Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften 1929 - 1930
Carl von Ossietzky

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Frenzel und Hellwig

Als der Amtsvorsteher Frenzel seinen Schuldspruch vernahm, rief er zusammensinkend: »Das ist Potsdam!« Eine tragische, aber richtige Erkenntnis. Die alte Residenz hatte eine Gaswolke von Muckerei und Selbstgerechtigkeit abgeblasen, die Gerichtssaal und Beratungszimmer vernebelte. Das berühmte gesunde Volksempfinden nahm Anstoß an dem Angeklagten, einem vollblütigen Mann von breitem flämischen Temperament. Er hatte den Haß aller gegen sich, die Zeitungen hatten ihn schon vorher als »widernatürlichen Vater«, als »unmenschlichen Lüstling« rubriziert.

Es scheint eine Spezialität der potsdamer Justiz zu werden, nicht nur zu strafen, sondern gleich zu vernichten. Nicht allein die Verurteilung, schon die Form, in der dieser zweite Frenzelprozeß geführt wurde, infamiert den Angeklagten für immer, zermalmt seine bürgerliche und seelische Existenz. Vor ein paar Jahren schon wurde von einem potsdamer Gericht eine junge Frau, die Gattin eines angesehenen Beamten, die einiger belangloser Familiendiebstähle bezichtigt war, durch die große Aufmachung des Prozesses ruiniert. Anstatt sich aufs Thema zu beschränken, rollte das strenge Tribunal das ganze Liebesleben der Dame auf, und das, während Mann und Kinder auf der Zeugenbank saßen. Das Gericht straft nicht mehr einzelne Vergehen, sondern sucht deren Zusammenhang mit dem verruchten Geist neuzeitlicher Morallosigkeit zu ergründen, um entsprechend peinlicher zu züchtigen. Wenn auch heute nicht mehr öffentlich gestäupt und mit glühenden Zangen gezwickt wird, so bleiben doch die Blicke der lieben Mitbürger, die Verachtung, der Boykott. Das ist Potsdam.

Wie sich aus der Urteilsbegründung entnehmen läßt, war der zweite Frenzelprozeß nicht ergiebiger als der erste. Der Spruch stützt sich allein auf die Aussage eines überspannten Mädchens, das wiederum von einem sehr unerfreulichen Pfarrersehepaar dirigiert wird, dessen wirklicher Charakter hinter einem Schleier von Pietismus und Zelotentum verborgen bleibt. Obgleich nachgewiesen wurde, daß Gertrud, wie jeder andre Mensch auch, nicht immer die Wahrheit gesagt hat, blieb sie doch der Fels, auf den der Staatsanwalt seine Anklage baute. Eine vorurteilslosere Kammer hätte die Partie mindestens als unentschieden aufgeben müssen. Eine humanere Kammer hätte auch ein Mißverhältnis gefunden zwischen dem Delikt und der Qual dieses Verfahrens für Vater und Töchter. Blutschande ist kein schöner Begriff; das Alte Testament und Arnolt Bronnen haben unerbittlich die Folgen solcher Missetat aufgezeichnet. Aber der Zeitgenosse, der seine wirklichen Dramen weit mehr im Zusammenprall mit seinem sozialen Fatum erlebt als in den Launen des Sexus, wird Inzest als unappetitlich, häßlich oder unmoralisch ansehen, kaum jedoch als ein erstgradiges Kriminalverbrechen, das mit Zuchthaus geahndet werden müßte. Jugendschutz besteht ja ohnehin, mögen seine Bestimmungen auch dafür gelten. Soweit es Minderjährige betrifft, mag das Jugendamt walten, was Erwachsene angeht, so sollen sie tun, was ihr Gewissen zuläßt. Im Kampf gegen erotische Affekte hat der Staat noch niemals gute Figur gemacht.

Frenzels Unstern wollte, daß sein zweiter Prozeß in die Hände des Herrn Landgerichtsdirektors Hellwig geriet. Das ist ein nervöser, rechthaberischer Herr, der in seinen Mußestunden die Feuilletons nicht sehr kritischer Blätter mit Abhandlungen über parapsychische Fragen bepflastert. Herr Hellwig ist ein großer Medienentlarver, wo er erscheint, hören die Geister auf, das zu tun. Dieser Prozeß ist sein großer Fall. Hier kann er sein psychologisches Steckenpferd in allen Gangarten tummeln, hier sind Sachverständige aller Schulen, hier kann er, zugleich als Träger der Disziplinargewalt des Vorsitzenden, seine Gelehrtheit glänzen lassen, hier kann der psychologisch geschulte Richter alle Rätsel, wenn nicht lösen, so doch wenigstens anschnauzen; und wenn nach langen Wochen alle Teilnehmer schachmatt sind, der Richter redet weiter, denn der Angeklagte und die Verteidiger müssen doch wohl oder übel zuhören. Eine ideale Séance, nur der Geist der Gerechtigkeit will sich nicht einstellen. Herr Hellwig ist kein gutes Medium.

