Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften 1929 - 1930
Carl von Ossietzky

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

893

Großes Welttheater

Memoiren von Staatsmännern sind immer in hohem Maße Rechtfertigungen gewesen. Fürst Bülow, der Abgeklärte, ließ sein fertiges Manuskript im Tresor liegen, es darf erst jetzt nach seinem Tode erscheinen. Er hatte den Abstand zur Mitwelt gefunden und petitioniert nur noch um eine gute Note bei den Geschichtsschreibern. Die meisten der heutigen Memoirenschreiber aber ziehen es vor, sich um die Lebenden zu bemühen. Sie schildern die bedeutendsten und umstrittensten Teile ihrer Tätigkeit mit der Geste des Mannes, der alles hinter sich hat, während sie in Wirklichkeit nicht nur darlegen wollen, daß sie in entscheidenden Perioden recht hatten, sondern sich auch für die Zukunft bestens empfohlen halten. Manchmal wächst eine solche Darstellung ins Überpersönliche und wird zum Bild einer ganzen Zeit, wie die breitangelegten Kriegserinnerungen Winston Churchills, die England mitten in seinem härtesten Existenzkampf zeigen.

Ein solches Meisterstück gibt es in Deutschland noch nicht. Die Generalsliteratur, die um 1920 blühte, ist heute schon Makulatur; nur aus den vorschnellen und später gewiß bereuten Konfidenzen des Herrn von Tirpitz wird einiges übrig bleiben. Wenn hier ein paar Bücher fremder Staatsmänner aus der großen Flut herausgehoben werden, so geschieht es, weil diese Werke nicht nur etwas über die Person des Schreibenden aussagen sondern den Bogen weit genug spannen, um einen bewegten Ausschnitt aus dem Drama einer noch nicht fernen Vergangenheit zu geben.

Da ist zunächst D'Abernon Band II (Paul List Verlag, Leipzig); handelt von der Zeit der Ruhrbesetzung. Es ist das tolle Jahr der Nachkriegsgeschichte, das Jahr der Grimassen. »Es war eine Zeit von entscheidender Bedeutung für die Geschichte Europas«, urteilt D'Abernon, »die Jahre des Krieges waren kaum schicksals-schwangerer. Im Jahre 1923 befand man sich eigentlich mitten im Kriege.« Viscount D'Abernon ist heute ein rüstiger Siebziger, der in einem höchst tätigen Ruhestand lebt, eine noch lange nicht erschöpfte Arbeitskraft, die sein Land wohl zu verwenden weiß. Er hat im Laufe seines langen Lebens an vielen Stellen gewirkt, seine berliner Mission wird seinen Namen in die Geschichte tragen. Er hat nicht nur in ein paar Jahren die deutsch-englische Feindschaft restlos abgebaut, als er schied, hielt man ihn für den größten Wohltäter Deutschlands und England für unsern gottgesandten Schutzengel. Beides ist etwas übertrieben, doch ändert es nichts an der Tatsache, daß D'Abernon die neue englische Orientierung der deutschen Außenpolitik glänzend gelungen ist. Wir schrieben hier im vorigen Winter beim Erscheinen des ersten Bandes: »Er war Englands wachsames Auge mitten auf dem Kontinent, bald nach dem Westen, bald nach dem Osten gerichtet. Er war der Generalvormund des Foreign Office für die politischen Sitten mehrerer europäischer Staaten.« Deshalb bedeutete auch 1923 seine stärkste Probe. Denn das bankerotte, von allen verlassene Deutschland durfte trotzdem den Glauben an England nicht verlieren. Dieses Kunststück ist ihm geglückt. Man hat nach dem Erscheinen des ersten Bandes in Deutschland vielfach Enttäuschung geäußert, weil man D'Abernon für prodeutsch im Sinne einiger schwedischer und amerikanischer Aushängeschilder der Unschuldslüge gehalten hat. Heilige Einfalt! Dieser Engländer ist ein perlklarer Kopf, ohne insulare Beengtheit, für alle, die ihn kritisch zu lesen verstehen, ein Schatz politischer Weisheit. Er muß sich damals in Deutschland wie in einer Verrücktenanstalt vorgekommen sein. Was für eine Tortur für einen überzeugten Wirklichkeitsmenschen, Parteiführern gut zureden zu müssen, die der Meinung sind, Deutschland brauche keine Reparationen zu zahlen, oder sich mit den kindischen, laienhaften Urteilen berühmter Finanzmänner über die Inflation auseinanderzusetzen! Durch dieses stattliche Buch zieht sich demgemäß ein einziges Kopfschütteln hin. Manchmal ist Mylord an der Grenze der Höflichkeit angelangt, und dann gewinnt er eine harte, peitschende Prägnanz: »Ich persönlich halte die deutschen Behörden fast für ebenso schuldig wie Dubois und seine Gesellen (die Reparationskommission). Die Unbekümmertheit, mit der sie die Notenpresse arbeiten ließen, war der hellste Wahnsinn. Und selbst heute wären Handschellen notwendig, um die Hand, die die Kurbel der Notenpresse dreht, aufzuhalten ... Die größere Unabhängigkeit der Reichsbank wird zu einem ähnlichen Ergebnis führen wie in Poes Erzählung, in der die Irren sich des Irrenhauses bemächtigen – nur daß in diesem Falle nicht die Wahnsinnigen die Macht im Irrenhaus an sich rissen, sondern von vernünftigen Leuten als Machthaber eingesetzt wurden. In der letzten Woche, als durch das glückliche Walten der Vorsehung die Drucker in Streik traten und die Notenpresse zum Stillstand gebracht wurde, gelang es Havenstein, Streikbrecher zu finden, um sie wieder in Betrieb zu setzen.« Für lange Zeit werden D'Abernons Memoiren die vornehmste Geschichtsquelle dieser Jahre bilden.

