacht!« sagte sie mit der ruhigsten Stimme. »Nicht wahr, gnädige Frau?«

Und als keine Antwort erfolgte: »Wo haben Sie denn übrigens Ihren Herrn Gemahl? In solcher Nacht sollte man seinen Mann niemals unbeaufsichtigt lassen!«

Dann wandte sie sich an ihren Liebhaber, der, seiner Miene nach zu schließen, dieser Situation gegenüber doch einmal nicht ganz frei war von Verlegenheit. »Kommen Sie, John! Wir wollen zu den anderen 525 Menschen zurück. Man kommt sonst womöglich noch ins Gerede!« –

Damit hob sie ihr Kleid ein wenig und trat die Stufe vom Pavillon auf den Freiplatz hinab.

Im Vorbeigehen zupfte sie Kari am Ohr: »Und du, Gänschen! Gab's denn für dich keinen Leutnant, he?« –

Mit einem harten, höhnischen Lachen ging sie, gefolgt von ihrem Freunde.

Kari hatte Klaras Arm erfaßt und klammerte sich daran mit verzweifelter Kraft. Sie bebte am ganzen Leibe und starrte den beiden nach, wie sie allmählich verschwanden, als habe sie ein Gespenst gesehen.

Wieviel hatte Kari hiervon verstanden? – Wieweit ahnte das junge Mädchen, was dies zu bedeuten hatte? – Ein Stöhnen von Kari, wie durch furchtbarste Erkenntnis abgepreßt, gab Klara Antwort.

Dadurch kam Klara über das Entsetzen hinweg, das dieses Erlebnis ihr selbst verursacht hatte. Was war hier angerichtet? – Das war das Schlimmste von allem. Andere Kränkungen mochten verziehen werden, aber nicht die einer unschuldigen Seele.

Sie zog Kari von dem Platze weg. »Komm, Kari, komm, mein Kind!« Unwillkürlich hatte sich das »Du!« eingefunden. Das Mädchen stand ihr mit einem Male unendlich nahe.

Klara konnte es so gut verstehen, dieses Aus-allen-Himmeln-stürzen, dieses Sich-in-den-Boden-verkriechen-wollen vor Scham, wenn plötzlich vom Unerhörtesten der Schleier weggerissen wird, daß man selbst dasteht wie entblößt.

Kari ging weinend neben ihr her.

Wenn Klara nur einen Trost gewußt hätte! Wenn sie zu dem jungen Mädchen hätte sagen können: ›Ich 526 will dich zu deiner Mutter führen, Kari!‹ – Der Gedanke: das arme, gekränkte Wesen mit dieser Erfahrung zurückkehren lassen zu müssen, schutzlos, ratlos, in ihre tägliche Umgebung, war zu traurig.

Das einzige, was Klara mit gutem Gewissen ihrer neugewonnenen Freundin als Trost anbieten konnte, war: »Wenn du dir gar keinen Rat mehr weißt, Kari, dann kommst du zu mir. Hörst du, mein liebes Kind?«

 


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