Und so vollendet sich dieses bürgerliche Trauerspiel. Auf dem Richterthron ein verhinderter Privatdozent, ein löschpapierner Kopf, in dem ein paar Krähenfüße verschiedener wissenschaftlicher Handschriften haften geblieben sind, auf der Anklagebank ein unkomplizierter, ganz fleischlicher Mensch, den dieser Richter als seinen natürlichen Widerpart empfinden muß. Sonst marschiert das ganze wohlbekannte Inventar des ersten Prozesses wieder auf. Die Sachverständigen liefern wieder ihre homerischen Kämpfe. Es muß ein forensischer Höhepunkt gewesen sein, als in der ersten Instanz einer der gelehrten Herrn seinen Gegner mit der Behauptung niederstreckte, er habe in seiner langen Praxis etwa vierzigtausend männliche Glieder in der Hand gehabt. Ein Rekord. Und da sind wieder die beiden Mädchen, von denen die Eine, sauer und verstockt, für den Richter doch die Glaubwürdigkeit auf der Stirn trägt, weil sie die Anklage stützt, während die Andre, flapsig und scharf, durch Zynismus getarnt, als freches Geschöpf und notorische Lügnerin behandelt wird, weil sie für ihren Vater eintritt. Einige Zeugen heizen allerdings Ehrwürden Schenck und Gemahlin etwas ein, die alles so gottgefällig hergerichtet haben. Wenn der Angeklagte seine Schmerzen herausbrüllt, senken sie fromm die Blicke und fügen sich in seifiger Ergebenheit in den allerhöchsten Ratschluß. Durch zwei Monate schleppt sich die Tragödie hin, eine Marter für den Angeklagten, für die jungen Zeuginnen, die Tag für Tag im Kreuzfeuer stehen. Dazwischen sorgt der Richter für Betrieb. Mit beachtenswerter formaler Ungeschicklichkeit fängt er Krach mit den Verteidigern an, wirft er die Presse raus. Trotzdem bringen einige Blätter recht ausführliche Darstellungen. Wahrscheinlich hat hier die vierte Dimension ihrem Verächter einen Streich gespielt. Und endlich stützt Herr Hellwig sein Schuldig auf zwei reichlich zerrupfte Experten, die beiden großen P's, Plauth und Placzek. Aber auch ohne diese beiden Doktoren wäre er zu keinem andern Ergebnis gekommen, denn er versteht selbst genug, und außerdem hat er schon in den Eröffnungsworten gesagt, daß sich der Richter natürlich beim Studium der Akten bereits ein Bild von Schuld oder Nichtschuld mache ...

Die Verteidiger haben Revision eingelegt und mit Recht gefordert, daß die nächste Verhandlung nicht in Potsdam stattfinden möge, wo der Kanon der Kollegialität eine Desavouierung des Herrn Hellwig, also die Gerechtigkeit, verbietet. Für alle Fälle aber muß ein abgekürztes Verfahren gewünscht werden. Es handelt sich doch nur noch darum, ob Gertrud Frenzel, die die ganze Zeit unterm Einfluß des bornimer Pfarrhauses stand, eine glaubwürdige Belastungszeugin ist oder nicht. Man hat in diesem Prozeß an Gertrud insgesamt 850 Fragen gerichtet, eine Tortur, deren Ergebnisse mehr verwirrten als klärten. Also nicht nochmals eine Wiederholung dieses modernen Inquisitionsverfahrens mit psychomechanischen Foltermitteln, also nicht nochmals diese Professoren, die in der Vagina junger Mädchen herumgrapschen und dann ein Gutachten erstatten, das zwar die Reputation der ratlosen Wissenschaft rettet, aber nicht zur Wahrheit leitet. Was dem Angeklagten vorgeworfen wird, ist widerwärtig, aber dieser Prozeß ist allmählich zu einer ärgern Schmutzerei geworden.

Die Weltbühne, 9. Dezember 1930


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