Wenn Raymond Poincaré sein Leben im Dienste Frankreichs schildert, so kann er von vornherein der Aufmerksamkeit sicher sein, einerlei, ob er im gewöhnlichen Sinne gut oder schlecht schreibt. Dieser neue Band seiner Memoiren (»Der Einbruch der Deutschen in Frankreich 1914«, Paul Aretz Verlag, Dresden) ist in jeder Zeile aufschlußreich und spannend, aber wie blutarm ist dieses Bild einer Zeit, in der so viel Blut geflossen ist. Immer bleibt Poincaré, der Advokat von großem Wissen und Können, aber aus angeborener Kälte unfähig, dem glänzend gegliederten Plaidoyer die dramatische Seele zu geben. Er selbst mag dies Manko gefühlt haben und wählt deshalb, im Gegensatz zu den frühern Bänden, die Form der Tagebuchaufzeichnung. Aber nirgends wirkt er unmittelbar, die kleinste Randglosse erscheint wie siebenfach gefiltert, und wo er sich steigert, wird nur eine kalte Glut daraus.

Dieser Band umfaßt die Zeit von der Beendigung der Mobilmachung bis zum Jahresende 1914. Es ist also die Zeit des deutschen Vormarsches, der französischen Niederlagen in Lothringen und der Champagne, der Marneschlacht und der schließlichen Erstarrung der Fronten. Die ersten Kriegswochen sind von fürchterlicher Ungewißheit. Die Deutschen dringen unaufhaltsam vor, Joffre und die französische O.H.L. arbeiten in schönster Unabhängigkeit von Paris. Tagelang erfährt das Kabinett nichts von der Front als das jeweilige unglückliche Endresultat. Dann muß die Regierung Paris verlassen und nach Bordeaux übersiedeln; das kaum geglaubte Marnewunder bringt die Rettung. Diese Wochen voll Angst und Konfusion schildert Poincaré. Er ist bemüht, seine Rolle möglichst zu verkleinern, er gibt sich nur als repräsentative Spitze, als Mann ohne Macht: ein korrektes Staatsoberhaupt, das sich bescheiden in den konstitutionellen Schranken hält. Nur wenn er einmal entrüstet vermerkt, wie ein Blatt damals geschrieben habe: die Minister des Kabinetts Viviani wären unbedeutend und nur Puppen in der Hand des Präsidenten, da blitzt unerwartet eine Wahrheit durch, und man wundert sich, daß er dieses gefährliche Thema überhaupt berührt hat. Am offenherzigsten sind diejenigen Teile des Buches, die das Verhältnis der Regierung zum Oberkommando behandeln, das Entsetzen der Zivilisten vor dem unerschütterlichen Phlegma des Marschalls Joffre, der die Nacht vor der Marneentscheidung so ruhig schläft, als ginge es ins Manöver. Er schildert auch eingehend das gefährliche Treiben einzelner Politiker, Gustave Hervé an der Spitze, die sich in Paris um General Gallieni, den Retter, scharen, während die Regierung fern in Bordeaux sitzt, und mit dem Gedanken einer neuen Commune spielen. Von einer ganz großen komödialen Wirkung ist die Szene, wie kurz nach Kriegsausbruch bei ihm drei augenblicklich unbeschäftigte Politiker erscheinen, drei starke Männer, die zur Zeit nicht Minister sind, die