Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften 1929 - 1930
Carl von Ossietzky

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Indien im Schmelztiegel

Unter den deutschen Journalisten, die sich in diesen letzten Jahren als Reiseberichterstatter großer Blätter einen Namen gemacht haben, wahrt C.Z. Klötzel eine besondere Note. Er ist nämlich unter allen am wenigsten nach Kuriositäten aus. Er ist nicht, wie viele seiner Kollegen, dem Besondern, dem Pittoresken, dem Exotischen verfallen. Wir kennen die von unverständigen Verlegern geförderten Reiseartikel, die die Welt von der fashionabelsten Seite sehen, der Kontrastwirkung halber nur von ein paar armen Teufeln belebt, die dafür aber frischen Humor mitbringen. Das Schlußergebnis ist dann regelmäßig ein Bündel alberner Gossips, die sich in Charlottenburg II mit geringern Spesen und viel leichter erfinden ließen, dort, wo keine Wirklichkeit die Heiterkeit der Imagination bedrängt.

Klötzel ist 1929 in Indien gereist, zu einer Zeit also, wo das Land an der Schwelle der Revolution stand, die es inzwischen überschritten hat. Wie sich in Indien die neue Zeit gebieterisch aber in absurden Formen aus dem Wust des Altertümlichen erhebt, schildert er in seinem Buche »Indien im Schmelztiegel« (F.A. Brockhaus, Leipzig). So eine werdende soziale Realität zu schildern, ist sehr schwer. Denn es fordert Verzicht auf alles, was so landläufig Schönheit genannt wird. Im Zauber einer Landschaftskulisse fließt die Ergriffenheit leicht von selbst, unter dem südlichen Kreuz kann jeder Strohkopf ohne Anstrengung zum Dichter werden. Der soziologisch geschulte Berichterstatter Klötzel meidet also die Stätten der fahrplanmäßigen Ergriffenheit, die Tempel, die Buddhas, die Ruinen. Dafür entwirft er ein stichfestes Bild des Textilbezirkes von Bombay, dafür führt er in ein indisches Gewerkschaftsbureau, in die Meetings der Arbeiter, der Jugend, in die Quartiere der Parteien, in die Elendsreviere der Parias. Wir sehen Emanzipation und tropische Unschuld nebeneinander, die Schwierigkeiten des Kastenwesens bei den Hindus und bei – den Engländern. Auch Taj Mahal wird besucht, aber wichtiger ist Jamschedpur, wo Tata Sons Ltd. die erste indische Industriestadt mitten im Dschungel errichtet haben. Eisen- und Stahl-Werke in Indien, von einem Parsi gegründet – wer wußte davon? Wir erleben Gandhis seltsamen Haushalt bei Ahmedabad und den Mahatma selbst als Debatteredner im Nationalkongreß. Es spricht für Klötzels Aufrichtigkeit, daß er sich das Kapitel Gandhi nicht leicht macht. Was wäre hier einfacher gewesen als sich in ein unverbindliches Humanitätspathos zu flüchten? Aber Klötzel verhehlt, bei aller Verehrung für das moralische Genie Gandhi, nicht seine Skepsis gegenüber der Methode. Er sieht die Zukunft nicht in der asketischen Religiosität Gandhis sondern bei der aktivistischen Jugend, bei den Industrieproletariern, bei den modernen Wirtschaftsmächten, die der romantischen Legende Indien ein Ende machen und dem Klassenkampf den Weg bereiten. So werden seine Darlegungen ein sehr wichtiges Hilfmittel zum Verständnis der letzten indischen Ereignisse.

Die Weltbühne, 22. April 1930


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