Herren Briand, Delcassé und Millerand, und ihm ziemlich dürr erklären, daß sie unbedingt mitspielen müßten, sonst würde es ungemütlich. Poincaré berichtet selbst über den Auftritt in schonendster Weise, er setzt bei den Herren die heiße Vaterlandsliebe, die unbezwingliche Sehnsucht, der Nation in ihrer schwersten Stunde zu dienen, als selbstverständlich voraus. Keine persönlichen Motive, Gott bewahre, nein! Er verzichtet also ganz darauf, seine satirischen Wirkungen aus der etwas erpresserischen Visite der drei unbeschäftigten Patrioten zu holen, aber er erträgt wahrscheinlich sehr gelassen, daß der Leser sich diejenigen Farben hinzudenkt, die er als höflicher und vorsichtiger Mann auf der Palette gelassen hat.

Zurückhaltung, diplomatische Leisetreterei, Rücksichtnahme auf die Zukunft – dergleichen hat niemals zu den Fehlern Leo Trotzkis gehört. Seine soeben (bei S. Fischer) erschienene Autobiographie donnert majestätisch und gewaltsam wie ein Katarakt auf den Leser herunter. Schon durch die Schnelligkeit der Niederschrift eine einzigartige Leistung. In diesem Frühjahr erschien Samuel Saenger bei Trotzki in Konstantinopel, um ihn zur Abfassung seiner Memoiren zu bewegen, und seit zwei Wochen liegt ein gedrucktes Buch von beinahe sechshundert Seiten vor, ein vehement geschriebenes Buch, das trotzdem nirgendwo sachlich oder sprachlich vernachlässigt wäre. Die Meisterleistung des größten Publizisten unsrer Tage.

Dieses journalistische Rekordstück hat es Herrn Max Hochdorf vom ›8-Uhr-Abendblatt‹ angetan und ihm die dümmste Buchkritik des Jahres abgenötigt: »Er (Trotzki) kann nicht nur Proklamationen und populäre Artikel für die Zeitung der Roten Armee entwerfen; er hat sicher Kenntnisse erworben, die ihn in die erste Reihe der politischen Pamphletisten auf der Welt stellen. Man fragt sich immer wieder: Wie, wenn das Schicksal es so gefügt hätte, daß dieser außerordentlich begabte Mann frühzeitig zu positiver Arbeit gelangt wäre?« Ja, dann hätte er wahrscheinlich ebensoviel geleistet wie Herr Hochdorf.

Es ist die große Lauterkeit Trotzkis. daß er, der Isolierte, nirgends Versteck spielte, nirgends eine Anlehnung an die demokratische Welt sucht. Er lehnt sie mit eindeutiger Schroffheit ab, und sie wird ihn zwar leidenschaftlich lesen, aber daraufhin ihre frühern ablehnenden Dekrete nur auffrischen. Trotzki wird der ewige Verbannte bleiben, kein Sektor unsres Planeten wird ihm daraufhin sein Visum erteilen. Da er auch sein Haßbekenntnis gegen Stalin und dessen Freunde erneuert, wird ihm danach die Rückkehr nach Rußland wohl für immer versperrt sein. Alle andern Abtrünnigen haben den Weg nach Moskau zurückgefunden, Trotzki hat sich grade mit diesem Buch selbst ausgeschlossen. Das ist die besondere Tragik dieser großartigen schriftstellerischen Leistung.

Die Weltbühne, 10. Dezember 1929


 << zurück weiter >>